Bürgerkanzel mit Christiane Scholl von der Landesschulbehörde am 10. Juni 2012 in St. Nicolai
Normal
Lisa ist zu groß. Anna zu klein. Daniel ist zu dick. Emil ist zu dünn. Fritz ist zu verschlossen... Erwin ist zu hässlich. Hans ist zu dumm... Jeder ist irgendetwas zu viel. Jeder ist irgendetwas zu wenig. Jeder ist irgendwie nicht normal. Ist hier jemand, der ganz normal ist? Nein, hier ist niemand, der ganz normal ist. Das ist normal.
Liebe Gemeinde, mit diesem nachdenklich machenden Text über das „Normalsein“ wirbt die Kirchengemeinde St. Nikolai für ihre Behindertenarbeit.
Mit diesem Text leite ich meine Worte ein, denn er passt gut für die heutige Bürgerkanzel. Uns alle betrifft die Frage des Umgangs mit Normalsein, mit Behinderung, mit Anderssein und mit Schwachsein. Insbesondere ist diese Frage in den kommenden Jahren für die Schulen, für die Lehrerinnen und Lehrer in Niedersachsen von großer Bedeutung. Denn es gilt die inklusive Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Beeinträchtigungen zu verwirklichen.
- Was bedeutet Inklusion?
- Was bedeutet Inklusion für die Schule?
- Gibt mir und gibt uns als Christen unser Glaube Antworten auf die vielen noch zu klärenden Fragen?
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahre 2006 wurden die Rechte von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben. Die Staaten haben sich verpflichtet, deren umfassende Teilhabe zu gewährleisten. Es soll folgender Grundsatz gelten: nicht die Menschen mit Behinderung müssen sich den bestehenden Strukturen anpassen. Die Strukturen müssen so gestaltet werden, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam leben können. Wir sprechen dabei auch von barrierefreien Strukturen.
In Niedersachsen hat der Gesetzgeber mit der Neufassung des Schulgesetzes in diesem Jahr die Voraussetzungen dafür geschaffen. Der entscheidende Satz heißt: Die öffentlichen Schulen ermöglichen allen Schülerinnen und Schülern einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang und sind damit inklusive Schulen. Diese Aussage beinhaltet etwas Neues: anders als bislang soll es die Regel sein, dass Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam die Schule besuchen können und zudem sollen die Eltern entscheiden, welche Schulform ihr Kind besuchen soll.
Wenn etwas Große, etwas Neues auf den Weg gebracht wird, dann gibt es viele Fragen:
- Gelingt das?
- Was brauchen wir dafür?
- Was müssen wir organisieren?
- Wer hat welche Erwartungen und wer hat welche Hoffnungen?
- Werden diese erfüllt werden? Wird es Enttäuschungen geben?
- Wo stehe ich und wie gehe ich mit meinen eigenen Zweifeln, meiner Schwachheit um?
Diese Fragen gehören dazu, müssen von uns beantwortet und aber auch ertragen werden. Als Christin bin ich mir sicher: das dem Christentum zugrunde liegende Menschenbild ist eine gute Grundlage, um auf diese vielfältigen Fragen Antworten zu finden. Diese Kirche ist ein wunderbarer Ort, um über die Zielsetzung von Inklusion zu sprechen, denn St. Nikolai hebt sich hervor durch die aktive Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Auf der web-site der Kirche heißt es: Die Behindertenarbeit des Kirchenkreises Lüneburg hat es mit normalen Menschen mit normalen Wünschen und Bedürfnissen zu tun. Aber ist dies schon Inklusion? Müsste die Behindertenarbeit in St. Nikolai hervorgehoben werden, wenn alle ev. Kirchengemeinden in Lüneburg inklusive Kirchengemeinden wären? Auf jeden Fall wird in dieser Kirchengemeinde mehr getan, als wir es bislang in unserer Gesellschaft im Alltag hinbekommen: umgehen mit unseren Unterschiedlichkeiten und unseren Stärken und Schwächen.
Die Worte der diesjährigen Jahreslosung sind heute am 1. Sonntag nach Trinitatis längst verklungen und doch klingen sie in mir nach. Im 2. Korinther 12 stehen die Worte, die uns das ganze Jahr über begleiten:
Jesus Christus spricht: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“.
Wenn ich mir diese Worte im Alltag in Erinnerung rufe, dann fühle ich mich gestärkt und getröstet. Wer ist schon gerne schwach? Das heißt doch immer auch abhängig zu sein von anderen. Wie schwer fällt es, sich die eigenen Schwächen zuzugestehen, geschweige denn vor anderen einzugestehen. In einer Gesellschaft, in der Erfolg und Leistung zählen, tut es gut zu wissen, dass ich schwach sein kann und dass Gott gerade dann bei mir ist und mir aus der Schwachheit Kraft erwächst.
Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, wenn Sie die Jahreslosung heute am 1. Sonntag nach Trinitatis erneut hören. Für mich jedenfalls stellen sich folgende Fragen:
- Ist es der Mensch mit Beeinträchtigungen, der schwach ist? So scheint es ja auf den ersten Blick zu sein
- oder sind nicht diejenigen schwach, die mit ihren Begabungen, ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten es nicht -oder nur schwer- schaffen, mit der Unterschiedlichkeit von uns Menschen umzugehen?
Wir werden herausgefordert, wenn es darum geht anzuerkennen, dass es normal ist, verschieden zu sein: nicht nur in Sonntagsreden, wie heute auf der Bürgerkanzel, sondern im Alltag mit seinen Leistungsanforderungen. Ich will mich dabei auf die Schule konzentrieren. Schule ist ein wesentlicher, wenn nicht der Platzanweiser für die Gesellschaft. Um einen guten Platz für die eigenen Kinder zu bekommen, tun die meisten Eltern sehr viel. Auch die Kinder und Jugendlichen müssen sich anstrengen, denn ihre Leistungen werden vielfältig verglichen und gemessen:
- durch Noten, Zeugnisse, Versetzungen und Abschlüsse in der Schule
- aber auch durch eigenen Eltern und
- auch die Väter und Mütter der anderen Kinder stellen sich die Frage, wo steht mein Kind im Vergleich zu anderen
Vergleichen, messen und bewerten, das geschieht nicht nur in Bezug auf den einzelnen Menschen, sondern auch in Bezug auf Systeme. So auch auf die schulische Bildung:
- welche Schule gewährleistet die höchste Bildungsgerechtigkeit?
- welche fördert oder fordert am besten?
Diese Fragen werden in unserer Gesellschaft diskutiert, zum Teil sehr abgrenzend und kontrovers. Eines ist sicher: immer dann, wenn Patentrezepte und einfache Lösungen gegeben werden, ist Vorsicht geboten. Zweifel und Sorge gehören zu unserem Leben dazu und müssen ausgesprochen werden dürfen. Wie gut ist es dann aber auch zu wissen, dass Suchen, Hoffnung und Zuversicht unser Leben prägen, ganz so wie es in dem Psalm 34 zum heutigen 1. Sonntag nach Trinitatis heißt:
Als ich den Herren suchte, antwortete er mir
und errettete mich aus aller meiner Furcht.
Bei allem Zweifel ist es für mich als Christin gut zu wissen, dass ich bei Zweifeln in meinem Glauben Antworten finde. Dafür bin ich dankbar. Dankbar auch, dass ich, dass wir in einem Land leben, in dem das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenlebens stabil ist:
- Das Grundgesetz, das von einem Menschenbild ausgeht, welches die Würde des Menschen als unantastbares Verfassungsprinzip hervorhebt
- Die Religionsfreiheit: der christliche Glaube setzt die Akzeptanz religiöser Pluralität als Teil der Achtung vor der Menschenwürde voraus
- Das Benachteiligungsverbot, welches u.a. beinhaltet, dass Niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf.
Alle diese Grundsätze sind Teil unserer christlich geprägten Kultur und beinhalten den Respekt vor der Verschiedenheit, und damit Toleranz. Dies ist der rote Faden, der unser Leben durchzieht. Wenn wir diesen roten Faden auch aufnehmen und annehmen, wenn es um die große Frage der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne sonderpädagogische Unterstützung geht, bin ich gewiss, dass wir auch diese große Aufgabe bewältigen können. Hierfür braucht es vielerlei: sicher auch Geld, damit die Rahmenbedingungen stimmen, aber auch Zeit, Zuversicht, Gelassenheit und das Aushalten von Widersprüchen. Aber es muss auch eine Veränderung in unserer Gesellschaft insgesamt geben. Unsere Haltung zum Umgang mit Verschiedenheit, Normabweichungen, Krankheit, Beeinträchtigung und Behinderung muss sich ändern.
Ein Gesetz allein kann dies nicht schaffen, aber es kann Ziele vorgeben. Es kann den Rahmen setzen, damit sich in den Institutionen, für die der Staat Verantwortung trägt, wie das z.B. bei den Schulen der Fall ist, etwas verändert. Eine Gelingensbedingung hierfür ist, dass ein möglichst hohes Maß an freiwilliger Übereinstimmung und an gemeinsamen Vorstellungen vorhanden ist. Mit der jetzigen Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes sind genau diese Voraussetzungen geschaffen: ein langer Weg für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention liegt vor uns, für die die, als Lehrerinnen und Lehrer in der Schule tätig sind, aber insbesondere für die Gesellschaft als Ganzes: Wir alle müssen die Unterschiedlichkeit von Kindern und Menschen zulassen, Schwäche und Anderssein darf nicht zu Ausgrenzung und Separierung führen.
Jede stabile freiheitliche Ordnung gründet sich auf ein möglichst hohes Maß an freiwilliger Übereinstimmung und gemeinsamen Vorstellungen: für uns als Christen kommt dies in unserem Glauben und in seinen ethischen Grundlagen zum Ausdruck. So wie auch in der diesjährigen Jahreslosung. Diese lässt die Schwachheit zu und gibt Hoffnung, dass auch in der Schwachheit Kraft liegt und dass uns die Kraft des Glaubens in der Schwachheit trägt.
Für mich, insbesondere auch in meiner beruflichen Tätigkeit, ist die Möglichkeit der Rückbesinnung auf meinen Glauben eine Stärkung und auch Richtschnur. So verstehe ich auch die großartige Aussage des Verfassungsrechtlers Prof. Böckenförde: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.
Der freiheitliche, soziale und demokratische Rechtsstaat beruht auf ethischen Grundlagen sowie ihn prägenden weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen, die er als gegeben voraussetzt, da er sie selbst nicht schaffen kann.
Dies gilt für die Schulen schon für die Umsetzung des allgemeinen Bildungsauftrages. Umso mehr jedoch für die vor uns liegende inklusiven Beschulung, deren Ziel es ist, dass Blinde und Sehende, Gehende und Rollstuhl fahrende Schülerinnen und Schüler gemeinsam beschult werden. Genauso wie die die z.B. spielend drei Fremdsprachen lernen und mit denen, die es mit sonderpädagogischer Unterstützung schaffen, ein wenig Lesen oder Schreiben zu lernen. Wenn wir diese Herausforderung weniger als Belastung, denn als Chance begreifen, wird dies mittelfristig unsere Gesellschaft positiv verändern.
Die Schülerinnen und Schüler, die in der Schule gemeinsam mit Kindern mit Beeinträchtigungen lernen, werden in der Zukunft als Erwachsene die Gesellschaft tragen. Sie werden dann die Verschiedenheit, die Stärken und Schwächen von Menschen anders wahrnehmen und damit anders umgehen als wir es bislang können. Sie werden -stärker als es uns bislang gelingt- , Arbeitsplätze und Lebensräume schaffen, in denen auch die Leistungsschwachen, die Beeinträchtigten und die, die auf Hilfe angewiesen sind, in ihrem Lebensumfeld bleiben können und Teil unseres Lebensumfeldes sind. Das macht Hoffnung. So wie jetzt und hier schon in St. Nicolai. Amen.