Liebe deinen Nächsten, dann tust du dir selbst etwas Gutes

Bürgerkanzel mit Kinderarzt Dr. Reinhard von Kietzell am 3. März 2013 in St. Nicolai

Lesung aus Matthäus 22, 35-39: Ein Schriftgelehrter fragte Jesus: „Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz?“ Jesus aber sprach: „ Du sollst Gott, deinen Herren, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte: Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Im 15. Kapitel des Johannes-Evangelium gibt Jesus eine Erklärung zu diesem Gebot der Nächstenliebe: „Gottes Liebe kommt zu mir, und ich gebe sie euch weiter…. Meine Weisung an euch aber besteht darin, dass ihr auch die Liebe weitergebt, die ihr von mir empfangen habt.“ (Ü. von J.Zink.)

Liebe Gemeinde, heute ist Bürgerkanzel. Ich habe das Anliegen dieser Reihe von Bürger-Ansprachen so verstanden, dass dabei ein ganz normaler Bürger, der nicht Theologie studiert hat, von seinem Glauben berichten soll. Deswegen möchte ich sagen, wie ich versucht habe Worte aus der Bibel ernst zu nehmen und wie mein Leben dadurch geleitet wurde. Die beiden Worte Jesu, die wir vorhin in der Lesung gehört haben, waren und sind mir besonders wichtig, sie haben mein Denken und Wollen stark beeinflusst. Das gng schon bei der Konfirmation los:

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich so ergriffen war, dass ich mein Leben Gott und dem Heiland Jesus Christus anvertraut habe. Und das wollte ich dann auch leben. Dieser Wunsch hat meine Berufswahl und mein ganzes Leben bis zum heutigen Tag beeinflusst. Ich möchte dies an einigen Beispielen zeigen.

Zuerst ein Beispiel aus meinem persönlichen, privaten Leben: Dass meine Frau und ich uns gefunden und wir geheiratet haben, hatte viel mit unserem Glauben zu tun. Im Ev. des Johannes sagt Jesus: „Meine Liebe annehmen, heißt sie weitergeben“. Schon bevor wir uns kennengelernt hatten, war dies für jeden von uns wichtig gewesen und jetzt wollten wir beide zusammen etwas davon in unserem Leben lebendig werden lassen. Gottes Liebe annehmen und weitergeben. Aneinander und an Menschen, denen wir begegnen. Dieses gemeinsame Ziel haben wir bis heute nicht aus den Augen verloren. Ermutigt durch viele gute Erfahrungen und trotz mancher Enttäuschungen.

Was bedeutet es für mich, wenn ich als Ehemann Jesu Christi Liebe an meine Frau weitergeben will? Paulus schreibt im Epheserbrief: „Ihr Männer, liebt eure Frauen so, wie Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich für sie hingegeben“ (Eph.5,25) Was hat mir dies Wort gesagt, dass ich meine Frau lieben soll wie Christus die Gemeinde? Soll ich mich etwa für sie hingeben? Hingabe ist doch schon lange ziemlich out. Selbstverwirklichung ist angesagt. Ich lernte umzudenken. „Er hat uns zuerst geliebt“, hab ich dabei in meinem Herzen gehört. Und wusste, dass es meine Aufgabe als Mann ist, den ersten Schritt zu tun, die Sprache der Liebe, die meine Frau braucht, immer wieder neu zu lernen und, wenn notwendig, die Versöhnung zu suchen. Und gerade deswegen konnte ich mit dem Erbarmen Jesu eine ganz tiefe Erfahrung machen:

Nach einigen Jahren Ehe merkte ich nämlich, dass zunehmend Sand im Getriebe war. Ich holte immer wieder alte, eigentlich längst vergebene Enttäuschungen und Verletzungen hoch, statt sie in der Vergangenheit zu lassen. So nach dem Motto, jetzt bist du schon wieder so wie damals, du änderst dich auch gar nicht, immer bist du so! Merken Sie, wie das die Zukunft abschneidet? Wie es die Beziehung zerstört? Aber woher die Kraft nehmen, das Alte wirklich loszulassen? Ein Seelsorger hat mir auf den Weg geholfen: Du allein kannst das nicht. Du allein nicht! Aber wenn du Jesus um Hilfe bittest, deine Schwachheit, dein Versagen bekennst und in seinem Namen vergibst, kannst Du seine Kraft erfahren. Ich habe es getan, bin so froh wie selten nach Hause gefahren, und wir hatten so eine tiefe Aussprache mit Tränen und Jubeln… Und lange Zeit später haben wir überrascht gemerkt, dass die Vergangenheit keine Macht mehr hatte.

Und wie steht mit dem Beruf, wie habe ich dort Worte aus der Bibel ernst nehmen können, was habe ich dabei erfahren? Im Krankenhaus geht es doch um Wissenschaft, um ärztliche Kunst und nicht um Glauben. Denken Sie! Es geht eben nicht nur um Wissenschaft, vor allen Dingen nicht in den Grenzbereichen bei ernsthafter Erkrankung, wenn es ums Leben geht und ganz besonders dann, wenn der Kampf verloren ist und der Tod dem Leben ein Ende setzt. Dann geht es vor allem um eines: Um Beziehung, um Mitmenschlichkeit. Und wie man in solchen Situationen Mitmensch ist und als Mitmensch handelt, das hat ganz wesentlich mit dem zu tun, was das eigene Leben ausmacht, mit dem Glauben. 

Ich war in der letzten Zeit einige Male selbst Patient und habe beobachtet, über was die Mit- Patienten so klagen, oder was sie loben. Das hat ganz viel mit menschlichem Umgang und mit Beziehung zu tun. Damit, dass man sich als Person wahrgenommen und geachtet fühlt. Und das erfordert Motivation, Hinwendung und Zeit. Und Motivation bekommen wir von dem, was uns wichtig und wertvoll ist. Das hat ganz viel mit unserem Glauben zu tun.

Paulus gibt im Epheserbrief einen praktischen Tipp, wie wir Jesu Liebe weitergeben können. „Seid aber untereinander freundlich und herzlich UND VERGEBT einer dem anderen, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ Den Anderen auch als Geschöpf, als Mensch sehen, der, wie du selbst, Gottes Erbarmen und Vergebung braucht. Das bringt Motivation sich selbst realistisch zu sehen und den Anderen zu achten. Für mich ist das der wichtigste Schlüssel für gelingende Beziehungen.

Seid untereinander freundlich! Wie gut kann ein freundliches Lächeln tun. Es ist auch Zeichen von Freundlichkeit und Achtung gegenüber dem Patienten ihn geduldig zu informieren über das, was ein Patient jetzt zu erwarten hat, was gemacht wird und was er dabei möglicherweise spüren wird. Freundlichkeit sollte auch bedeuten Patienten nicht unnötig warten zu lassen. Wie viel Sorge kommt sonst in den Patienten hoch, die länger, als sie gedacht haben, warten müssen. Was ist los, stimmt etwas nicht, stimmt etwas mit mir nicht? Angst und Sorge schlagen dann leicht in Unzufriedenheit und Ärger, ja oft in Verzweiflung um. Erst vorgestern hat mir ein Freund erzählt, wie wohl es ihm getan hat, dass ein Arzt so freundlich und zugewandt war, sich genug Zeit für ihn genommen hat und ihm so gut alles erklärt hat, was bei der OP gemacht werden muss. Mein Freund strahlte vor Dankbarkeit.

Einen Patienten wahrnehmen, spüren, dass etwas nicht stimmt mit ihm. Das hat für mich einmal bedeutet, bei einem Jungen zu sehen, dass er ganz traurig war. Ich ließ Visite Visite sein und spielte mit ihm auf dem Flur Fußball. Der Junge strahlte vor Freude…. Das hat mir eingebrockt, dass ich jetzt ehrenamtlich im Kinderhospiz tätig bin. Denn die Schwester, die mich damals begleitet hat, hat sich dies Fußball-Spielen gemerkt hat. Später hat sie das Hospiz gegründet und mich dazu geholt sobald ich frei war.

Seid untereinander freundlich! Das gilt aber auch umgekehrt für das Verhältnis der Patienten zu ihren Pflegenden und Ärzten. Auch die Schwester, der Pfleger, die Ärztin, der Arzt brauchen Freundlichkeit und Anerkennung. Jeder Mensch braucht sie.

Weil Jesus unsere Bedürfnisse kennt, ermutigt er uns: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Ich übertrage diese Ermutigung folgendermaßen: „Liebe deinen Nächsten, dann tust du dir selbst etwas Gutes“. Dies kann heißen: Beachte deinen Nächsten, wende dich ihm zu, widme ihm Zeit und sprich freundlich und ehrlich mit ihm, dann tust du ihm und dir selbst etwas Gutes. Ich habe es oft genau so erlebt.

Ja geht das denn so einfach in all dem Stress? Immer wieder stößt man an Grenzen. es geht nicht immer, aber manchmal ist es doch einfacher, als man befürchtet: Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Im Süd-Sudan stand ich so unter Strom, hatte so viel Misserfolge, so viele Kinder starben mir unter den Händen, die Nerven waren angespannt bis zum geht nicht mehr. Und dann bin ich ausgerastet. Ich habe William, einen afrikanischen Pfleger angebrüllt: „Das ist ein Notfall!“, damit er in die Puschen kommen sollte. Brüllen geht dort in diesem Land überhaupt nicht. Wumm, das hat gesessen. Nicht nur bei ihm, auch bei mir. Was habe ich da getan! Das ist doch ganz unmöglich! Was tun? Ich habe sofort vor allen anderen um Vergebung gebeten, dabei aber im Stillen gezweifelt, dass William mir verzeihen würde. Die Bloßstellung war einfach zu heftig. Doch William ist Christ. Er war bereit dazu und nach einer Weile konnten wir uns umarmen und gegenseitig trösten. Danke William. Danke Jesus, Du Friedensstifter.

Freundlichkeit und Herzlichkeit brauchen, kosten aber Zeit. Hektik und rasch-rasch-rasch sind die reinsten Beziehungskiller. Leider geht es heutzutage in Krankenhäusern immer hektischer zu. Erfahrene Schwestern und Pfleger lassen sich von Brennpunkten auf ruhigere Posten versetzen, weil die Anspannung auf die Dauer einfach zu viel wird. Andere sagen: „Ach, es ist nicht mehr so wie früher, wir haben keine Zeit mehr für die Patienten.“ Psychische Erkrankungen nehmen erschreckend zu.

Und aus der Verwaltung heißt es: „Wir müssen sparen!“ Dabei bin ich unserer Stadtverwaltung dankbar, und wir müssten das alle sein, dass unser Krankenhaus nicht an einen privaten Investor verkauft worden ist, sondern in eine gemeinnützige Gesellschaft umgewandelt wurde. Jetzt müssen wir wenigstens nicht auch noch die Rendite von Investoren erwirtschaften. Trotzdem ist auch in Lüneburg das Geld knapp. In England habe ich etwas kennengelernt, was vielleicht helfen könnte, die Charity Organisations. Das sind Wohltätigkeitsvereine, die von Spenden der Bürger getragen werden. Ich habe dort die Intensivstation einer Kinderabteilung besucht und gestaunt. Die ganze Ausrüstung war von der Charity angeschafft worden. Das heißt für uns zuerst: Wir müssen lernen, dass es unser Krankenhaus ist. Finanziell gehört es der Stadt. Und wer ist die Stadt? Wir alle. Wir alle sind mit verantwortlich dafür, dass das Krankenhaus so ist, wie wir es uns wünschen.

Und wir müssen lernen dankbar zu sein. Dankbar für alles, was dort geleistet wird. Wenn es nötig ist, auch für Sie und für mich. Medizin auf ganz hohem Niveau. Tag und Nacht, wochentags, Sonn- und Feiertags. Von der Intensivstation für kleinste Frühgeborene bis hin zu den Kliniken für die Behandlung von Erwachsenen und Senioren. Danke für alle Angehörigen, die oft wunderbar mithelfen, für alle ehrenamtliche Arbeit, für die grünen Damen, die Seelsorgerinnen und Seelsorger und die Gottesdiensthelfer. Und wir dürfen uns anstecken lassen und bei ehrenamtlicher Arbeit mitmachen. Wir leben auf dem Gebiet der Krankenfürsorge in einem Paradies. Meine Zeit im Süd-Sudan hat mir dies wieder extrem deutlich gemacht.

Lohnt sich der Einsatz, für Kranke, für Sterbende, oder auch für Menschen mit Behinderung. Ich sage uneingeschränkt JA. Gerade auch deswegen, weil ich beides erfahren habe: das, wie ich mich gefühlt habe, wenn ich versagt habe und im Gegensatz dazu, welche Freude ich erlebt habe, wenn es mir gelungen ist. Jesus hat uns versprochen: „ Meine Liebe annehmen heißt, sie weitergeben. …Ich sage euch das, damit eure Freude reich und vollkommen sei“. Er will uns mit diesem Gebot der Nächstenliebe eine Tür zu tiefer Freude öffnen. Und das ist meine Erfahrung. Was habe ich für Freude und Glück erleben dürfen! Bei der Visite im Neugeborenenzimmer. Dieses Wunder, dass JACHWE, der Gott, unser Schöpfer, der unser Vater ist, einen neuen Menschen wunderbar im Leib seiner Mutter bereitet hat. Diesen Menschen anschauen zu können, zu untersuchen und dann einer strahlenden Mutter in den Arm legen zu können: Ja, du kleiner Mensch, du bist gesund und ich wünsche Dir und Deiner Mutter, Deiner Familie ein gesegnetes Leben. Oder das Glück, Eltern bestätigen zu können, ja euer Kind gedeiht wunderbar. Oder Eltern voller Angst um ihr krankes Kind beistehen zu können, bei ihnen zu sein, ihnen Hoffnung zu machen, zu spüren, wie ihre Angst langsam nachlässt.

Dann aber auch JA trotz aller Niederlagen und trotz allen Leides, wenn wir mit unserer Medizin am Ende sind. Trotz des Sterbens und des Todes, dem wir Ärzte immer wieder begegnen, und dem ich in meinem Tun im Kinderhospiz immer wieder ausgesetzt bin! Welche tiefen Beziehungen habe ich dort schon geschenkt bekommen!

JA, denn unsere Mitmenschen und wir selbst brauchen Zuwendung, Freundlichkeit, Anteilnahme, Unterstützung, tiefe Beziehungen wie das Wasser zum Leben. JA, auch wenn ich angesichts des Leides auf die bohrende Frage nach dem „WARUM“ keine Antwort habe. Außer dem stillen Gebet: „Jesus, ich glaube DIR, denn DU kennst das Leid der Welt. Ja, DU hast unser Leid und unsere Schmerzen getragen“.

„Und DU hast uns das Evangelium von der Liebe Gottes gebracht und bezeugt bis zu Deinem Tod am Kreuz und bist auferweckt worden und regierst zur Rechten des Vaters in Ewigkeit. Entzünde DU in uns das Feuer Deiner Liebe. Mach uns jeden Tag neu bereit Deine Liebe weiterzugeben, damit Dein Wille geschieht, damit Dein Reich unter uns lebendig ist und Dein Name geheiligt wird. Amen.