"Hebt eure Augen in die Höhe und seht"

Kanzelrede von Dr. Dorit Stehr am 8. April 2018 in der Reihe "Bürgerkanzel in St. Nicolai". Dorit Stehr ist Tiermedizinerin, sie leitet das Referat Tierschutz im Niedersächsischen Landwirtschaftsministerium und wohnt in Oldendorf/ Luhe.

Wenn ich unterwegs bin, habe ich oft eine kleine Reisebibel dabei. – Manchmal schlage ich sie wahllos auf, lege mit geschlossenen Augen den Finger hinein, mache die Augen auf und überlege mir, was der Text, auf den mein Finger zeigt, für mich und meine Lebenssituation bedeuten mag.

Mit dem heutigen Predigttext war es so ähnlich: ich habe mein Gesangbuch aufgeschlagen und geschaut, welche Lesung dort für den 1. Sonntag nach Ostern steht. – Der kraftvolle, alttestamentarische Text für den heutigen Sonntag hat mich sofort angesprochen:

„Hebt Eure Augen in die Höhe und seht!“

In unseren gotischen Backsteinkirchen wird der Blick unausweichlich nach oben gezogen, hier in St. Nicolai zu achtzackigen Sternen. Das passt gut zu unserem Predigttext, so wie das alte Volkslied „Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt, … Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet“. Das „Zählen“ ist im Alten Testament ein göttlicher Herrschaftsakt, der den Menschen nicht zusteht. Die zweite Strophe des Liedes konkretisiert dieses Bild, indem Gott die Geschöpfe beim Namen ruft, - wie bei Jesaja: „Gott der Herr rief sie mit Namen, dass sie all' ins Leben kamen, dass sie nun so fröhlich sind“.

In unseren Kirchen ist auch die Kanzel ist ein erhöhter Ort; während der Predigt schaut die Gemeinde auf.

In der Regel stimmen unsere innere und äußere Haltung überein. Dies drückt sich in verschiedenen Redensarten aus, wie einerseits „den Kopf hängen lassen“ oder andererseits „die Nase hoch tragen“ oder „ein aufrechter Mensch sein“. Wer erschöpft und kraftlos ist, schaut nach unten. Das heißt: die innere Haltung beeinflusst die Körperhaltung und damit die nicht-sprachlichen Signale, die wir aussenden.

Ich habe ein aktuelles Beispiel: als ich vor zwei Wochen bei einem Hallenwettkampf in Madrid 800 m gelaufen bin, hat der Ehemann einer Bekannten, ein brillanter Sporttechniker, fotografiert. Er hat mir nachher das Foto gezeigt und schmunzelnd gefragt: „Schaust Du beim Laufen eigentlich immer nach unten?“ Interessant. Natürlich tue ich das nicht. 800 m sind meine Lieblingsstrecke und ich schaue immer nach vorne, ob ich nicht noch jemanden überholen kann. Dieses Mal konnte ich in den ersten zwei Runden sehr gut mithalten. Dann fühlte ich mich erschöpft und verlor den Anschluss. Und genau zu Beginn der dritten Runde hatte er auf den Auslöser gedrückt: die Augen waren von da an zu Boden gerichtet.

Jesaja, dem der heutige Predigttext zugeschrieben wird, ist einer der vier großen Propheten des Alten Testamentes. Er hat um 700 vor Christi gelebt. Seine Worte sind über die Jahrhunderte überliefert, weil die darin enthaltenen Weisheiten Bestand haben.

„Hebt Eure Augen in die Höhe und seht!“ -

Dieser Satz enthält für mich zwei wesentliche Elemente.

Das eine ist das perspektivische, das Aufschauen und bewusst Wahrnehmen, den Kopf nicht hängenlassen.

Das andere ist die Tatsache, dass es jemand viel Größeres über mir gibt, einen, der „die Enden der Welt geschaffen hat“, wie Jesaja es ausdrückt.

Der Prophet wendet sich hier an Mutlose, an die Mühseligen und Beladenen. An die, die „den Kopf in den Sand stecken“, an die, die „schwarzsehen“, oder „vor Kummer den Kopf hängen lassen“.

Auch Leistungssportler benötigen gelegentlich einen „Jesaja“, in den USA nehmen heute Sportpsychologen diese Rolle ein.

Hebt die Augen“ könnte in moderner Sprache ein aufmunterndes „Kopf hoch“ sein. Es richtet sich an Menschen, die deprimiert sind oder gar resigniert haben, vielleicht auch an Trauernde. Es richtet sich an grundsätzlich starke Männer und natürlich auch an starke Frauen, die sich erschöpft haben, und an tatkräftige junge Menschen, die ausgelaugt sind nach einer anstrengenden Prüfungsphase oder durch einen fordernden, neuen Beruf. Und an Menschen in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation. -

Heute gibt es einen Studiengang „Management und Psychologie“ und Trainings für Manager, die zum Beispiel auf Alpengipfeln Weitblick üben. Ich habe mich beruflich 12 Jahre mit Management in der Verwaltung befasst und bin manchmal verblüfft über Parallelen moderner Managementansätze und Weisheiten aus der Bibel, wie am heutigen Sonntag bei Jesaja.

„Die Augen, bzw. seinen Kopf zu heben und zu sehen“, das heißt aufzuschauen, die Umgebung dabei bewusst wahrzunehmen und dann zu wissen, wo es hingeht; Ziele haben, Ziele erreichen;

„Guck doch hin, wo Du hingehst“ oder „immer der Nase nach“ sind Redensarten, die ebenfalls ausdrücken, dass wir üblicherweise dorthin laufen, wo unser Blick hingeht. Dabei schaut ein Mensch mit einem dominanten Persönlichkeitsprofil zwar von sich aus nach vorne, benötigt jedoch hin und wieder durchaus das „und seht“, um nicht bei seiner konsequenten Zielverfolgung die Interessen anderer zu über-sehen.

Die Beeinflussung der Körperhaltung durch den Gemütszustand (und vielleicht auch umgekehrt: so dass ein bewusstes Straffen der äußeren Haltung sich wiederum auf unser Inneres auswirkt) mögen Hobby-Psychologen und Atheisten noch weitgehend mit mir zusammen bejahen.

Doch nun kommt ein persönlicher Teil. Für mich ist Glaube sehr persönlich. Ich glaube an Gott. Das war immer so. Und ich wünsche mir, dass es immer so bleibt: es gab nie Zweifel, kein Hadern mit dem „Schicksal“ - Glaube als Selbstverständlichkeit, wie bei ganz kleinen Kindern, Quasi modo geniti infantes, - so, wie der heutige Sonntag heißt. Wir haben früher in der Studentenzeit über die Existenz von Gott diskutiert, Nächte hindurch. Ich habe flammend argumentiert, andere zu überzeugen versucht. Aber ich habe nie mitbekommen, ob ich irgendetwas bewirkt habe. Gegenüber jemandem, der nicht an Gott glaubt, ist es für einen Laien schwer, nachvollziehbare Begründungen zu finden. Glaube ist für mich ein Geschenk. Das Argumentieren überlasse ich heute den Theologen beziehungsweise Missionaren.

An meinen Erfahrungen lasse ich Sie jedoch alle gerne teilhaben.

Aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, schreibt Jesaja.

„Auf Gott harren“, - was heißt das?! Im heutigen Deutsch ist uns das nicht mehr so geläufig. Auf Plattdeutsch heißt es sehr schön „aver dei dan Herrn sein Hand fastholt, dei kriegt neie Kraft“. Ich habe im Leben immer wieder unfreiwillig Herausforderungen gegenübergestanden oder freiwillig welche gesucht:

Als sehr junge Tierärztin hatte ich früh große berufliche Verantwortung,

später war ich plötzlich allein mit zwei kleinen Kindern in Spanien,

zwanzig Jahre alleinerziehend und gleichzeitig immer ganztags berufstätig mit Nachtdiensten im Zoo und zahlreichen, beruflich bedingten Umzügen,

ich habe geliebte Menschen bei schwerer Krankheit begleitet, meine Mutter täglich besucht, als sie ein Viertel Jahr im Koma lag,

es gab immer wieder besondere Herausforderungen in Beruf und Ehrenamt (und auch im Sport oder auf außergewöhnlichen Reisen). Dass einmal auf einem Seitenarm des Orinoco voller Piranhas der Außenbordmotor ausfiel oder nachts im Urwald ein Jaguar um unser Camp schlich, war dabei noch das Harmloseste.

Ich habe kein ruhiges Durchschnittsleben geführt. Aber es war immer wieder Kraft da, wenn ich sie brauchte, und Zuversicht. Ich hinterfrage zwar ständig mich selbst, diskutiere mit Ärzten über Diagnosen und bin Politikern und Presse gegenüber durchaus kritisch. Aber mit meinem „Schicksal“ habe ich nie gehadert, sondern war stets sicher, dass es auf dieser Welt bei allem höhere Zusammenhänge gibt, die ich mit meinem menschlichen Denken nicht erfassen kann:

sein Verstand ist unausforschlich.

Ich bin ihm dankbar für alles Schöne und Große, für die Frühlingssonne und den Sternenhimmel, - für einen kleinen Marienkäfer, für die ersten blühenden Büsche oder den Nebel morgens über der Luhe.

Hebt die Augen in die Höhe und seht!

Diese Lebenshaltung gibt eine unglaubliche innere Kraft, die sich immer erneuert, - auch wenn sie mit zunehmendem Alter ein wenig an Elastizität verlieren mag… So komme ich heute einfach nicht mehr mit vier Stunden Schlaf aus, verkrafte 12-Stunden-Arbeitstage nicht so wie früher und laufe bei Wettkämpfen deutlich langsamer als noch vor fünf oder gar zehn Jahren.

Ich kenne das Gefühl gut, kraftvoll wie ein Adler in die Lüfte zu steigen. Und wenn alles um mich herum schwarz zu sein schien, habe ich vor mir in der Ferne immer ein Licht gesehen.

Privatpiloten ahnen ein wenig vom „Adlergefühl“; auch sie starten stets gegen und nicht mit dem Wind gen Himmel.

Und wenn bei uns einmal, anders als heute in Lüneburg oder als damals üblicherweise bei Jesaja in Juda, die Wolken tief hängen und alles grau ist, dann ist für menschliche und tierische Flieger klar, dass die Wolken von oben rosa sind und darüber die Sonne strahlt.

Der Adler war und ist als Tier in der Wappenkunde weit verbreitet, vom babylonischen Staat bis zu unserem heutigen Staatswappen. In den frühen Hochkulturen galt er bereits als Symbol der Herrschaft und des Göttlichen. Darum hat Jesaja diesen Vogel für das kraftvolle Bild gewählt. Ginge es darum, besonders hoch zu fliegen, wäre eine Streifengans das bessere Symbol gewesen, denn sie kann in einer Höhe von über 9000 m über den Himalaya, das „Dach der Welt“, fliegen.

„Der Adler besucht die Erde, doch säumt nicht, schüttelt vom Flügel den Staub und kehrt zur Sonne zurück“, sagt Matthias Claudius.

Aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

- Welch ein Bild!

Heben Sie also heute mit mir die Augen in die Höhe. Es gibt viel zu sehen!

Und dann sagen wir zusammen „Gott sei Dank!“. Amen.