Wie werden wir frei?

Kanzelrede von Dr. Steffi Hobuß am 16. September 2018 in St. Nicolai, Lüneburg. Dr. Steffi Hobuss ist Philosophin und akademische Leiterin des Leuphana College an der Leuphana Universität Lüneburg.

Lesung aus dem 12. Kapitel der Apostelgeschichte, Verse 1-11:

Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln. Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert. Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote.

Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Wachen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen. So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.

Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!

Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen. Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel.

Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.

Der Text, den wir als Predigttext eben gehört haben, ist eine starke Befreiungsgeschichte. Die junge christliche Gemeinde befindet sich in einer Situation realer Bedrohung. Einige Menschen aus der Gemeinde werden gefoltert, Jakobus wurde ermordet. Jetzt wird auch Petrus im Gefängnis festgehalten. Seine Situation wird hier sehr drastisch und konkret beschrieben: Er wird massiv bewacht, von vier Wachen aus jeweils vier Soldaten. Dann kommt die Nacht, bevor ihn Herodes vorführen lassen will.

Ich möchte Sie gern zu einer kurzen Imagination einladen: Versetzen Sie sich einmal in die Lage von Petrus. Sie sind in einer ausweglosen Situation. Rechts und links von Ihnen sind Soldaten als Bewacher, Sie sind gefesselt mit zwei Ketten, hinter dicken Türen, vor denen weitere Bewacher stehen. Stellen Sie sich das mal vor. Da ist keine Bewegung möglich, keine Hoffnung. Kein Licht, es ist dunkel. Nichts ist in Aussicht, was irgendwie helfen könnte. Kennen Sie das, die Situation ist so ausweglos, dass alles keinen Zweck mehr hat, alles fühlt sich erstarrt an, man kann nichts machen. Oder vielleicht gibt es so überwältigend viele Sorgen oder soviel zu be-sorgen, zu erledigen, dass es mich einengt und ankettet und fesselt. Ich bin komplett lahmgelegt. Nirgendwo eine Richtung, in die ich mich noch bewegen könnte.

Und jetzt geht es in der Geschichte weiter. Ein Engel kommt in die Zelle des Petrus, und Licht leuchtet im Raum auf, es wird ganz hell. Der Engel blickt auf Petrus, und versetzen Sie sich bitte auch einmal in die Perspektive des Engels: Sie kommen in diese Gefängniszelle, eingebettet in die Kraft und das Licht Gottes. Stellen Sie sich vor, Sie fühlen Gott in Ihrem Rücken, stark und kraftvoll. Und von Ihnen strahlt Kraft und Wärme aus. Und Sie sehen dort den schlafenden Petrus liegen. Der hat noch gar nicht mitbekommen, was gerade passiert. Er schläft weiter, zwischen den Soldaten, hat das Licht noch gar nicht bemerkt. Petrus braucht einen Anstoß, womöglich einen richtigen Tritt in die Seite, nicht besonders sanft ist das. Erst dadurch wird Petrus geweckt. Sie sagen zu ihm: Los, werde schnell wach! Und Sie sehen, wie die Ketten von seinen Händen abfallen. Da bewegt sich etwas, Petrus kann sich wieder bewegen, streckt seine Glieder.

Soweit der erste Teil der Erzählung. Aber Sie sind nicht Petrus und auch nicht der Engel Gottes. Wenn Sie mögen, können Sie sich im Stillen Ihren Namen sagen: „Ich bin – und dann Ihren Vornamen und Nachnamen -, ich bin nicht Petrus und nicht der Engel. Aber ich habe gesehen und gefühlt, was da geschehen ist.“

Wir, die heutige Gottesdienstgemeinde, sind nicht buchstäblich im Gefängnis. Wir sind, anders als die junge christliche Gemeinde, von der Lukas erzählt, in einer Situation, in der wir unsere Meinung und unseren Glauben ziemlich frei äußern und ausüben dürfen, Gott sei Dank. Aber das ist auch heute nicht überall in der Welt und auch hier nicht für alle Menschen gleichermaßen so, unsere Freiheit ist ein Privileg. Ende Juli habe ich im Rahmen einer Aktion vom Amnesty International eine Postkarte an Taner Kilic geschrieben, der in der Türkei wegen seines Einsatzes für Amnesty und die Menschenrechte inhaftiert war. Zum Glück kam er am 15. August wieder frei. In solchen Fällen muss dafür gesorgt werden, dass unschuldig inhaftierte politische Gefangene freigelassen werden, und es ist gut, klare Worte auszusprechen. Und zum anderen ist es auch wichtig, dass der Inhaftierte erfährt, dass andere Menschen an ihn denken, dass seine Arbeit nicht umsonst war, dass er nicht vergessen ist. Das ist genauso wichtig.

Jetzt können wir Gefangenschaft und Befreiung in zweierlei Hinsichten verstehen: Einmal wie in der Imagination am Anfang, in der existentiellen Dimension. Das kennen wir, auch wenn wir noch nie im Gefängnis waren. Das Gefühl, gefangen oder gefesselt zu sein von den Anforderungen, von Problemen, oder vor Angst ganz starr zu sein, oder auch vor lauter Vorurteilen. Die andere Hinsicht ist die buchstäbliche Gefangenschaft, und das betrifft dann die politische Seite.

Auch heute gibt es Machtpolitiker, die wissen, wie man Konflikte ausnutzt. So macht es Herodes, der die Gunst der Mehrheit seiner jüdischen Untertanen behalten will. Er nutzt die kleine Gruppe der ersten Christen als Spielball für seine Zwecke. Das ist Instrumentalisieren, das ist das Schüren von Angst,  Populismus und Rassismus machen das heute auch. Petrus ist Teil der Minderheit, gegen die gerade Stimmung gemacht wird und bekommt die Konsequenzen am eigenen Leib zu spüren. Aber die scheinbare Allmacht der Machtpolitiker und Hassprediger kann gebrochen werden, das erzählt die Geschichte auch!

Im Text aus der Apostelgeschichte erscheint ein Engel, um Petrus zu befreien. Wenn wir uns heute politisch für die Menschenrechte und für unschuldig Inhaftierte einsetzen, nehmen wir Verantwortung für andere wahr. In beiden Verständnissen von Gefangenschaft, dem existentiellen und dem politischen, braucht es zur Befreiung die oder den anderen. Und auch wenn es darum geht, jemandem Hoffnung und Mut zu geben, der seine Situation für hoffnungslos hält und sich gar nicht mehr rührt. Immer brauchen wir ein Gegenüber, brauchen wir eine oder einen anderen, die/der uns aufweckt, aufruft, Hoffnung macht, uns befreit: Wach auf! Steh schnell auf! Gürte dich und zieh deine Schuhe an!

Was versklavt uns heute? Und wie werden wir frei davon?

In meiner Arbeit am Leuphana College denken wir auch viel über die Freiheit nach. Wie kann universitäre Bildung dazu beitragen, dass sie Freiheit ermöglicht und  vergrößert? Wir sprechen mit einem englischen Ausdruck von „liberal education“, das bedeutet, dass die Studierenden möglichst viele Freiheiten haben. Freilich nicht die Freiheit von Anwesenheit oder Vorbereitung oder Verantwortung, sondern eine viel wichtigere: die Freiheit zur Auswahl bestimmter Studienrichtungen, Inhalte und bestimmter Veranstaltungen, die Freiheit zur Kombination unterschiedlicher Inhalte, in großer Breite oder in konzentrierter Vertiefung.

Bildung allein trägt aber nicht automatisch dazu bei, dass wir eine freiere Gesellschaft haben, in der Menschen weniger Zwängen ausgeliefert sind und es weniger Willkürherrschaft gibt. Es wäre ein Fehler zu denken, wir könnten Freiheit einfach herbeiführen, wenn wir nur alles richtig machen. Dann besteht die Gefahr, dass wir größenwahnsinnig werden und denken, mit dem richtigen Studium (oder  mit großer Anstrengung oder mit viel Geld) könnten einzelne Menschen die Welt befreien. Mir kommt es so vor, dass in unseren Bildungseinrichtungen allzu oft das Bild der exzellenten Einzelkämpfer vermittelt wird, die aus sich selbst heraus alle Chancen richtig nutzen sollen.

Aber kein einzelner Mensch und auch keine Gruppe kann Freiheit einfach beschließen oder machen. Wirkliche Freiheit bekommen wir immer wieder geschenkt. Immanuel Kant und weitere Philosophen haben gesagt: Für wirkliche komplette Freiheit kann man nicht einmal Beispiele geben; wirkliche Freiheit kann gar nicht komplett im menschlichen Leben realisiert werden. Und trotzdem haben wir diese Idee der Freiheit, an der wir unser Leben messen können.

Und ganz grundsätzlich sind wir zutiefst abhängig von anderen. Wir sind von Gott auf Gemeinschaft hin angelegt. Menschlich zu sein bedeutet, verletzlich und ausgeliefert und abhängig zu sein, auch wenn wir uns das nie willentlich so ausgesucht haben. Die Philosophin Judith Butler sagt im Anschluss an Hannah Arendt:

„Ungewollte Nähe und nicht gewähltes Zusammenleben sind […] Vorbedingungen unserer politischen Existenz“. Wir leben mit denen zusammen auf der Erde, „die wir uns nie ausgesucht haben und deren Sprache nicht die unsere ist“; wir befinden uns schon „in Händen des Anderen […], noch bevor wir eine Entscheidung darüber treffen, mit wem wir zusammenleben wollen. […]

Von Anfang an sind wir also an jene gebunden, die sich gar nicht so einfach als Angehörige der ‚eigenen Gemeinschaft‘ identifizieren lassen, die wir nicht kennen und die wir uns nicht ausgesucht haben, deren Namen vielleicht schwer zu behalten oder auszusprechen sind, deren Alltag ein ganz anderer als unserer ist.“ Der Sinn meines Lebens liegt immer im sozialen Leben.

Ich mag die Figur des Petrus in den biblischen Erzählungen besonders gern; viele der erzählten Situationen gehen mir schon immer besonders nahe. Ich finde es sehr menschlich, wie Petrus immer wieder voller Gewissheit und in großer Selbstüberschätzung Jesus verspricht, immer und überall zu ihm zu halten, ihn zu verteidigen, wie er sich ganz aufrichtig an Jesus binden will. Er sagt Jesus zu, ihn nie zu verleugnen, er sei bereit, mit ihm ins Gefängnis und sogar in den Tod zu gehen.

Das sind starke Worte. Petrus möchte so gern stark und selbstmächtig sein.

Und ich finde immer wieder bewegend, wie ihm das wiederholt nicht gelingt. Wenn Petrus merkt, dass er Jesus verleugnet hat und die Selbstüberschätzung in große Beschämung und Trauer umkippt. Wenn er darüber bittere Tränen vergießt. Diese Momente erinnern daran, dass Selbstüberschätzung keine gute Ratgeberin ist.

Wie geht die Geschichte weiter? Lukas erzählt, dass (ein bisschen wie bei den Postkarten an Taner Kilic) die Gemeinde für Petrus gebetet hat. Die Gemeinde hält am Gebet fest, obwohl die Situation hoffnungslos aussieht. Im Text steht da ein ganz schlichter Satz, „sie betete für ihn zu Gott“. Da werden gar keine konkreten Inhalte oder Wünsche berichtet, einfach die simple Tatsache. Das ist ein Weg, der weder den anderen noch Gott vereinnahmt. Mit Vereinnahmung lässt sich auch sicher keine Befreiung herbeiführen. Das ist wieder der Hinweis darauf, dass wir Freiheit nicht machen können. Die Gemeinde ist offen für Gottes Weg mit Petrus, sie hält die Hoffnung auf Befreiung aufrecht.

Petrus, der sich so gern selbst überschätzt hat, ist in der Erzählung im Gefängnis gelandet. Und jetzt ist er ganz tief in die Unfassbarkeit seiner Gefangennahme und die Hoffnungslosigkeit verstrickt. So tief, dass er die Veränderung, die Ankunft des Engels, ohne einen externen Anstoß – ganz buchstäblich – gar nicht wahrnimmt. Er merkt zuerst gar nicht, dass seine Befreiung bevorsteht. Er braucht den Stoß in die Seite. Ein vielleicht sogar schmerzhafter Tritt zerreißt den Zustand des Gefangenseins. Aus eigener Kraft wäre das nicht zu schaffen. Gerade dem Petrus, der sich immer gerne zu viel zugetraut hat, wird gezeigt, dass wir uns nie aus uns selbst heraus befreien können.

Zunächst ist Petrus noch wie in Trance. Er ist aufgerüttelt, sein in-Sich-Verschlossensein ist durch die Zuwendung des Engels geöffnet worden. Petrus folgt ihm, an den Wachen vorbei und durch ein Tor und eine Straße entlang. Erst hinter dem äußeren Tor verlässt ihn der Engel wieder. Dann kommt Petrus wieder zu sich, findet sich wieder.

Und dann geht er los und erzählt von seinem Befreiungserlebnis! Er schließt sich wieder an die Gemeinschaft und an die Kommunikation an. Er sucht das Haus auf, in dem sich viele aus der Gemeinde befinden. Die Magd an der Tür freut sich so, dass sie ganz vergisst zu öffnen, sondern sich sofort umdreht und zu den anderen läuft. Da ist ganz viel Bewegung drin, ganz viel Lebendigkeit, ganz viel Freiheit.

Keiner kann sich alleine befreien, das erzählt die Geschichte. Wir tragen Verantwortung für einander und dafür, uns gegenseitig wachzurütteln und an die Hoffnung auf Befreiung zu erinnern.

Wach auf! Steh schnell auf! Gürte dich und zieh deine Schuhe an!

Amen.