Bürgerkanzel mit Polizei-Pressesprecher Kai Richter am 4. März 2012 in St. Nicolai, Lüneburg
Ich freue mich, dass ich heute hier hoch oben auf der Kanzel von St. Nicolai stehen darf. Als Pastor Oldenburg mich Ende letzten Jahres anrief und mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, beim ersten Bürgerkanzelgottesdienst dieses Jahres zu sprechen, war ich erst einmal überrascht und erbat mir ein paar Tage Bedenkzeit...
Zu meiner Tätigkeit als Polizeisprecher gehört es zu reden, zu sprechen und zu berichten. Eine Rede auf der Kirchenkanzel der Nicolai-Kirche ist grundlegend anderes. Anders als polizeilich oder gewerkschaftlich ein Statement abzugeben, von einem schweren Unfall, einem großen Brand oder von einem Castor-Transport zu berichten. Wie sie sehen, habe ich zugestimmt! Sicherlich auch, weil ich Pastor Oldenburg schon fast zehn Jahre, auch aus seiner Zeit als Pastor in meinem Wohnort Hanstedt I kenne, er dort drei unserer vier Kinder getauft hat und ich mich nun auch auf die Herausforderung „Bürgerkanzel“ in Begleitung mit ihm freue.
Zeit der Besinnung
Es passt einfach, dass ich in der Passionszeit hier sprechen darf. Die Passionszeit, die im Kirchenjahr zur intensiven Besinnung auf das Kreuz einlädt: Jesus Christus ist den Weg des Leidens und Sterbens gegangen, um die, die zu ihm halten und ihm vertrauen, frei zu machen von unheilvollen Lasten. Die Passionszeit ist traditionell auch Fastenzeit. Fasten braucht Zeit, braucht Vorbereitung, braucht Geduld … es ist nichts, was man mal schnell im Vorbeigehen erledigen und „abhaken“ kann. Für viele und auch gerade für mich passt, dieses nur schwerlich in den hektischen Lebensalltag, in dem wir von so vielen Fremdfaktoren beeinflusst sind. Kaum jemand ist Herr seiner Zeit. Den Terminkalender füllen uns andere. Termine, Besprechungen, Gespräche, Sitzungen, Sonderdienste, Überstunden werden uns von „außen“ aufgedrückt.
Jedoch auch das Alleinsein, die Arbeitslosigkeit, Krankheit, Sorgen im Blick auf die Beziehung und Familie – alles das sind Faktoren, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie belasten und rauben uns den Blick und die Zeit für uns selbst, die Familie und für Gott.
Die Zeit der Vorbereitung auf den heutigen Tag war sicherlich auch zunächst so ein, wenn auch „selbst gewählter Fremdfaktor“. Rückblickend war es ein absoluter Gewinn! Eine Chance, sich endlich mal wieder auf das Wesentliche zu besinnen und über mich, meine Familie, meinen Beruf und meinen Glauben nachzudenken.
„Was ist wichtig in meinem Leben?“ … und wie stehe ich zu Gott?
Motivation zum Polizeiberuf
Wenn man heute junge Polizeianwärterinnen und -anwärter nach ihrer Motivation für den Polizeiberuf fragt, antwortet ein großer Teil, dass sie in irgendeiner Form „Menschen helfen“ möchten. Auch bei mir war der Wunsch „aktiv einen Dienst für und mit den Menschen“ auszuüben, ein wesentlicher Faktor für meine Berufswahl...
Viele von Ihnen kennen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Evangelium des Lukas. In dieser bekannten Erzählung im Neuen Testament fordert Jesus den Menschen zur tätigen Nächstenliebe und damit zur aktiven Hilfe, zu Zivilcourage und eben zu diesen „aktiven Dienst für den Menschen“ auf.
Der barmherzige Samariter (Lukas 10/ 25-32)
Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Polizisten – die barmherzigen Samariter? Soweit möchte ich nicht gehen! Doch das, wozu Jesus mit dem Gleichnis aufruft, kann doch Motivation für meinen Dienst als Polizist sein.
Glaube & Polizei
Wie der Volksmund es sagt: „Die Polizei – Dein Freund und Helfer!“ - Die Polizei hilft: Sie hilft Menschen, die in Not geraten sind; hilft, dass die allgemeinen Regeln des Zusammenlebens eingehalten werden; hilft, wenn Gefahr droht. Mein Dienst und der Dienst meiner Kolleginnen und Kollegen, ist im Allgemeinen ganz praktisch darauf ausgerichtet, aktuelle Probleme zu beheben, also konkret zu helfen … im weitesten Sinne ein Akt der Nächstenliebe!
Diese Hilfe nimmt ganz verschiedene Formen an. Wenn wir im Einsatz sind, auf Streife gehen oder einem Anruf nachgehen, sorgen wir nicht nur „für Recht und Ordnung“, wie man so schön sagt, sondern begegnen auch Menschen in ganz verschiedenen Notlagen. Manche fühlen sich nachts auf offener Straße bedroht und andere stören sich zu Recht an dem ständigen Lärm aus der Nachbarwohnung. Und wir sind diejenigen, die bei Unfällen und Katastrophen im Einsatz sind, bei denen auch zufällig beteiligte Menschen Opfer werden. Dort ist die Not dann besonders groß und machte viele von uns einfach sprachlos.
In meiner Funktion als Polizeisprecher heißt es, schnell diese „Sprachlosigkeit“ zu überwinden und sachlich über die Geschehnisse zu berichten. Dieses gelingt gerade dann, wenn man gefordert ist und unter Dampf steht. Doch oft wenn der Stress abfällt, der Einsatz abgearbeitet ist, werde ich nachdenklich und befasse mich auch mit den menschlichen Schicksalsschlägen...
Gottlob ist unser Alltag nicht nur von dramatischen Ausnahmesituationen geprägt. Doch bei der Polizei geht es nicht nur darum, dort zu helfen, wo wir von anderen zur Hilfe gerufen werden. Es geht genauso sehr darum, das tägliche Miteinander in einer Dienststelle zu gestalten. Auch das ist und kann eine große menschliche Herausforderung sein. Man sieht beim ersten Hinschauen oft noch nicht, wo der Schuh eigentlich drückt. Ob sich jemand im Team schlecht behandelt fühlt und daher Gerechtigkeit einfordert. Im Tiefsten seiner Seele einsam ist und auf ein freundliches Wort wartet. An einer Krankheit leidet und Beistand braucht. Gefangen in seinen Ängsten lebt und ein befreiendes Wort nötig hat.
All dies geht leicht im stressigen und anstrengenden Alltag unter. Dabei kann gerade hier, beim nächsten Kollegen, manchmal ein einziges, tröstendes Wort helfen...
Das tägliche Miteinander und die sozialen Bedingungen in der Dienststelle stehen im Vordergrund meiner gewerkschaftlichen Tätigkeit. Hier gilt es sich für die Interessen und Belange der Kolleginnen und Kollegen auch gegen Widerstände einzusetzen und menschenfreundliche Bedingungen zu schaffen und zu erhalten.
„Auch Mensch“ heißt derzeit das Motto einer bundesweiten Kampagne der Gewerkschaft der Polizei gegen Gewalt und Respektlosigkeit. Dabei geht es darum deutlich zu machen, dass sich in der Uniform, ein Mensch, ein Familienvater, eine Mutter, ein Individuum verbirgt. Polizisten sind Menschen wie jeder andere mit Gefühlen, Sorgen und Nöten - mit dem Zusatz, dass wir unter Umständen das Gewaltmonopol des Staats vertreten und durchsetzen müssen.
Gerade vor dem Hintergrund der täglichen Unfälle, Unglücksfälle und Tragödien wird uns im Polizeiberuf aber auch vor Augen geführt, dass das Leben nicht in unserer alleinigen Verfügung steht. Vieles hängt scheinbar von Zufällen und Fügungen ab. Mit zunehmendem Alter habe auch ich erkannt, dass es bei all unserer gut gemeinten Hilfe auch Grenzen des Handels gibt. ...dort ist jemand, der lenkend über uns steht! Das aber ist nicht immer zu sehen und manchmal haben wir den Eindruck, dass wir mit den Nöten und Problemen allein gelassen sind.
Persönlich
Wie weltweit Millionen von Menschen sind meine Frau und ich seit Jahren fasziniert von Margaret Fishback Powers Gedicht „Spuren im Sand“, das uns seit fast zehn Jahren in guten wie in schlechten Zeiten durch unser Leben begleitet.
Es gibt heitere, unbeschwerte Tage, aber auch stürmische Zeiten, in denen man sich einsam fühlt, von Menschen und Gott verlassen. Das bekannte Gedicht fasst diese Erfahrungen für mich auf plastisch besonders eindrucksvolle Weise zusammen. Je nach Lebenslage geben mir die Zeilen Halt, Zuspruch und Trost.
Spuren im Sand
Eines Nachts hatte ich einen Traum:
Ich ging am Meer entlang mit meinem Herrn.
Vor dem dunklen Nachthimmel
erstrahlten, Streiflichtern gleich,
Bilder aus meinem Leben.
Und jedes Mal sah ich zwei Fußspuren im Sand,
meine eigene und die meines Herrn.
Als das letzte Bild an meinen Augen
vorübergezogen war, blickte ich zurück.
Ich erschrak, als ich entdeckte,
daß an vielen Stellen meines Lebensweges
nur eine Spur zu sehen war.
Und das waren gerade die schwersten
Zeiten meines Lebens.
Besorgt fragte ich den Herrn:
„Herr, als ich anfing, dir nachzufolgen,
da hast du mir versprochen,
auf allen Wegen bei mir zu sein.
Aber jetzt entdecke ich,
daß in den schwersten Zeiten meines Lebens
nur eine Spur im Sand zu sehen ist.
Warum hast du mich allein gelassen,
als ich dich am meisten brauchte?“
Da antwortete er: „Mein liebes Kind,
ich liebe dich und werde dich nie allein lassen,
erst recht nicht in Nöten und Schwierigkeiten.
Dort, wo du nur eine Spur gesehen hast,
da habe ich dich getragen.“
Margaret Fishback Powers
Mittlerweile wurde „Spuren im Sand“ (engl. „footprints“) in 30 Sprachen übersetzt. Neben mir schöpfen Millionen von Menschen aus diesem Gedicht Ermunterung, Stärkung, Zuspruch und Trost in allen Lebenslagen.
Die letzten Wochen haben mir mit der Vorbereitung auf den heutigen Tag, durch die bewusste Zeit der Besinnung auf mich selbst, die Familie und den eigenen Glauben persönlich Kraft und Gelassenheit gegeben. Auch wenn ich nur symbolisch „faste“, habe ich mir fest vorgenommen, nicht nur in den nächsten Wochen bis zum Osterfest, mir ganz bewusst Zeit für meine Frau, meine vier Kinder, und für den Glauben zu nehmen.
Vielleicht möchten auch Sie die Passionszeit nutzen, um sich auf Gott und das Wesentliche im Leben zu besinnen. Sie müssen sich ja nicht unbedingt auf eine Rede hier auf der Kanzel vorbereiten... „Lassen Sie sich darauf ein - Es tut sehr gut!“ Amen.