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Ein Plädoyer für die Demut

Bürgerkanzel mit Prof. Dr. Christian Frenkel, Chefarzt der Anästhesie im Klinikum Lüneburg und Sprecher der Leitenden Notärzte im Landkreis, am 4. September 2011 in St. Nicolai, Lüneburg

Frenkel Christian Prof. Dr.
Prof. Dr. Christian Frenkel ist Chefarzt der Anästhesie im Klinkum Lüneburg und Sprecher der Leitenden Notärzte im Landkreis.

Liebe Gemeinde, sehr geehrter Pastor Merten! Eingeladen zur Bürgerkanzel, „Lüneburger sprechen über Gott und die Welt“, so heißt die Losung, und das seit 1999, eine lange Tradition, und nun stehe ich hier - am 11. Sonntag nach Trinitatis, dem Dreieinigkeitsfest am Sonntag nach Pfingsten: ein Zugereister, ein Familienvater, drei Kinder, eine tolle Frau, beruflich engagiert als Arzt, sozial vernetzt, Christ: eine ganz normale Biographie, viele könnten hier stehen, auf dieser Kanzel in dieser wunderschönen Kirche.

Als Gast auf einer Kanzel, ein erhöhter Ort in einer Kirche von dem aus der Geistliche die Verkündigung, die Auslegung des Wortes Gottes, die Predigt hält? Eigentlich der falsche Platz für mich, dies ist der „Arbeitsplatz des Pfarrers“, des Seelsorgers – ein Arzt, ein Anästhesist gehört woanders hin: in den OP, in das Notarztauto, auf die Intensivstation, ins Klinikum.

Gut, als „Halbgott in Weiss“ erfüllt der Arzt viele Klischees in den Arztromanen und der Fernsehwelt. In einer Umfrage der Süddeutschen Zeitung nach dem Sozial­prestige der Berufe nehmen Ärzte seit Jahrzehnten Platz eins ein. Danach folgen abgeschlagen Pfarrer, Professoren, Grundschullehrer und Ingenieure.

Vielleicht darf ich also doch heute hier Gast sein und sprechen über ein freigestelltes Thema und ein passendes Bibelwort. Was die Sache für mich als Fachfremden nicht einfacher macht! Eine Predigt beinhaltet die Verkündigung des Evangeliums in Wort, Tat und Lebens­führung und ist eine Form der christ­licher Rede als Teil des Gottes­dienstes.

Welches christliche Thema hat für mich einen persönlichen Bezug, interessiert andere Menschen und bietet Raum für eine Schlussfolgerung, eine „Take home message“?

Als Arzt und Christ kommen sicherlich einige Bezüge in Frage:

In Lukas 10,25–37, wird das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt. Vielen ist das Beispiel vom barmherzigen Samariter gut bekannt – und auch die Zielrichtung dieses Textes ist klar: Liebe deinen Nächsten, handle so wie der Samariter.

Oder vielleicht enthält die Stelle im 1.Buch Mose (28, 10-19), in der Jakob von einer Himmelsleiter träumt, für einen Anästhesisten, einen Narkosearzt, eine besondere Bedeutung und Symbolik, schicken wir doch jeden Tag Patienten ins „Reich der Träume“...

Nach vielen Überlegungen hat mich der Wochenspruch für diesen Sonntag aus dem 1. Brief des Apostels Petrus am meisten berührt. So heißt es im 5. Kapitel in den Versen 5 bis 7:

Alle aber miteinander haltet fest an der Demut. Denn Gott widersteht den Hoch­mütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit. Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch. 

Dies sind sehr eindrucksvolle Worte, die Petrus in diesem Brief an die „Aus­er­wähl­ten“ gerichtet hat, diejenigen, die in der „Diaspora“ leben und überleben. Petrus wendet sich an die Mitglieder einer jungen Gemeinde, die als Verfolgte einer religiösen Minderheit ein unruhiges und gefährliches Leben leben. Diese Gruppe, diese Gemeinde kann nur überleben und existieren in einem abgestimmten und vertrauensvollen Zusammenspiel in einer Gruppe, mit „Teamgeist“ unter extremen Bedingungen. Wie soll man sich verhalten und wie soll die Führung gestaltet werden? Wie kann man überleben im Glauben? Wie kann man mutig mit seinem Bekenntnis zu Jesus Christus und doch demütig sein?

Petrus gibt in seinem Brief Hinweise und Anweisungen, auch für verzweifelte Momente. Ganz besondere Bedeutung misst er dabei dem Begriff Demut zu. Aber Demut – was ist das eigentlich?

Demut, Hochmut, Übermut, Wankelmut, Schwermut – in all den Begriffen steckt das Wort Mut und bedeutet Beherztheit - bedeutet, dass man sich traut undfähigist, etwas zu wagen. Der Demütige erkennt und akzeptiert aus freien Stücken, dass es etwas für ihn Unerreichbares, Höheres gibt.

In einer modernen christlichen Deutung könnte Demut nicht als ein sich "klein Machen" oder als Leugnen des eigenen Wertes gesehen werden, sondern als realistische Selbsteinschätzung des Menschen in seiner Position in der Welt: seiner eigenen Geringfügigkeit im Vergleich mit der Größe Gottes, aber zugleich seine Würde und seinen Wert als Geschöpf und Kind Gottes. 

„Hochmut kommt vor den Fall“ – ein Sprichwort mit einem hohen Wahrheitsgehalt. Hochmut beinhaltet  Anmaßung, Überheblichkeit und Arroganz. Es ist eine Haltung, die Wert und Rang oder Fähigkeiten der eigenen Person besonders hoch veranschlagt und oft auf soziale Distanz zu anderen Menschen zielt. „Übermut tut selten gut“ – Übermut beinhaltet Leichtfertigkeit oder Mutwilligkeit und kann bisweilen auch überheblich sein.

Wie passt das alles in unsere aktuelle Welt, in mein persönliches Wirken als Arzt für die Menschen in dieser Gemeinde? Lassen Sie mich kurz zwei Geschichten aus meinem beruflichen Alltag erzählen:

Eine Notärztin fährt mit dem Notarztwagen zu einem dramatischen Verkehrsunfall, in rasender Fahrt, mit Blaulicht und Martinshorn, mutig und gut ausgebildet und trotzdem mit der Frage: Was erwartet mich an der Einsatzstelle? Werde ich noch helfen können? Am Einsatzort ist das Unfallauto total zerstört, der Fahrer ist schwer verletzt und noch im Wagen eingeklemmt, aber er lebt! 

In enger Absprache mit den anderen Rettungskräften, der Feuerwehr und der Polizei gelingt die Bergung und die Versorgung des Unfallopfers. Die Notärztin kann ihn stabilisieren, kämpft um sein Leben. Es gelingt, ihn lebend ins Klinikum zu trans­portieren. Dort übernimmt ein anderes Team: die Operation gelingt, die Therapie auf der Intensivstation ist erfolgreich: ein Menschenleben wurde gerettet. 

Glück gehabt – vielleicht ja. Eine perfekte Teamleistung von Rettungskräften und Klinikum – ja bestimmt. Ein Grund, stolz zu sein auf die medizinische Leistung? Ja das darf man sicherlich! Bei aller Freude und Stolz für die medizinische Leistung, ist hier Platz für medi­zi­nische Arroganz, den „Halbgott in Weiß“, für Hochmut? Sicherlich nicht – alles ist gut gegangen, perfekt organisiert – aber alles war sehr knapp und es hätte auch anders ausgehen können. Gerade hier ist Reflexion, kritisches Nachdenken und ein Moment der Demut angebracht. 

Der differenzierte und demütige Retter erkennt und akzeptiert aus freien Stücken, dass für den Gesamterfolg, das Schicksal, etwas Unerreichbares, Höheres ebenso notwendig war. Nach diesem Notarzteinsatz, dem Kampf um das Leben des Unfallopfers hätte Petrus dem gesamten Team bestimmt gratuliert, aber auch gemahnt: "Alle aber miteinander haltet fest an der Demut. Denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade."

Die zweite Geschichte endet nicht so heldenhaft und hoffnungsvoll. Seit vielen Jahren betreuen meine Kolleginnen und Kollegen und ich, Pflegekräfte, Physio­therapeuten und Ehrenamtliche schwer erkrankte Menschen, für die es keine me­di­zin­ische Heilung mehr gibt auf der Palliativstation unseres Klinikums. Hier wird Me­dizin auf eine etwas andere Art gelebt. Persönliche Zuwendung, miteinander Zeit verbringen, Schmerzen lindern, Durst löschen, Medikamente optimieren, noch einmal den Weg nach Hause ebnen – den Menschen Respekt und Würde geben. 

Eine ältere Frau haben wir dort neulich behandelt, gezeichnet von einem langen Leidensweg mit einer Tumorerkrankung. Viele Untersuchungen, Operationen, eine Chemotherapie und Bestrahlung hat sie erhalten. Immer hat sie gekämpft, voller Hoffnung und Mut, Schmerzen erduldet. Doch nun kann sie nicht mehr, sie ist erschöpft – im Körper und im Geist.

Wir haben uns medizinisch bemüht, Zeit für sie gehabt, Angehörige informiert, letzte Dinge mit ihr geregelt, die ihr wichtig waren. Und dann ist sie gestorben, ganz friedlich und ruhig. Und plötzlich diese Lehre – Aufgabe erfüllt? 

Auch hier ist medizinisch alles gut gelaufen, die Palliativstation hat für diese Frau alles getan, was möglich war. Welches Fazit zieht man hier: Kein Platz für Helden? Patientin nicht gerettet - medizinisch versagt? Kann man da stolz sein, hochmütig sein? 

Nein, genau so wie für das Rettungsteam ist für die Mitarbeiter der Palliativstation nun Zeit für Demut. Hier fällt es sicher leichter sich selbst in Frage zu stellen, zu akzeptieren, dass alle ärztliche Kunst und Bemühen endlich ist. In all dieser Verzweiflung tröstet Petrus: "So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit.  Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch." Der Petrusbrief, verfasst vor 2000 Jahren, gerichtet an eine kleine Schaar verfolgter Christen, hat aktuelle Bezüge mehr denn je.

Alle aber miteinander haltet fest an der Demut. Denn Gott widersteht den Hoch-mütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit. Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.

Die Botschaft für uns Ärzte - aber eigentlich auch für alle Menschen - könnte lauten: Setzt eure Fähigkeiten verantwortungsvoll ein, nehmt Rücksicht, habt Respekt vor Patienten und Mitmenschen, stellt euch und euer Tun in Frage, nehmt euch nicht so wichtig, seid verantwortungsvolle Team­mitglieder und nicht nur in verzweifelten Situationen vertraut auf Gott: "Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch." Amen.