Gemeinsam Botschafter*innen vom Leben werden

Predigt von Regionalbischof Dr. Stephan Schaede zum Predigttext Matthäus 8,5-13 am 3. Sonntag nach Epiphanias, 23. Januar 2022, in der Lüneburger St. Johanniskirche

Als aber Jesus nach Kapernaum hineinging, trat ein Haupt-mann zu ihm; der bat ihn und sprach: Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen. Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn auch ich bin ein Mensch, der einer Obrigkeit unter-steht, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er’s.Als das Jesus hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden! Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Knecht wurde gesund zu derselben Stunde. (Mt. 8,5-13)

Da ist einer gelaufen, lief und lief, den unwegsamen Gebirgspfad von Athen nach Sparta.  Da ist einer gelaufen, hat die tief in den hellbraunen Kalk geschnittenen Schluchten durchstreift, ist an von Pinien bewachsenen Bergsäumen aufgestiegen, querte die türkisglitzernden Buchten. Pheidippides war sein Name, Tagläufer von Beruf, unterwegs im Namen von Athen, Hilfe in Sparta zu holen. Denn die Perser hatten auf der Halbinsel vor Athen festgemacht, drohten ganz Griechenland einzunehmen. War es der betäubende Geruch von Thymian, Salbei, Lorbeer, Myrthe und Salz? War es die brüllende Hitze oder einfach die Anstrengung?

Es wird berichtet, dass Pheidippides unter Wahnvorstellungen litt. Der ziegenfüßige Gott Pan soll ihm erschienen sein. Kein Wunder. Bei seiner Laufleistung. In nicht einmal zwei Tagen legte er über 230 km zurück. In Sparta angekommen wurde er vor die Behörden geführt. Herodot berichtet, Pheidippides habe gesagt: „Die Athener bitten euch, ihnen zu helfen und es nicht geschehen zu lassen, dass die älteste Stadt unter den Hellenen in die Knechtschaft barbarischer Männer fällt.“  Die Spartaner versprachen zu kommen und zu helfen. „Nur war es ihnen unmöglich, dies unverzüglich zu tun", schreibt Herodot, "da sie gegen das Gesetz nicht verstoßen wollten". Es sei erst der neunte Tag seit Monatsbeginn, da dürften sie nicht ausrücken, weil religiöse Feierlichkeiten ihnen dies verböten. Die Spartaner forderten Pheidippides auf, schon vorzulaufen, um die Nachricht von der verzögerten Hilfe zu überbringen. Und Pheidippides lief wieder, und lief und lief abermals 230km gleich zum Heer der freien Bürger Athens, das gut 40 km westlich von Athen auf ihn wartete. Wieder in wundersam kurzer Zeit von nicht einmal zwei Tagen gelang ihm das.

Und was das noch größere Wunder war. Die Athener hatten in der Zwischenzeit die persische Übermacht besiegt. Ort des Geschehens war ein Ort mit klangvollem Namen: Marathon, zu Deutsch, Fenchelfeld. Und das Geheimnis ihres Erfolges war angesichts der Übermacht der Perser ihr Vertrauen in einen unvergleichlich großen Zusammenhalt. Erschöpft vom Kampf schickten sie Pheidippides abermals vor, um die Athener vom Sieg zu unterrichten. Pheidippides lief wieder 42 km.

Dieses vergleichsweise kleine Stück ist als erster Marathonlauf in die Weltgeschichte eingegangen. 600 Jahre später wird der römische Schriftsteller Lukian behaupten, ,Pheidippides habe den obersten Beamten von Athen die frohe Botschaft vom Sieg über die Perser überbracht und sei danach tot zusammengebrochen. Marathon, ein großer Name für das Wunder einer Laufleistung und eines Überlebenssieges der Athener. Marathonlauf, Lauf für das Leben, um am Ende eine befreiende Botschaft zu überbringen und womöglich darunter tot zusammenzubrechen.

Da ist noch einer gelaufen, namenlos er. Hauptmann von Beruf, lief von seinem Haus in einem Fischerdorf im Norden Israels auf Jesus von Nazareth zu. Die Wegstrecke ist der Rede nicht wert. Der Ort der Begegnung, nicht Athen, nicht Sparta, kein Fenchelfeld. Kapharnaum, zu Deutsch Nahums Dorf. Unser Wort Kaff kommt daher. Karphanaum, Nahums Kaff also. Unscheinbar die Strecke, unscheinbar der Ort. Aber auch dieser namenlose Hauptmann und Kapernaum sind in die Weltgeschichte eingegangen. Warum aber das?

Auch der Hauptmann lief wie Pheidippides, um das Leben, nun nicht einer ganzen Stadt. Er lief um das Leben seines Sklaven, eines Sklaven, der selbst keinen Schritt tun konnte, gelähmt daniederlag und furchtbare Qualen litt. Auch er wie Pheidippides war Überbringer eines Hilferufs. Bittend, so schreibt Matthäus, habe sich der Hauptmann Jesus genähert und gemeint: „Mein Herr, mein Sklave liegt gelähmt zu Hause, mit furchtbaren Qualen“. Jesus nun ganz anders als die Spartaner, bietet Soforthilfe an, fragt gleich: „Soll ich kommen und ihn heilen?“ Und was macht der Hauptmann? Zunächst klingt es so, als ob er in einer Art protestantischem Bescheidenheitsgestus ablehnt: „Herr, ich bin nicht wert, dass Du unter mein Dach einziehst.“ Was dann folgt, kommt allerdings anders daher: „Aber sprich nur ein Wort, und mein Sklave wird gesund.“

Das ist die Tonlage eines religiösen Machtgestus. Ein einziges Zauberwort vom religiösen Herrscher, und schon können die Lahmen gehen, laufen los, laufen ihren Lebensmarathon. So kennt das der Hauptmann aus dem Militär, in dem er selbst was zu sagen hat: „Sag ich, geh, dann geht der andere. Sag ich, komm, dann kommt der andere.“ So, denkt er wohl, funktioniert auch das Machtwort Jesu. Jesus wirkt Wunder, weil er die Kunst heilender Befehlszauberworte beherrscht. Und Jesus wiederum scheint dieser Vorstellung Recht zu geben, indem er über das Gottvertrauen dieses Hauptmanns staunt: Seht her, „so ein Glauben ist mir sonst noch nie über den Weg gelaufen.“ Allerdings bleibt das Zauberwort aus. Auf liebenswürdigste Art verweigert Jesus den vom Hauptmann ersehnten Befehl zu geben und sagt: „Geh hin, Dir geschehe, wie Du geglaubt hast“. Matthäus berichtet, dass der Sklave in derselben Stunde gesund wird.

Was hat nun zu dieser Heilung geführt? Der Glaube des Hauptmanns war es eben nicht. Das Wunder hat nicht eine Ansammlung von Gewissheiten im Kopf des Hauptmanns bewirkt, dessen Gewissheit, dass ein Jesus von Nazareth sogar als befehlsgewaltiger Fernheiler helfen kann, ohne überhaupt in Erscheinung zu treten. Denn dann hätte der Hauptmann ja zu Hause bleiben und seinen Glauben als zusammenräsonnierte Gewissheit schön bei seinem Sklaven vor sich hinwirken lassen können. Wenn nicht der Glaube, haben dann die Worte des Jesus von Nazareth den Sklaven geheilt? Nein, die eben auch nicht. Das Wunder in dieser Geschichte entsteht, indem der Hauptmann zum Botschafter für Jesus und Jesus zum Botschafter für den Hauptmann geworden ist. Der Hauptmann hat Jesus auf eine Jesus ansprechende Weise angesprochen. Und Jesus hat die Hilfe für den Sklaven auf eine Dynamik zwischen den beiden verwiesen. Nicht ein vom Himmel herabsausendes Wort, nicht eine in den Lebenszusammenhang des Soldaten und seiner Angehörigen hineinschneiende Botschaft helfen.

Der leidenschaftliche Lauf der Dinge in dieser Geschichte zerstört die Mär, dass es allein Selbstheilungs- oder aber allein Gottes Fremdheilungskräfte sind, die unser Leben aufrichten. Es kommt darauf an, dass einer kommt und geht, und Vertrauen schöpft, Gott zutraut, am Ort von Elend Leben wieder aufzurichten. Das Wunder entsteht in einem Glauben, den niemand hat, sondern der unterwegs im Zusammenspiel der Kräfte zwischen Menschen, zwischen Gott und Mensch entsteht. Nur deshalb wurde jene Geschichte vom namenlosen Hauptmann zu Kapernaum die Marathon-Ursprungsgeschichte des Glaubens.

Lüneburg aber. Lüneburg ist kein Athen mit einer dreitausendjährigen Geschichte, von der die Welt weiß. Lüneburg ist auch kein Kaff wie Kaphernaum, vielmehr eine wunderschöne Salzstadt im Norden Niedersachsens. In die Weltgeschichte eingehen muss es nicht. Aber im Sommer 2021 sind da vier miteinander gelaufen, aus St. Johannis, St. Michaelis und St. Nicolai eine Konfirmandin, eine Pastorin und zwei Pastoren. Sie schrieben im vorigen September die Sommergeschichte vom Marathon im Team, Beginn einer gemeinsamen Geschichte der drei Innenstadtgemeinden. Dieser Lauf ist für mich ein starkes Bild für die Sorge um die Zukunft unserer Kirche in der Stadt. Bei der Frage, wer denn noch glauben wird, und wer noch glauben will, kann einem angst und bange werden. Vom Sprachverlust und Religionsabbruch ist ständig und viel zu viel die Rede. Die Menschen bleiben weg und höhlen unvermerkt den Frieden aus, der von Religion ausgehen kann. Man möchte loslaufen wie einst einer von Athen nach Sparta, um Hilfe und Zusammenhalt zu erbitten. Kapernaum jedoch …

Entschieden gemeinsam Botschafterinnen und Botschafter einer guten Nachricht vom Leben zu werden. Wo Lähmung droht, ja eintritt, die muss nicht bleiben. Das ins Herz und an den Verstand zu bringen, kann zu einer Art lebenslangen Marathon werden. Marathon für das Leben in Lüneburg inmitten der Stadt. Dabei wird es nicht darum gehen, dass jeder und jede für sich rastlos durch eine Nacht des Glaubens von Kirche zu Kirche rennt und im Namen einer befreienden Botschaft womöglich darunter tot zusammenbricht. Die Dynamik, in der der Glaube zu etwas führt, lebt davon, dass Menschen wechselseitig zu Botschafter werden, voneinander angesprochen werden, die Nachricht, die Leben verspricht, übernehmen und immer wieder teilen.

Ich saß gestern Abend, durchwanderte im Internet das Leben der drei Gemeinden und staunte über all die Variationen von Musik, Sprache, Tanz, Zuwendung, Stille, Licht und schönem Spiel, die bereits in Sankt Johannis, Michaelis und Nicolai unterwegs sind, eine herrliche Mischung aus kulturträchtiger Kauzigkeit und experimentellem Überschwang. Das alles wirkt Wunder, wenn es in das Echo einer Laufgemeinschaft eingebettet ist, die sich ihre Laufenergien teilt. Im Lauf die zahllosen Gaben, die sich unter den drei Kirchendächern versammeln, zusammenlegen, sich den Staffelstab immer wieder weitergeben, im klugen Rhythmus von Ausruhen und Loslaufen, so von Gott an die Hand genommen werden und mit ihm auf und davon ins Leben hineinlaufen in Gottes geliebtes Fenchelfeld Lüneburg.

Das Wunder in dieser Geschichte entsteht, indem der Hauptmann zum Botschafter für Jesus und Jesus zum Botschafter für den Hauptmann geworden ist. 

Stephan Schaede