Gott, wende uns um!

Regionalbischof Dr. Stephan Schaede am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 7. November 2021, in der St. Johanniskirche Lüneburg

Predigt über Psalm 85

Psalm 85.

Ein Lied.

Vom korachitischen Chor.

Für die musikalische Aufführung

Dein Land liegt Dir am Herzen.

Das Geschick Jakobs hast Du vormals gewendet.

Aufgehoben hast Du vormals die Schuld Deines Volkes.

Hast ihr Vergehen bedeckt.

All Deinen Zorn hast Du vormals eingesammelt.

Den Rücken gekehrt hattest Du der Glut Deines Wutschnaubens.

Wende uns um, Gott unserer Befreiung.

Brich Deinen Unmut von uns weg.

Wollest Du in Ewigkeit wutschnauben über uns,

Dein Wutschnauben hinziehen von Generation zu Generation?

Willst Du uns nicht wenden, uns leben geben,

dass sich Dein Volk an Dir freue?

Lass uns sehen Deine Freundlichkeit.

Und Dein Befreien lass uns zuteil werden.

Ich will hören, was Gott sagt.

Gott redet unbestritten von Frieden.

Zu seinem Volk und zu denen, die ihm vertrauen,

damit sie sich nicht zur Mutlosigkeit wenden.

Ja, seine Hilfe ist nahe denen, die Gott ergeben sind,

auf dass glanzvolle Würde in seinem Land wohne.

Freundlichkeit und Verlässlichkeit einander begegnen.

Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.

Verlässlichkeit sprießt aus der Erde empor,

Gerechtigkeit schaut vom Himmel herab.

Auch gibt Gott das Gute.

Und das Land gibt seinen Ertrag.

Gerechtigkeit geht vor seinem Antlitz her.

Und setzt zu seinem Weg ihre Schritte.

 

Lüneburg im Herbst 2021 – ach Lüneburg - unverwechselbar, Lüneburg eine Stadt mit Charakter! O Lüneburg, auf lüneburg.info.de ist zu lesen: Exklusiv, spannend, Natur und Freizeit aller Art.  Idyllisch und historisch, Ort für Urlaubsträume.  Und dann noch das Hasenburger Bachtal. Schafe weiden unter Eschen und Weiden, Rehe springen über den Gartenzaun und knipsen den Rosen die letzten Knospen ab.

Und ich in dieser Idylle unterwegs – am Samstagnachmittag mit der Familie – mit dem Rad zur Roten Schleuse, quere die Soltauersrtraße – und da, was sehe ich von weitem schon. Opulente rotweiße Absperrungen blockieren die Durchfahrt, die Straße zum Wald komplett. Kein Durchkommen mit dem Fahrrad. Voller Wut drehe ich ab: blöde Schikane vom Straßenbauamt. Das ist wohl die neuere Masche. Immer gleich vollends blockieren. Wir fädeln uns mit unseren Rädern umständlich durch Häcklingen.  Die Herbststimmung lässt uns vergessen, fängt uns ein. Unterwegs jetzt im Buchenwald, ein Blättermeer ausgestreut über den Waldboden, zwischen Gelb, Orange, und Gold flirrt ein unverschämt blauer Himmel hindurch. Mit dem Samstag vollkommen versöhnt kehren wir später zurück, nehmen kühn den Waldpfad, wollen es doch von der anderen Seite mit der Sperrung aufnehmen, kommen nun ganz nah heran.  Und da, alles schwarz, kohlrabenschwarz, leichter Rauch steigt auf, es riecht vernichtend, der Geruch zersetzt die Atmosphäre. Autos ineinandergeschoben, verkeilt, verbogen, verbrannt, türmen sich auf, Autos über Autos, metallene Skelette ragen in den Himmel. Daneben staken verkohlte Holzpfosten empor. Brandstifter, so hörten wir, waren unterwegs in nächster Nachbarschaft. Ein stinkender riesiger schwarzer Schuttmoloch der Herbstsonne und dem Himmel zum Spott. Ach Lüneburg, O Lüneburg. Idyllisch, friedliebend. Und aus der Mitte Deiner Wohngebiete ragt verkohlter Schutt.

Psalm 85 – ein Lied für Lüneburg gebetet. Einst vom korarchitischen Chor in Israel ersonnen. Für die musikalische Aufführung in St. Johannis.  Denn auf der schönen Oberfläche war damals auch in Israel alles Heil, erschien vieles gut, Israel ein Land mit Charakter, exklusiv spannend, Natur und Historie, unverwechselbar, wie Lüneburg. Das Exil war überwunden. Alle waren zurückgekehrt. Die Stadt Jerusalem stand da. Der Tempel im Zentrum, belebt, die Geistlichkeit mit Elan in ihrem Element. Aber da war dieser korachitische Chor unterwegs mit seinem Psalm, deutlich hellhöriger für das, was los ist, als seine Umgebung. Den Chor beschleicht mit Macht das dumpfe Gefühl, dass es bei allem Glanz das Leben nicht im Lot ist. Unter der Oberfläche abgründiges Rumoren. Hat Gott sich abgewendet? Erzeugen wir nur religiösen Lärm, der ins Nichts verhallt?

Dieser korachitische Chor muss bei Jeremia in die Schule gegangen sein. Schon der durchschaute die Kulissen des friedlichen Lebens. Wir hörten es vorhin: „Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube und Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, aber mein Volk will vom Recht Gottes nicht wissen. Priester und Propheten… heilen den Schaden meines Volkes nur obenhin, indem sie sagen: „Friede, Friede, und ist doch kein Friede.“ So ein Friedensgequatsche, dass unter der heilen Verpackung das Zerstörerische übersieht, macht Gott wütend. Und so erinnert er Gott mit seinem Gesang gleich eingangs daran, dass er doch einst ein Meister im Vergeben war, fleht Gott mit einer Frage an: „Wollest Du Dein Wutschnauben hinziehen von Generation zu Generation?“  Und dann fällt der Chor in die Bitte, in eine elementare Fürbitte für das Volk, für die Menschen: „Wende uns um, Gott unserer Befreiung. Brich Deinen Unmut von uns weg. Gib uns wieder Leben!“ Was für ein unverschämt hartes Urteil über die menschliche Lage, liebe Gemeinde, denn wenn der Bittruf meint: „Gib uns wieder Leben. Belebe uns wieder“, dann urteilt er: Nur an der Oberfläche befriedete Menschen sind  lebendige Leichen.

Vielleicht denken Sie: Alles schamlos überzeichnet. Wir doch nicht. Mag sein, in Südwest-Lüneburg brennen die Autos, aber wir… Ja, Lüneburg ist wirklich ein liebenswürdiger Ort mit hoher Lebensqualität, unsere neue Oberbürgermeisterin lobte dieser Tage mit Recht den wunderbaren Wochenmarkt vor der Rathaustür, die große Unterstützung, die sie in den ersten Tagen erfuhr, Briefe, Emails, den Zusammenhalt in der Verwaltung. Auch das ist Lüneburg. Und unser Bundesinnenminister hat gerade verkünden können: „Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt“. Nur beim Durchstreifen der lokalen Ticker der letzten Tage lese ich dies: Tödlicher Unfall auf der B4, Brand im Kinderzimmer, Motorroller verschwunden, Reifen zerstochen, alkoholisierter Mann schlägt Polizei, zwei Männer schlagen am Spätnachmittag am Altenbrücker Ziegelhof auf eine 20-jährige und 16-jährige ein. Auch das ist Lüneburg. Und gestern in der Oberpfalz eine Messerattacke im ICE: Impfgegner attackieren Arztpraxen … Deutschland, eines der sichersten Länder Welt? „Friede, Friede, und ist doch kein Friede“.

Syrien aber … Gestern erreicht mich eine Nachricht von Jihad Nassif, Priester in Homs. Er schreibt: „Nach bald zehn Jahren Kriegsvernachlässigung strömen weiter Flüchtlinge aus Nordsyrien, Sunniten wie Alawiten und Christen aller Konfessionen nach Homs: Kinderreiche Familien, Waise. Homs ist voll von Kindern, die allein unterwegs sind; SchülerInnen, StudentInnen. Krebs, Nieren- und Leberkranken – aber das Gesundheitssystem in Syrien ist in sich, zusammengebrochen. Letzte Woche hatte ich 77 Corona-beerdigungen gehabt. Nur 2 von ihnen sind im Krankenhaus gestorben. Fast alle syrischen Ärzte sind im Ausland.  Die wenigen, die geblieben sind, weigern sich Coronakranke zu untersuchen, nach dem sich so viele Ärzte sich angesteckt und an den Folgen gestorben sind. Vom Impfstoff dürfen wir sogar nicht einmal träumen. Ich habe nichts anders als weiter zu machen, obwohl ich selber zu der Risikogruppe zähle. Alle Mächte aus dem Ausland behaupten, sie seien da um Frieden und Demokratie zu sichern, während wir weder ihre Demokratie noch ihren Frieden haben wollen. Lasst uns endlich in Ruhe. Was redet ihr von Zukunft. Nur eine Theologie der Praesens kann uns noch Christen in Syrien helfen. Wir haben keinen Wein mehr in unseren Krügen. Sie sind längst leer.“

Was für ein Brief! Europa, Deutschland, so dachte ich, hat Syrien mit dem Judaskuss des Friedens geküsst.

Und ich griff ins Regal, blättere Erasmus von Rotterdams Klage des Friedens heraus. In diesem Büchlein lässt Erasmus den Frieden in Persona eine Klagerede halten. Der Friede klagt, weil er von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde, und ruft nun aus: „In Rudeln weiden die Elefanten, in Herden weiden Schweine und Schafe, in Scharen fliegen die Kraniche und Dohlen, durch gegenseitige Hilfeleistung schützen sich die Delphine, sogar in Bäumen und Pflanzen kann man Freundschaft erkenn. Was ist empfindungslos wie die Minerale? Man könnte dennoch sagen, dass es auch in ihnen ein Gefühl für Frieden und Eintracht gibt.  … Nur die Menschen, denen am meisten von allen Einmütigkeit gut anstehen würde, verbindet weder die Natur, noch die Bildung, noch führt sie das Bewusstsein und die Erfahrung des Unheils zu gegenseitiger Liebe.“ Erasmus lässt den Frieden unverständlich den Kopf schütteln. Der Friede versteht die Welt nicht mehr: Dem Menschen sei als „einzigen Lebewesen … die Sprache gegeben als Mittel verbindender Kräfte.“ Der Mensch müsse doch zu Verstand kommen und nur hinsehen, wie er geschaffen sei.  Den übrigen Lebewesen habe Gott Waffen und Schutzvorrichtungen zugeteilt, Hörner und Reißzähne. Nur den Menschen sei waffenlos und schwach geschaffen, nicht anders gesichert als durch Bündnis und gegenseitige Freundschaft. „Ich frage mich“, so sagt Erasmus, was hat „den unersättlichen Wahn zu kämpfen in das menschliche Herz gepflanzt?“ Besonders niederschmetternd ist für ihn die Doppelbödigkeit an den Höfen, in den Kirchen und in den Häusern. An der Oberfläche sehe er freundschaftliche Umarmung, liebevolle Liebkosung, aber darunter kämpfe Herz gegen Herz, ja ein und derselbe Mensch kämpft mit sich selbst.“

Liebe Gemeinde, der innere Frieden fehlt. Das ist, wenn man Erasmus folgt, die Wurzel des Unfriedens. Schon damals gab es das, Streit in der christlichen Gemeindeleitung, Frieden nur oberflächlich zu Haus, schon damals Stümper des Friedens, diesen goldenen Herbst, diese sonnendurchflutete blaustrahlende Oberfläche des Lebens, und sorgfältig abgesperrt ragte Verkohltes, Zerstörerisches daraus hervor.

Erasmus von Rotterdam, kaum auszuhaltende 60 Seiten Lamento des Friedens und kein Ende. Klagen über Klagen. Und am Schluss nichts als Appelle und Ermahnungen, sich aufzuraffen. Werdet authentischer! Beratet Euch gemeinsam! Bemüht Euch um Frieden! Kommt zur Vernunft! Legt die Waffen nieder! Appelle über Appelle.  Aber: Appelle an Menschen gehen leicht ins Leere. Solch ein mit Appellen eingeforderter Friede, kommt der?

Der korachitische Chor schlägt einen anderen Weg ein. Der Humanist Erasmus von Rotterdam hat sich an Menschen gewandt. Der Psalm lässt das bleiben. Der Psalmchor wendet sich an Gott und singt: Wende Dich zu uns um. Und: Gott, wende Du uns um.

Nun gut, ein Appell an Gott ist ein Appell an Gott. Aber auch der kann ins Leere gehen. Psalm 85 dokumentiert diese Angst. Menschen appellieren an Gott. Und Gott schweigt. Gott bleibt abgewandt.

Bang schickt der Psalmchor einen Kultpropheten vor, der hören soll, wie Gott auf diesen Appell reagiert. Der Kultprophet macht sich auf: „Ich will hören, was Gott sagt“, heißt es da. Wir wissen nicht, wie lang die Zeit des bangen Wartens auf ein Wort von Gott war. Aber Gott hat dann gesprochen. Das rüber zu bringen, darauf kommt es dem Psalm jetzt an.

Was Gott nun zu sagen hat, übertrifft alle himmlischen Herbstszenarien. Gott redet. Und er sagt: So soll es kommen: Gerechtigkeit und Frieden küssen sich. Verlässlichkeit und Freundlichkeit wachsen biodivers wie Pflanzen aus der Erde, aus all den menschlichen Herzen und Köpfen hervor.  In warmem Gold schaut Gerechtigkeit vom Himmel herab. Gott gibt Gerechtigkeit. Und das alles, weil seine Würde im Land wohnt, glanzvolle Würde.

Schalom, Frieden – nicht nur obenhin. Nicht nur das Niederlegen von Waffen, nicht nur die geballte Faust, die in der Tasche bleibt. Eine Welt ohne Absperrungen, ohne schwarze ineinandergeschobene Hügel, ohne Wundmale von Faustschlägen und Messerattacken, eine Welt ohne leere Krüge. Eia, wär’n wir da.

Wir gehen auf das Ende des Kirchenjahres, auf Advent zu. Für mich eine Zeit, zur Besinnung zu kommen. Gott hat keinen Städtezerstörer, keinen Kriegsherren, keinen Triumphator in die Welt geschickt.  Er hat sich selbst auf den Weg in seine Welt gemacht, seine eigene Würde auf Jesus gesetzt. Jesus ist der Friede in Person, ein Friede, der geweint hat, der bei den Fressern und Weinsäufern lag und sich aufs Feiern verstand. Jesus, ein Friede, der die Feindesliebe nicht nur fordert, sondern selbst verkörpert. Gott appelliert mit ihm an uns, darauf zu vertrauen, dass mit Jesus Glanz von Würde in die Hütte unsrer Welt gekommen ist. Mehr Glanz muss nicht sein.

Entscheidende Friedensfrage an uns: Sind wir bereit das zu vernehmen? -

Gott, wende uns um. Unsere Hände, leer sind sie, wenn Du uns nicht Deinen Frieden in sie hineinlegst. Amen.