Althusmann Bernd, Kultusministerium-Kopf

Dr. Bernd Althusmann 

Verantwortung für die Bürgergesellschaft

Bürgerkanzel mit Kultusminister Dr. Bernd Althusmann am 4. Dezember 2011 in St. Nicolai, Lüneburg

Als biblischen Text für meine Kanzelrede habe ich einen Vers aus dem Propheten Micha ausgesucht:

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Recht üben und Güte lieben und achtsam wandeln vor deinem Gott.“ (Micha 6, Vers 8)

 

Ja, wenn das nur so einfach wäre!

 

Der Prophet Micha wirkt um das Jahr 700 v. Chr. in Jerusalem und Umgebung. Von seiner Person wissen wir nur, dass er vermutlich von Herkunft her zu den Dorfältesten zählte und als Gerichtsprophet auftrat. Die Anklage des Micha besteht in einer harten Kritik an den damals herrschenden Eliten. Er geißelte die Reichen, die „nach Äckern (der Bauern) gieren und sie rauben, nach Häusern und sie wegnehmen“. Er klagte: „Der Obere fordert und der Richter ist feil, der Mächtige entscheidet nach seinem Belieben, und das Recht, das verdrehen sie.“

 

Gerichtsprophetie ist uns in heutiger Zeit fremd. Nicht fremd sind uns aber gleichwohl Zustände, die kritikwürdig sind und uns nachdenklich werden lassen. Gerade gegenwärtig haben viele von uns den Eindruck, dass manche Entwicklungen in unserem Land und um uns herum auch in Europa nicht hilfreich sind, kein Ziel erkennen lassen, keine Orientierung für eigenes Handeln geben. Eben noch Gültiges verliert innerhalb weniger Tage an Gültigkeit. Die Geschwindigkeit wechselnder Lagen mit wechselnden Antworten überfordert so manchen- auch in der Politik.

In einer Zeit, in der allen alles möglich erscheint, Grenzen zwischen Staaten ebenso verschwimmen wie ethische Grenzen oder Grenzfragen über menschliches Leben oder die Würde des Menschen, gerade in dieser Zeit sind Christen gefordert, Antworten zu geben, ist Kirche gefordert, Stellung zu beziehen, sind wir alle gefordert, Orientierung zu zeigen, weil wir alle Kirche sind. Die zumindest für mich persönlich deutlich wahrnehmbare Sehnsucht nach Orientierung ist nach meiner vollsten Überzeugung Chance und Herausforderung zugleich für Kirche und Staat gemeinsam und nicht getrennt jeder für sich.

 

Welches sind denn die Maßstäbe für eigenes Handeln? Welches sind die grundlegenden Werte, die uns zusammen halten auch in schwierigen Zeiten? Solche oder ähnliche Fragen stellt sich womöglich ja doch der eine oder andere. Und wie lautet die Antwort?

Lesen wir noch einmal nach beim Propheten Micha. Klagte dieser Micha über 700 Jahre vor Christus womöglich Umstände an, die heute in anderer Form immer noch präsent sind?

Die Ursachen und Anlässe sind in moderner Zeit andere, treten in anderen Ausprägungen auf, aber strukturell sind sie gleichwohl ähnliche und fordern Bürger wie Christen heraus. Micha nennt drei Kriterien für gerechtes Handeln, die aktueller eigentlich nicht sein könnten.

 

Es ist Dir gesagt Mensch, was gut ist, Recht üben, die Güte lieben und achtsam vor Gott sein.

 

„Recht üben“?  

In den verdorbensten Staaten gibt es die meisten Gesetze, sagt ein Sprichwort. Niemand wird ernsthaft behaupten, es gäbe in unserem Land zu wenig Gesetze. Recht üben wird hier wohl eher meinen, Gerechtigkeit zu üben, Verantwortung nicht nur für sich selber zu zeigen, auch gegenüber dem Partner, dem Mitmenschen, dem Kind, dem Nachbarn. „Recht üben“ ist aktiv, nicht passiv, z.B. sich als Bürger und Christ mit aktivem Tun und Handeln einzubringen, um Recht zu wahren und zu sichern. „Recht üben“ überwindet so quasi gedanklich die gewollte rechtliche Trennung von Staat und Kirche, von Bürgergemeinde hier und Christengemeinde dort. Jeder einzelne Christ hat ebenso wie Kirche Verantwortung für staatliches Handeln. Gerade unsere evangelische Kirche hat von Anfang an um die Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche gerungen und ringt auch heute darum. Auf der Generalsynode VELKD Anfang November in Magdeburg wurde ein Diskussionsprozess in Gang gesetzt, die Barmer Theologische Erklärung von 1934 als Bekenntnis anzuerkennen. Eine spannende Diskussion kommt da auf Kirche und Vertreter des Staates zu.

„Die Güte lieben“?

Das Gute und Wahrhaftige lieben und leben, auch Fehler zugestehen, nicht vorschnell richten. Das Gute im Mitmenschen gleich welcher Herkunft sehen, einander achten und lieben. Einander Mut machen, Orientierung und Halt geben. Den eigenen Kindern ein Beispiel geben, aber ihre ganz eigene Persönlichkeit bilden  und respektieren.

 

„Achtsam vor Gott sein“?

Was dies für einen Politiker, für einen, der politische Verantwortung trägt heißt, ist eine  wirklich spannende Frage. Ein politisches Amt wird in unserem demokratischen Gemeinwesen auf Zeit ausgeübt und auf Zeit vergeben. Gute Politik kann wiedergewählt, schlechte Politik kann abgewählt werden. Was gute und schlechte Politik ist, was die wichtigen und unwichtigen politischen Dinge sind, darüber streiten wir, auch öffentlich, gemeinhin zu öffentlich und zu häufig.

Dennoch gilt es,  für einen jeden verantwortlichen Politiker auch heute immer wieder wie Micha zu fragen, „was für den Menschen gut ist, nämlich Recht zu üben, die Güte zu lieben und achtsam zu sein vor meinem Gott.“

Christinnen und Christen haben in ihren Berufen und öffentlichen Ämtern eine von Gott gegebene Mitverantwortung für die Bürgergesellschaft und ihr Gelingen. Das Evangelium fordert dazu auf, über Recht und Gesetz hinaus Sorge zu tragen für den Einzelnen, besonders für den Schwachen, und für das Ganze, damit das Individualprinzip mit dem Sozial- und Humanprinzip in Balance gehalten wird, das Habenwollen also nicht wichtiger wird als das Seinwollen und die Marktform nicht wichtiger als die Sozialform.

Die berühmte Frage, ob man mit der Bergpredigt Politik machen könne, die Johannes Rau bejahte und Helmut Schmidt verneinte, will ich für mich so beantworten, dass auch die Bergpredigt Richtung und Linie politischen Handelns aufzeigt für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Gleichwohl stelle ich als verantwortlicher Politiker aber auch dieses fest: Es gibt mitten in dieser Welt auch Grenzen, es gibt Gewalt, Bedrohung des Lebens, Zerstörung der Umwelt, Anfeindungen, denen mit dem Gebot der Nächstenliebe nicht begegnet werden kann. Die Bibel weiß nichts von blindem Terror, Hedgefonds oder Bedrohungen der Demokratie z. B. durch Rechtsextreme.

Aber ich kann aus dem biblischen Grundverständnis heraus im Umgang mit Mensch und Schöpfung eine Richtung und Linie zu gewinnen versuchen zwischen Recht üben und es notfalls mit Gewalt durchsetzen, zwischen natürliche Mitwelt bewahren und ihre Ressourcen nutzen, zwischen Güte und Liebe üben und im Politischen für  notwendige, manchmal längst überfällige Veränderungen eintreten. 

Als Kultusminister erst recht – kaum ein Thema auf der politischen Agenda ist in unserem Land so umstritten wie die Bildung. Ich habe gehört, auch in unserer Kirche ist Bildung immer wieder umstritten, nicht zuletzt deshalb, weil Bildung immer Geld, und zwar meistens viel Geld kostet, gute Bildung allzumal. Nichts ist teurer als eine schlechte Bildung.

Die herausfordernden Themen in der Bildung sind gegenwärtig: frühkindliche Bildung, vor allem Sprachförderung, Integration, Inklusion, Klassengrößen, Schulzeitverkürzung, Zweigliedrigkeit, Oberschulen… Aber nicht nur in der Bildung sind die Herausforderungen zahlreich: Euro-Krise, innere wie äußere Sicherheit, Arbeitsplätze, Atomausstieg, Klimawandel, Asylfragen usw. 

Hier aus dem Glauben heraus zu verantwortbaren Lösungen zu kommen – verantwortbar vor Gott und vor den Menschen- ist eine Aufgabe, die Politiker aller demokratischen Parteien jeden Tag aufs Neue heraus fordert. Zu manchen Themen sagt ja die Bibel bereits sehr klar etwas: Du sollst den Fremdling nicht bedrängen, Du sollst den Feiertag heiligen oder die Schöpfung bewahren. Diese biblische Grundorientierung lässt sich dann auch in Hinblick auf Fragen der heutigen Zeit bis hin zur Bildungsarmut von Kindern beziehen. Selbst wenn dies im Konkreten dann nicht nur unter christlich geprägten Politikerinnen und Politikern, sondern auch unter vielen Gliedern der Christen- und der Bürgergemeinde umstritten sein kann. Im Bonhoefferschen Sinn gilt es dann, in Verantwortung vor Gott das konkrete Handeln zu wagen. Nicht zu handeln, zu zögern, zu zaudern, das Schieben auf die lange Bank oder politische Aussitzen ist Ausdruck von Unfreiheit.

Politische Entscheidungen machen mir immer wieder deutlich, dass ich als Christ im staatlichen Bereich durch meine Taten auch fehlen, ja sogar schuldig werden kann. Deshalb ist es gut zu wissen: wir haben einen Gott, der uns vergibt, der ein Tun, das seinem Willen nicht entspricht, verneint, aber dem Menschen, der so gehandelt hat, verzeiht. Das sprengt alle menschlichen und politischen Kategorien – ist schwer zu begreifen, aber darauf kann glaubend vertraut werden.

Dies ist im Übrigen die eigentliche Botschaft des Advents – Gott kommt auf uns zu – damit wir an ihm erkennen können, wie wir in seinem, Gottes Namen handeln sollen und dabei immer auf ihn vertrauen können.

 

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum uns eigentlich gerade die Adventszeit so berührt, auch Menschen, die mit Glauben und Gott weniger anfangen können, zumal diese Adventszeit in eine über 2000 Jahre alte Geschichte mündet mit einem Kind in einer Krippe. In dieser Adventszeit schmücken fast alle ihre Wohnungen und Häuser,  Kerzen werden entzündet als Lichter und auch Wegweiser in der Dunkelheit, damit wir Orientierung haben, nicht vom Weg abkommen oder dorthin wieder zurück finden. Das ist doch die eigentliche frohe Botschaft des Advents.

Es gibt also womöglich doch etwas, was unser Verstand nicht fast, auch nicht erfassen muss, aber unser Herz und unsere Seele berührt.

Wer sich diesem öffnet, findet Halt, Orientierung und Sinn im tagtäglichen Tun jeder in seinem Bereich und in seiner ganz persönlichen Verantwortung als Bürger und Christ.

Mit einem Abschnitt aus dem Morgengebet von Dietrich Bonhoeffer, das dieser Weihnachten 1943 geschrieben hat, möchte ich schließen:

„Herr, Jesus Christus, Du warst arm und elend, gefangen und verlassen wie ich. Du kennst alle Not der Menschen, Du bleibst bei mir, wenn kein Mensch mir beisteht, Du vergisst mich nicht und suchst mich, Du willst, dass ich Dich erkenne und zu dir kehre.“ Amen.