Gottes "love actually"

Predigt in der Christnacht 2021 in St. Johannis Lüneburg

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen. Sie ist tätig als unsere Lehrerin, damit wir uns von dem Gott abgewandten Lebenswandel und den weltlichen Begierden lossagen und in der jetzigen Welt besonnen, gerecht und Gott ergeben leben, während wir auf die beglückende  Hoffnung warten, das Erscheinen der Würde Gottes und unseres Retters Jesus Christus, Christus gab sich für uns hin, um uns von unserer Gesetzlosigkeit loszukaufen, und sich ein Volk reinzuwaschen zu seinem Eigentum, dass darauf brennt Gutes zu tun. (Titus 2,11-14)

Eine meiner großen Filmanfangsfavoriten spielt in der Vorweihnachtszeit. Aus dem Off ist eine Stimme zu hören: „Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert, denke ich immer an die Ankunftshalle am Flughafen Heathrow. Es wird behauptet, wir leben in einer Welt voller Hass und Habgier. Ich sehe das anders. Ich glaube, dass die Liebe überall ist. Oft ist sie weder besonders glanzvoll noch spektakulär, aber sie ist immer da. Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Ehepaare, frisch Verliebte, alte Freunde.“ Vielleicht kennen Sie diese Worte aus der Eingangsszene des britischen Films „Love actually“, tatsächlich Liebe. Die spricht Premierminister David, gespielt von Hugh Grant, direkt zu Beginn des Films, während man die Menschenmenge in der Ankunftshalle von Heathrow sieht. Und in dieser Menge setzen sich einzelne beschleunigt in Bewegung, laufen aufeinander zu, breiten die Arme aus, lachen, weinen vor Freude, umschlingen sich leidenschaftlich, umarmen sich. Und schon bist Du drin, in diesem Episodenfilm, der wenige Wochen vor Weihnachten Lebensbiographien von Menschen beleuchtet, das Leben von Familien, die Gefahr laufen, sich auseinander zu leben, das Leben von einsamen Menschen, und das Leben von Menschen, die ein glücklicher Zufall zusammenführt, bei denen der Funke der Umarmung überspringt.  Liebe überall – an Weihnachten .. Dieser Film „love actually“ mit seinem starken Anfang eine Art cinematographisches „Frohe Weihnachten“. Ich finde das immer wieder herrlich.

Denn wie einst die unansehnliche Krippe in Bethlehem wird eine schnöde ungemütliche Ankunftshalle zum wundersamen Ort der Vorfreude. Was diesen Ort so besonders macht, ist doch dies: In der Menge der Menschen, die wie Menschenmengen so sind, nicht viel voneinander wahrnimmt, als eben dies, dass Menschen da sind, dass sie unterwegs sind, in dieser Menge von unzähligen Menschen, in dem der einzelne zu  verschwinden scheint, entdecken sich Menschen, erkennen sich, fliegen aufeinander zu, sind voneinander hingerissen: und so kommt es zu dem, was der Dichter Nicolas Born „das Erscheinen jedes Einzelnen in der Menge“ genannt hat. Vorfreude steigert sich zur Freude aneinander: Umarmungen in allen Varianten. Mit Händen zu greifen wird der begnadete Augenblick, in dem sich Menschen entdecken, und aufeinander zu rennen. Übersehene Einzelne werden nachgerade zu einer Erscheinung, zu Personen, die neu ans Licht der Begegnung kommen, zu einem gewürdigten Gegenüber.

Vor gut drei Wochen erschien über YouTube eine Adaption dieses Filmanfangs. Auch die spielt in London Heathrow. Auch da sieht man, wie sich Menschen um den Arm fallen, zwei Freunde, zwei Freundinnen, ein junges Paar ganz inniglich, ein Vater nimmt sein Kind auf den Arm, das ihm entgegensegelt… Szenen starker Vorfreude, die sich in Freude aneinander geradezu entlädt. Zugleich ist ein bewusster Unterschied eingebaut:  alle tragen FFP-Masken und aus dem Off spricht nun nicht die Stimme von Hugh Grant alias Premierminister David, sondern  Martine McCutcheon, die Stimme also jener Schauspielerin, die in „Love actually“ Natalie spielte, Natalie, die als Assistentin des Premierministers am Ende des Films mit ihm zusammenkommt. Und diese Stimme sagt:

„Immer dann, wenn ich mich sorge, was die Zukunft in diese ungewissen Zeit bereithält, denke ich an die Ankunftshalle von Heathrow. Wir leben in einer schwierigen Welt für eine gewisse Zeit, aber die kann sich vorsichtig öffnen. Ich sehe Liebe und Verbindung überall. Es sind keine perfekten Bilder für die Schlagzeilen. Aber Liebe ist überall unterwegs, wo es möglich ist, zusammen zu kommen, um uns die Umarmungen zu gönnen, die wir alle vermisst haben. Eltern, Kinder, Paare, neue Bekannte, um Erinnerungen zu bilden und wieder Abenteuer zu ersinnen. Als die Welt in den Lockdown fiel, hörte ich Geschichten von Menschen, denen die Hoffnung genommen wurde, miteinander in gewohnter Weise in Verbindung zu stehen. Aber auch Geschichten von Menschen, die einander unterstützt haben. Wenn man sich das vor Augen führt, was auch immer das Leben zumutet, findest Du heraus, dass Liebe tatsächlich überall unterwegs ist.“ In einer guten Minute YouTube-Video eingefangen das Erscheinen des Einzelnen in der Menge – auch unter den schwierigen Corona-Umständen der begnadete Augenblick des Wiedersehens oder der Neuentdeckung von Mensch zu Mensch.

Was für eine weihnachtsträchtige Hoffnung machende Corona-Vision, liebe Gemeinde. Die London-Heathrow-Airport Company hat mir mit ihrem YouTube-Video die Arbeit abgenommen, die menschliche Lage in Coronazeiten reflektiert und  mit der Ankunftshalle den Ort der innigen Umarmung, eine Art weltlichen Heilig Abend ausgelobt. Fast bin ich versucht, an dieser Stelle „Danke Heathrow“ und „Amen“ zu sagen.

Durch die Rechnung dieses schönen Bildes hat jedoch die Zumutung der Coronalage einen Strich gemacht. Ich weiß von Menschen, auch hier aus Lüneburg, die schon seit Wochen hinfiebern auf diesen Heiligen Abend, weil sie da endlich ihre Verwandten aus Großbritannien wiedersehen. Was haben die sich gefreut, davon erzählt, wie das sein wird, nach zwei Jahren endlich wieder die Tochter und den Schwiegersohn in den Arm nehmen zu können. Da wurde sondiert, gebucht, bis zum letzten Moment umgebucht. Das Ende vom Weihnachtslied ist jedoch: Absagen. Eine leere Ankunftshalle. Kein Erscheinen des geliebten Menschen in der Menge. Solche Irritationen werden Sie, werdet Ihr vielleicht in anderer Weise teilen. Vor allem unfreiwillig Einsame suchen mühsam nach Formen, trotz aller Ungeselligkeit die Tage zu überstehen.

So wird das Bild vom wundersamen Ort der entleerten Ankunftshalle in Heathrow für uns zu einem Ausdruck einer irritierten Weihnachtsvorfreude in diesem Jahr - eine merkwürdige Mischung aus Vorfreude auf Erscheinen und die Irritation des Erscheinens.

„Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen“, schreibt Paulus an Titus. Wieder so eine apostolische Ansage, die nach „love actually“, Liebe überall klingt, aber ungleich unplastischer hohl tönt. Denn „heilsame Gnade Gottes“, was ist denn das?  Vielleicht werden sie denken. Das hört sich reichlich fromm und abstrakt an. Wenig, eigentlich gar nicht greifbar lässt sich diese Gnade nicht umarmen.  Wo auch immer die Gnade Gottes erscheinen mag, bei mir ist da nichts erleuchtet, reißt mich nichts hin. Berührt mich nichts.

Diese Reaktion auf den apostolischen Brustton der weihnachtlichen Überzeugung, der als solcher nicht berührt, ist ein Abbild am Ende einer noch viel größeren Weihnachtsirritation: Wird an Weihnachten das Erscheinen Gottes gefeiert; nun gut und nur zu: Soll doch Gott dieser Tage und in diesen Corona-Zeiten erscheinen. Es wird eine Art Eschreinen Gottes vor Gericht, dem Gericht einer Welt sein, die Gott nichts abgewinnen kann und will. Vor ein kritisches Gericht wird die Rede von der Gnade Gottes gestellt. Wie soll auch noch heilsam sein, was nicht zu spüren, wahrzunehmen ist. Der Name Gottes erscheint vor dem Gericht unseres Alltags und wird zum allmählich beschleunigten Verschwinden verurteilt. Und die so wundersamen und oftmals wunderschönen Ankunftshallen der Gnade Gottes, die Kirchen ereilt die aktuelle Heathrow-Irritation, sie leeren sich. Die Ansage vom Erscheinen Gottes, das auch noch ALLEN Menschen erscheinen soll, erscheint wie Spott und Hohn. Allen Menschen? Welchen denn noch? Paulus kritisiert in seinem Brief an Titus den von Gott abgewandten Lebenswandel harsch. Es muss aber mit dem Abstand von 2000 Jahren gefragt werden dürfen: Ist dieser Wandel nicht eine Folge dessen, dass Gott vor dem Gericht dieser Welt erscheint und vor ihm nicht besteht und deshalb verschwinden muss? Ende aller Erscheinung.

Was kann ich dem entgegensetzen? Ich setze dem entgegen, dass dieser Satz „Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen“ die kürzeste Fassung der Weihnachtsgeschichte ist, die die Bibel kennt. Die Gnade Gottes, von der Paulus spricht, ist nicht abstrakt. Sie ist denkbar konkret. Der Heilige Abend ist das Fest, an dem Gott selbst feiert und die himmlischen Sektkorken knallen lässt, weil seine Gnade endlich konkret geworden ist. Von wegen Gottes Gnade sei abstrakt. Sie ist davon beseelt und hingerissen, handfeste Gestalt anzunehmen. Gleichsam wie in Heathrow hat Gott aus der Menge aller Menschen das Kind eines blutjungen, unbekannten, unverheirateten Paares, von dem andere unterwegs zu einer weltumspannenden Volkszählung keine Notiz nehmen, wahrgenommen, ist voller Vorfreude auf dieses Kind namens Jesus zugerannt, hat es mit seinem Geist umarmt, hat es innig hochgehoben, vor Freude um seine göttliche Achse im Kreis herumgewirbelt und entschieden: Mit Dir und in Dir, Jesus von Nazareth, will ich sein. Jesus Christus verkörpert die Gnade Gottes in der Welt. Sie tritt in ihm leibhaftig an Licht, erscheint. Christ ist erschienen – genauer: Gott ist mit Christus erschienen – nicht für einen festlichen Augenblick, sondern lebenslänglich für immer teilt er das Lebensschicksal dieses Menschen. Deshalb gnadenbringende Weihnachtszeit. Paulus schreibt ganz lakonisch, worauf es dabei ankommt: Jesus Christus gab sich für uns hin. Der Heilig Abend feiert einen hingebungsvollen Gott.

Wenn Gott sich einem Menschen hingibt, dann passiert anderes, als wenn ein Mensch sich einem Menschen hingibt.  In Heathrow sind es immer nur einzelne Menschen, die anderen einzelnen Menschen erscheinen und begeistern. Für Gott ist aber diese erste weihnachtliche, leibhaftige und sein göttliches Leben herumwirbelnde Umarmung des Jesus von Nazareth eine Ansage für die gesamte Menschheit. Sie ist darauf angelegt, nicht nur ihn, Jesus, sondern auch andere Menschen leibhaftig zu berühren. In Christus fängt Gott für Menschen Feuer, damit auch sie für ein menschliches Leben Feuer fangen. Paulus sagt es so. In Christus habe Gott sich ein Volk versammelt, zu seinem Eigentum, das darauf brennt, Gutes zu tun. Gott hat sich in der Ankunftshalle dieser Welt in Jesus beschleunigt in Bewegung gesetzt, damit es genau dazu kommt: wir brennen darauf, Gutes zu tun.  Paulus spricht in diesem Zusammenhang vom Erscheinen der Würde Gottes. Die Würde Gottes liegt darin, jeden, ausdrücklich jeden Menschen aus der Situation übersehen, ignoriert zu werden und ganz unscheinbar zu bleiben, herauszuheben und ihn, diesen Menschen, in seiner Würde in Erscheinung treten zu lassen.

Das allerdings, das weiß auch Paulus, ist immer noch, und jedes Weihnachtsfest aufs neue, weihnachtliche Zukunftsmusik. Der Anfang, den Gott mit Jesus von Nazareth gemacht hat, ist noch lange nicht zu seinem Ziel gekommen. Mich hat berührt, dass Paulus ganz umständlich zugibt: Auf diese Würde, die so durchschlagend erscheint, auf diese beglückende Hoffnung müssen wir warten. Es ist das einzige Mal in der Bibel, in der nicht plump von Hoffnung die Rede ist, so nach dem Motto: Feiert Weihnachten und hofft gefälligst pausbäckig weihnachtlich. Nein, Paulus räumt äußerst vorsichtig ein: Diese Hoffnung steht als Hoffnung im Raum erst aus.  Wenn Du auf diesen Gott setzt, der behauptet, in Jesus persönlich erschienen ist, dann musst Du eselartig geduldig darauf warten, einmal so hoffen zu können. Jesus, so prägt Paulus ein, hat deshalb zur Besonnenheit aufgerufen.

Liebe Gemeinde, was für ein starkes Fest, dass wir heute feiern. Es hält die Irritation aus zwischen dem Erscheinen Gottes einst in Bethlehem und dem Erscheinen seiner Würde, die – die Coronalage führt‘s Tag für Tag vor Augen  -  noch bitter aussteht. Das ist für mich eine Ansage an all jene, die - durch den Ärmelkanal oder andere  schmerzliche Grenzen voneinander getrennt - dieses Jahr Weihnachten feiern. Gott ist mit der Arbeit seiner heilsamen Gnade noch lange nicht fertig. Sie hat vor 2000 Jahren behutsam neue Lebensfahrt aufgenommen, ist jetzt erst nur latent überall unterwegs, läuft auf uns zu. Gottes love actually – tatsächlich Liebe. Oftmals weder besonders glanzvoll noch spektakulär, erscheint sie in unserer Welt. Unsere atemberaubende, irritierende Welt, sie wird auch an diesem Weihnachten, für uns zur Ankunftshalle der Gnade Gottes.

Dr. Stephan Schaede
Regionalbischof in Lüneburg