Predigt von Regionalbischof Dr. Stephan Schaede über Jesus Sirach 4,23-31. Gehalten im Gottesdienst am 13.02.2022 im Rahmen der "Winterreise" in Breselenz im Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg.
Ermutigung zu Zivilcourage
Nomen est omen, macht ein alter Spruch weis. Zu Deutsch: Der Name ist ein Zeichen, macht klar, mit wem wir es zu tun bekommen. Jesus Sirach, heute am Sonntagvormittag, nomen est omen, ein Namensvetter des Jesus von Nazareth. Macht der Name klar, mit wem wir es zu tun bekommen?
Nein, überhaupt gar nicht, liebe Gemeinde. Jesus Sirach hat zwar mit Jesus von Nazareth den Namen gemeinsam. Und etwas Wichtiges auch noch. Er war wie Jesus ein leidenschaftlich glaubender Jude, der in Jerusalem religiöse Blasen zog. Der große Unterschied zu Jesus von Nazareth ist aber dieser: Mit einem Messias, auf den viele Jüdinnen und Juden brennend warteten, hatte er es nicht. Starke religiöse Vorbilder, diese Nachfolgemarotte, in der Menschen einer charismatischen Leitfigur hinterherlaufen, waren für ihn ein Elend. Wahrscheinlich auch deshalb blieb er von der Heiligen Schrift der evangelischen Christinnen und Christen ausgeschlossen. Martin Luther erteilte ihm eine heilige B-Note: Ganz nützlich zu lesen, aber nicht zentral für uns.
Ich muss zugeben, lange habe ich Jesus Sirach ignoriert. Ein echtes Versäumnis. Deshalb sage ich: Danke Winterreise im Wendland, dass ich endlich gründlicher nachgelesen habe. Jesus Sohn des Sirach. Ein starker Typ, provoziert mich, provoziert die Kirche mit ihrer Fixierung auf Jesus von Nazareth, auf diesen Jesus Christus, der alles besser weiß, alles richtig einordnete, Wunder tat, unbeirrbar konsequent seine Meinung sagte, asketisch lebte, vielem, was heute Spaß macht, in die Parade fuhr, und dafür seinerzeit seinen Tod riskierte. Jesus Sirach, der andere Jesus widerspricht: Lauft bitte keinen Messiasfiguren nach, um bessere Menschen zu werden. Mit dem Nachlaufen läuft das nicht.
Was aber dann? Kann ich mit Jesus Sirach heute Morgen eine andere fesselnde Geschichte erzählen, eine die mit Gott ebenso faszinierende Pfade von der Krippe über das Kreuz bis in den auferstehungsträchtigen Winterhimmel über Breselenz nimmt? Nein das kann ich nicht. Das Buch, das dieser Jesus Sirach hinterlassen hat, ist eine Aneinanderreihung kluger Sprüche. 51 Kapitel lang, Sprüche über Sprüche. Und es stellt sich die Frage: Bringt‘s das, Sprüche aneinanderzureihen?
Hören wir auf ihn selber: Jesus Sirach verrät am Ende seines Buches, weshalb er auf Sprüche gesetzt hat. Er schreibt: „Seht mich an: ich habe eine kurze Zeit Mühe und Arbeit gehabt und habe großen Trost gefunden. Nehmt die Lehre an, und ihr gewinnt viel Gold durch sie“.
Lehre, na ja, das tönt anstrengend. Aber Lehre ist mit Gold nicht aufzuwiegen, ist unbezahlbar. Als ein vom Leben belehrter Mensch durch das Leben zu gehen ist das Kostbarste, was Gott an die Hand stellt. Ein Spruch, liebe Gemeinde, war damals eben keine rasch auf das Papier geworfene Parole. Ein Spruch war so eine Art geistiger Brühwürfel konzentrierte Lebenserfahrung und Frucht langen Nachdenkens. Mit seinem Lehrbuch solcher Spruchkonzentrate leitete Jesus Sirach ein Haus der Bildung in Jerusalem. Und die Überschrift, die über allem stand, hörte auf den Namen Weisheit: Weisheit war sein Pfad zu Gott. Weisheit als Pfad, das Leben gründlich durch Herz und Kopf gehen zu lassen. Jesus Sirach, Freund der Weisheit, jüdischer Philosoph, forderte Einsichten sind nur Einsichten, wenn ihnen Taten folgen. Eben deshalb führt der Predigttext, den wir vorhin gehört haben, in den Kern der Weisheitsenergie des Jesus Sirach, weil dieser Text die acht Züge der Zivilcourage aufschlüsseln.
- Erster Zug: Augenblicksintelligenz. „Tu alles zur rechten Zeit… wenn der Augenblick es erfordert, mach den Mund auf und rede!“
- Zweiter Zug: Das Taktgefühl zu wissen, wann reden und wann schweigen dran ist. „Es gibt, so sagt Jesus Sirach, eine Scheu, die dich schuldig werden lässt, und eine andere Scheu, die Ehre einbringt.“
- Dritter Zug: Jesus Sirach besteht darauf, gewonnene Einsichten öffentlich zur Geltung zu bringen, und gefälligst die Klappe zu halten, wenn man keine Ahnung hat: „Du brauchst Dein Wissen nicht zu verstecken.“, notiert er einerseits, und „Scheu dich zu reden, wenn du nicht Bescheid weißt“, notiert er andererseits.
- Vierter und für Jesus Sirach wichtigster Zug, weil er nur hier ausdrücklich Gott ins Spiel bringt: Eintreten für die Wahrheit – und zwar kompromisslos existentiell „Gott wird selbst den Kampf für dich führen: kämpfe für die Wahrheit unter Einsatz des Lebens.“
- Fünfter Zug: Schuldeingeständnis: „Scheu dich nicht, deine Verfehlungen zu bekennen.“
- Sechster Zug: Souveränität gegenüber Macht und formaler politischer Hierarchie:
- Kurz und knapp: „Lass dich nicht von einem dummen Menschen beherrschen und von einem mächtigen dich einschüchtern“.
- Sieber Zug: Balance von Wort und Tat: „Sei nicht voreilig mit Worten, aber auch nicht faul und träge mit Taten“.
- Und schließlich achter Zug: Faire Kommunikation nach innen: Pass auf, meint Jesus Sirach, dich „vor deinen Hausgenossen nicht wie ein Löwe, aber auch nicht wie ein Gespensterseher zu benehmen“.
Das habe ich, liebe Gemeinde, das erste Mal so konzentriert vor Augen geführt bekommen: die entscheidenden Züge der Zivilcourage: Augenblicksintelligenz, Wissen öffentlich vertreten, Wahrheit existentiell vertreten, Schuld eingestehen, kein Respekt vor hohler Macht, Balance von Wort und Tat und faire Kommunikation.
Jetzt können Sie sagen: Alles schön und gut, aber nichts als Regeln, immer nur Regeln. Und ich sage, diese Regeln sind stark im Blick auf aktuelle Lebensbaustellen: Es wäre viel gewonnen, wenn die evangelische Kirche in ihrem Umgang mit sexualisierter Gewalt diesen Regeln auch nur annährend gefolgt wäre.
Es ist Erhebliches gewonnen gewesen, dass hier im Wendland immer wieder Menschen mit Zivilcourage diese Regeln intuitiv beherzigt haben. Und es wird noch viel zu gewinnen sein, wenn wir im Blick auf die Bewältigung der Coronakrise diese Regeln zu Herzen nehmen und an unseren Verstand heranbekommen.
Die Kirche, vor allem einige Pfarrer haben erbärmlich versagt und so das Vertrauen in die Arbeit der übergroßen Mehrheit in verantwortungsloser Weise gefährdet. In der hohen Meinung, ihr betörendes Charisma erlaube ihnen sexuelle Übergriffe an Schutzbefohlenen oder seelsorgerlich Abhängige, fehlte ihnen jede heilige Scheu. Sie spielten sich mit dem Gestus der Menschlichkeit, die auf Gottes Vergebung angewiesen seien, als laszive messianische Gestalten auf, denen aufgrund ihrer suggestiven geistlichen Macht Menschen verfielen. Und was zu Tage trat, wurde, wenn nicht totgeschwiegen, so durch manche kirchenleitende Handsteuerung nicht angemessen nach außen und innen aufgearbeitet. Die Kirche hat die Warnung eines Jesus Sirach nicht vernommen, keine Scheu zu haben, die eigenen Verfehlungen zu bekennen. Unsere Scham, unser Schuldbekenntnis kommt wahrlich nicht zur rechten Zeit, es kommt entsetzlich spät. Die Öffentlichkeit fragt jetzt nicht nach Stellungnahmen. Kirche, bitte Klappe halten, und einfach machen, aufklären.
Und im Streit um Coronamaßnahmen, die Impfung vorweg, ist jetzt viel Fingerspitzengefühl in Fragen des Wissens gefragt. Weder Wissenschaftsgläubigkeit noch Wissenschaftsfeindlichkeit helfen weiter. Wenn dieser Tage mit Recht vor Polarisierung gewarnt wird, dann gilt das deshalb nicht nur in Richtung derer, die der Impfung skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen. Auch Kommunikationsverweigerung gegenüber Menschen, die rational uneinsichtig erscheinen, polarisiert und ist nicht schon um der harte Kante willen Ausdruck von Zivilcourage. Die Zusammenarbeit von Geimpften und Ungeimpften im Kirchenvorstand oder anderen Kontexten der Gemeindearbeit und des kommunalen Engagements vor Ort sollte möglich sein. Nur ein gemeinsames Ringen um Wahrheit ist Ausdruck von Zivilcourage.
Im Wendland sind Menschen angesichts von Atommülllagerfragen aufgestanden, hatten den Mut sich von formaler Macht nicht endgültig einschüchtern zu lassen, haben, wo immer es der Augenblick erforderte, den Mund aufgemacht, haben Erhebliches riskiert, um der Wahrheit zum Recht zu verhelfen.. Ob die Kommunikation nach innen immer von dem Benehmen eines Löwen oder von Gespenstersehern frei war, ob die immer gewaltfrei war, und so souverän in aller Zivilcourage, das wissen diejenigen, die intim beteiligt waren, am allerbesten.
Zivilcourage ist nicht zu verwechseln mit protestierender Rechthaberei. Rechthaber sind Toren. Sie trauen der eigenen Einsicht immer das meiste zu, meinen stets im Recht zu sein, und Recht zu behalten.
Weisheit entsteht im Dazwischen. Das ist bei ökologischen, bei Coronafragen und bei Fragen der Zukunft der Kirche entscheidend. Zivilcourage ist die Frucht einer religiösen Weisheit, die uns Jesus Sirach ans Herz legt. Die Kirche kann da hoffentlich einmal wieder mitsingen. Das Wendland kann auf seine Weise mitsingen. Und die coronageplagte Gesellschaft wird hoffentlich auch am Ende der Coronafahrt mitsingen können. Frucht von Zivilcourage ist elementarer Lebensdank, mündet in einem Halleluja. Davon war Jesus Sirach überzeugt, als er schrieb, er habe in ihr großen Trost gefunden.
Als Konrad Adenauer in den 50iger Jahren einen Zug mit Kriegsgefangenen aus Russland begrüßte, da ließ er den Choral: „Nun danket alle Gott, der große Dinge tut an allen Enden“ singen, eine Szene, die, wenn ich sie ehe, immer wieder tief ergreift. Kaum einer weiß, dass dieser Choral wörtlich Jesus Sirach zitiert. Dieser Chor unendlich müde gewordener Männer und ihrer Angehörigen, die sich endlich wieder haben, ihre zerlöcherten Mützen abziehen und singen. Kaum einer weiß, dass dieser Choral wörtlich Jesus Sirach zitiert.
Ich weiß, Konrad Adenauer ist hier in dieser Region kein Name, dem in großen Scharen nachgelaufen wird. Ist ja auch nicht nach dem Geschmack des Jesus Sirach, jemand begeistert hinterher zu laufen. Aber Lieder dieser Art über die Weisheit Gottes zu singen, die Menschen eselsartig durchhalten lässt, auch in der Zivilcourage, sind Lieder täglich zu singen auch dieser Tage hier im Wendland. Am Ende steht Errettung in Aussicht. Vielleicht doch: nomen est omen, der Name steht für etwas. Jesus, dieser Name bedeutet: Errettung. Heute einmal ganz klar: Errettung durch gemeinsam gewonnene Weisheit. Amen