Warum sehen wir die Engel nicht?

Polizeihauptkommissarin Eleonore Tatge sprach am 2. Juni 2019 in der Reihe "Bürgerkanzel in St. Nicolai".

„Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sich dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“

Dieses Bibelzitat hat mein Bruder einer meiner Töchter zu ihrer Konfirmation geschenkt. Er hat es in wunderschöner Handschrift fast schon gemalt. Seit nun schon 14 Jahren hängt dieses Bild an der Wand ihres Kinderzimmers, das inzwischen Gästezimmer ist. Ebenso gern wie sie mochte ich dieses Zitat. Deshalb hängt es auch weiterhin dort, wo sie es hingehängt hat. Ich sehe es immer wieder, wenn ich das Zimmer für Gäste vorbereite und denke oft darüber nach. Sich behütet zu fühlen… das ist zutiefst befriedigend.

Ich habe eine sehr bewegende Entdeckung gemacht, als ich eine Schweizer Studie zum Thema Häusliche Gewalt gelesen habe. Die Studie hat sich mit der „Sicht der gewaltbetroffenen Frauen auf institutionelle Intervention bei Gewalt in Ehe und Partnerschaft“ beschäftigt. Die häufigste Antwort, die die gewaltbetroffenen Frauen dort gegeben haben, war: „Der Polizist ist mein Engel gewesen.“

Die Vorgehensweise der Schweizer Polizei bei Gewalt in der Familie ähnelt derjenigen der niedersächsischen Polizei: wer schlägt wird aus der Wohnung gewiesen! Die Antwort der Schweizer Frauen ist deshalb auch hierzulande von Bedeutung: Endlich einmal….so empfanden es die betroffenen Frauen….ist da jemand gewesen, der ihnen signalisiert hat, dass nicht sie die Schuldigen sind. Frauen, die Opfer Häuslicher Gewalt sind, geben sich oft die Schuld für das Geschehene und entschuldigen das Verhalten der Männer. Umgekehrt geben auch die Täter den Opfern die Schuld an der Eskalation und rechtfertigen ihre Gewalt damit, dass sie zuvor provoziert worden sind, dass die Frau es nicht anders verdient hat. So einsteht eine Spirale der Gewalt, aus der die Frauen alleine oftmals keinen Ausweg finden. Verantwortlich für die in der Regel wiederkehrende Gewalt ist aber nur derjenige, der zuschlägt.

Endlich einmal ist jemand da gewesen, der die Hand reicht und ihnen und auch den Kindern sagt: ihr seid nicht Schuld. Endlich einmal haben sie Zeit, Luft zu holen und nachzudenken. Ich glaube, dass die gesellschaftspolitische Entscheidung das GewSchG vor knapp 20 Jahren einzuführen eine der wichtigsten der letzten Jahrzehnte war. 

Ich unterrichte hier im Direktionsbereich die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zur Vorgehensweise bei Häuslicher Gewalt. Ich lege ihnen gern dieses Zitat zu Schulungsbeginn auf die Tische. Sie sind immer positiv überrascht. Der Einsatz Häusliche Gewalt ist einer der schwierigsten für meine Kolleginnen und Kollegen: es ist ein sehr zeitaufwendiger Einsatz; er bedarf viel Fingerspitzengefühl für die Betroffenen und ein gutes Urteilsvermögen. Aber dass ihr Einsatz derart weitreichende Konsequenzen für die betroffenen Frauen hat und ihnen mitunter so viel weiter hilft, bekommen die Kolleginnen und Kollegen letztlich selten mit. Deshalb freuen sie sich über diese Aussage!

Ich frage mich oft, ob meine Beratungen von Opfern oder meine Vorträge, die ich zur Gewaltprävention halte, bei den Menschen diese Wirkung erzielen. Ich glaube, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen Polizeibeamte geworden sind, um zu helfen… wenn man die Rückmeldung bekommt, dass man ein Engel gewesen ist und das Gefühl hat, tatsächlich helfen zu können, dann ist das zutiefst befriedigend.

Unabhängig von dieser sehr extremen Situation glaube ich, dass es unzählige Situationen im täglichen Leben gibt, in denen Gott den Menschen Engel schickt, diese aber einfach übersehen werden. Diese Erkenntnis habe ich aufgrund vieler ganz alltäglicher Situationen gewonnen, die mich derzeit immer wieder erschüttern und über die ich sehr unglücklich bin:  Kleine Situationen nur, die aber, wie ich finde, vermehrt passieren:

Mehr und mehr Menschen greifen auf eine sehr unangenehme Art und Weise zu Mitteln, die ich als übergriffig betrachte: In der kleinsten Auseinandersetzung passiert es, dass man beschimpft, beleidigt, bedroht, sogar geohrfeigt wird….

  • das passiert bei dem „Konkurrenzkampf“ um einen Parkplatz
  • das passiert einer Lehrerin, die das Kind in den Augen der Eltern nicht gut genug benotet hat
  • das passiert dem Mitarbeiter im Jobcenter, wenn er Leistungen nicht gewähren kann
  • das passiert, wenn jemand vom Arzt nicht krankgeschrieben wird

Ich könnte diese Liste unendlich fortsetzen. Ich habe gezielt zwei Beispiele herausgesucht, die mir vor kurzem zu Ohren gekommen sind. Ich möchte auf diese Form des Umgangs der Menschen miteinander…oder sagen wir besser gegeneinander… ganz bewusst ausführlich eingehen. Ich weiß aus meiner langjährigen dienstlichen Erfahrung leider, dass diese alltäglichen Grenzüberschreitungen die Angst vor noch schlimmeren Übergriffen schüren:

Beispiel 1: In einer Bildungseinrichtung hatte eine Mitarbeiterin einen Raum an zwei Lehrer gleichzeitig vergeben…wo Menschen  arbeiten, passieren auch mal Fehler…. abends kommt nun also der eine Lehrer in den Raum, in dem bereits der andere Lehrer unterrichtet. Er wird sofort massivst beschimpft, wie er es wagen kann, den Unterricht zu stören. Der Erste versucht die Situation sachlich zu klären, indem er dem anderen erklärt, dass er diesen Raum schriftlich zugewiesen bekommen hat. Doch die bösen Beschimpfungen gehen weiter. Er zieht sich ganz friedlich zurück und sucht sich einen anderen Raum. Nun könnte man meinen die Geschichte sei zu Ende. Weit gefehlt…am nächsten Tag geht die Beschimpfung des Lehrers weiter, denn auch die Verursacherin muss noch beleidigt werden.

Warum hat dieser Lehrer nicht gesehen, dass es erstens überhaupt kein großes Problem war? Und warum hat er nicht gesehen, dass zweitens der andere Lehrer ein wahrer Engel war? Er hatte sofort einen Ausweg gesucht ohne ihn zu beeinträchtigen.

Beispiel 2: Polizeibeamte möchten zu einem Unfallgeschehen kommen. Sie müssen das Auto verlassen, weil sich bereits eine Menschentraube gebildet hatte, die versuchte möglichst viel von dem Unfallgeschehen live mit zu bekommen …..sogenannte Gaffer. Unvorstellbar eigentlich, dass Menschen so neugierig sind; noch unvorstellbarer, dass sie so rücksichtslos gegenüber dem Unglück ihrer Mitmenschen und nur auf Sensation aus sind. Wie schrecklich ist es, dass zum Teil in solchen Situationen die Opfer gefilmt und ins Netz gestellt werden?

Ich bin nicht so viel in den sozialen Netzwerken unterwegs, aber ein Fall ist mir jüngst persönlich bekannt worden. Auch in diesem Fall ist es zu einem Unfall gekommen. Eine Person, die gar nicht am Geschehen beteiligt war und nur vom Hörensagen etwas dazu wusste, schrieb in einer WhatsApp Gruppe eine gänzlich überzogene und sogar falsche Nachricht über diesen Unfall.

Sie berichtete mit dem Hinweis: „bevor ihr es von anderer Seite erfahrt“, über vermeintlich schwerwiegende Folgen des Unfalls, die zu keiner Zeit existierten: nämlich, dass man nicht sagen könne, ob alle Verletzen überleben! Tatsächlich waren nur drei Personen leicht verletzt worden. Sie versetzte damit mehr als 20 Personen in Angst und Schrecken.

Ich komme zurück zu dem Fall: die Menschentraube war so dicht, dass der Polizeibeamte laut rufen musste, damit die Menschen möglichst schnell beiseite gehen, um den Polizeibeamten den Weg frei zu machen. Da dreht sich einer der Gaffer um und sagt zu dem Kollegen, er möge sich mal hier nicht so aufspielen! Statt Platz zu machen ein solches Verhalten! In diesen Situationen ist es natürlich für die Polizei vorrangig, zum Gefahrenort zu kommen. Deshalb hat sie oft leider nicht die Zeit gegen solche Personen strafverfolgend zu ermitteln. Warum hat dieser Gaffer nicht gesehen, dass ihm sogar ein klares Zeichen gesandt worden war, dass sein unwürdiges Verhalten hätte stoppen können? 

Ich bin sicher, dass es in jeder dieser Situationen einen kleinen Fingerzeig gegeben hat. Wenn die Personen achtsamer gewesen wären, hätte sie ihn als solchen wahrnehmen können, hätte ihre Verhalten noch ändern können.

Warum sehen wir die Engel nicht, die uns geschickt werden? Ich fange bei mir an…ich sehe die Engel oft nicht, weil ich mir nicht die Zeit dazu nehme, weil ich es nicht ins Bewusstsein rücke. Aber ich glaube, ich lerne, sie immer häufiger doch zu sehen.

Ausgangspunkt hierfür war, dass ich vor einigen Jahren den Jakobsweg gegangen bin. Mein Tagwerk bestand lediglich darin, den Weg vom einen Ort zum anderen, zu Essen und ein Bett für die Nacht zu finden. Den Rest des Tages durfte ich meinen Gedanken beim Gehen freien Lauf lassen. Vier Wochen lang. Ein unfassbar befreiendes Gefühl, dass ich bis zu der Zeit überhaupt nicht kannte. Langsamkeit, Beharrlichkeit, Entspannung und vieles mehr stellt sich in der Gedankenwelt ein.

Mir ist sehr schnell klar geworden, dass ich auf dem Weg begleitet und behütet wurde. Ich bin den etwas unbekannteren Küstenweg in Spanien gegangen, auf dem nur wenige Markierungen den Weg weisen.

Immer mal wieder kann man eins übersehen oder gar keins finden. Ich habe mich mehrfach verlaufen. Zweimal ist es mir passiert, dass ich von Menschen, die ich „zufällig“ getroffen habe, angesprochen worden bin. Sie sagten mir, dass ich vom Weg abgekommen sei. Ich habe das als großes Glück erlebt, denn Umwege können bei dem Tagespensum durchaus schwerwiegend sein; auch um später am Tag noch eine freie Unterkunft zu finden.

Ich habe gelernt, diese Zeichen zu sehen und mich darüber zu freuen. In den Alltag aber habe ich etwas ganz Besonderes transportieren können. Und zwar immer dann, wenn ich mal wieder nicht schaffe, meine Kapazitätsgrenze zu erkennen! Wie oft erlebe ich, dass ohne mein Zutun einer der vielen Termine plötzlich und unerwartet ausfällt. Ich schaue dann immer in Richtung Himmel und bedanke mich. Ich gehe davon aus, dass das auch ein Signal ist, mir weniger vorzunehmen…und auch das gelingt schon immer besser.

Ich möchte damit schließen, dass ich mir für Sie und für mich wirklich wünsche, dass wir in ganz vielen Situationen sehen, dass wir Engel geschickt bekommen haben. Ich möchte auch, dass wir uns in der Funktion sehen, als Engel für andere Menschen zu fungieren, die gerade Unterstützung brauchen. Wenn uns das gelingt, dann bemerkten wir auch, wie gut es uns eigentlich geht und wie beschützt wir eigentlich sind!