Es sind neun Stufen hier herauf. Das sind für mich, der es als Kulturbeschreiber gewohnt ist, das Geschehen aus Reihe 9 oder 19 zu verfolgen, keine so ganz leichten Stufen. Aber nun stehe ich hier, und den Martin Luther, den ich damit zitiere, den wollte ich eigentlich raushalten aus meinem Bürgerkanzel-Beitrag. Es ist in diesem Jahr ja denn doch eine gewisse Überlutherung zu spüren. Aber ohne Luther wird das nichts, denn ihm wird ja eine der wichtigsten Dienstanweisungen für Journalisten zugeschrieben: „Tritt fest auf, mach´s Maul auf, hör bald auf!“
Morgens, wenn der Arbeitstag beginnt, fahre ich den Rechner hoch und schaue, wie sich die Welt präsentiert.
Deutsche Presse Agentur, Freitag, 1. Dezember, eine Auswahl:
- 6:49 Uhr: Börsenanleger im Kaufrausch
- 7:14 Uhr: Peking vertreibt 10 000 Wanderarbeiter
- 7:32 Uhr: Zunahme bei jugendlichen Komasäufern
- 7:57 Uhr: Mönch aus Tibet zündet sich an
- 8:03 Uhr: Kind bewusstlos gewürgt
- 8:37 Uhr: Priester in Sizilien wegen Missbrauchs Minderjähriger festgenommen
- 8:52 Uhr: New York bleibt angesagteste Metropole für Weihnachtsshopping und kurz darauf
- 9:16 Uhr: 8,5 Millionen Menschen in Äthiopien haben nicht genug zu essen
Herrgottnochmal! Wie soll man denn diese Welt ertragen!?! Das sagt sich so dahin. HerrGottnochmal. Dieses HerrGottnochmal, das heute fast jeder gedankenlos in emotional aufgepeitschter Situation hervorstößt, das birgt in sich einen Zorn, eine Wut und auch eine Verzweiflung über eine Welt oder über eine Situation, die doch nicht so sein darf, wie sie offensichtlich ist. Dieses Herrgottnochmal aber, es besitzt keinerlei Bezug mehr zu dem im Wort Genannten. Manche sagen auch: ZumTeufelnochmal und meinen doch nichts anderes.
Die Nachrichtenlage ist bitter, keine Frage, und das Elend im Großen wie im Kleinen, bei den Mächtigen wie den Ohnmächtigen ist offenbar ohne Ende. Ist das so? Eine Presseagentur und Journalismus generell folgen sicher einem spezifischen Blick auf die Welt.
Journalisten filtern Themen nach einer Methodik, die sich in einem einzigen Satz bündelt: Hund beißt Mann — keine Nachricht! Mann beißt Hund — Nachricht! Das Prinzip folgt unseren erfolgreichsten Urlaubserzählungen: Spannend ist doch nicht, dass der Himmel blau, das Meer warm, die Kirche schön, das Essen lecker war, sondern dass der Mietwagen weitab in den Bergen seinen Geist aufgab, es ausgerechnet in dem Moment donnern, blitzen, hageln musste und das Handy natürlich keinen Empfang hatte. Dann stehen wir da und zetern, schreien, fluchen: HerrGottzumTeufelnochmal.
Gott und auch der Teufel sind zum Teil einer Alltagskultur geschrumpft, sie tauchen als Floskel auf, als Relikt einer Tradition, und es wäre schon ein Krampf, dieses Herrgottnochmal als eine Art Bekenntnis zu irgendetwas im Kontext Glauben oder Kirche zu interpretieren. Meine Generation, die keinen Krieg erlitten hat und keinen Hunger, die lebt wie die Maden im Speck der Welt, wozu brauchen wir denn da noch einen Glauben? Wir haben genug zu tun mit unserem Wohlstand und seiner Verwaltung.
Das war einmal anders. Als ich in dieser Kirche einen Gottesdienst besuchte, um zu hören, was denn bei einer Bürgerpredigt so gesprochen wird, habe ich im Anschluss noch im Gesangbuch geblättert und bin auf ein vertrautes Lied gestoßen, aus dem Jahr 1622, geschrieben von Friedrich Spee: „Oh Heiland, reiß die Himmel auf“. Es erinnert mich daran, dass all das Leiden an einer Welt natürlich ein altes ist. Aber es zeigt mir zugleich, dass bei allem Leiden die Menschen früher nicht so ins Leere liefen wie wir heute.
Blenden wir zurück, rund 400 Jahre. 30-jähriger Krieg, Mord, Vergewaltigung, Folter, Brandschatzerei, religiöser Fanatismus, Epidemien, Seuchen, Ruhr und Beulenpest. Und es ist noch schlimmer. Mittendrin steht Friedrich Spee, er schreibt: „Gar viel, ja unzahlbar viel, werden unschuldig gefoltert, gepeiniget, gereckt, gegeißelt, geschraubet und mitt newer grausamen unmenschlichen marter ubernommen.“ Friedrich Spee spricht über Frauen, die im Namen der Kirche als Hexen gebrandmarkt und brutalstmöglich gemordet wurden. Es ist schon beim Lesen nicht auszuhalten, was Friedrich Spee weiter beobachtet hat und aufschreibt. Aber immer vertraute er trotz alledem einer größeren und heilenden Kraft, fühlte er sich aufgehoben über das nackte Leben hinaus.
(Spee, das nebenbei, war Jesuit, also einer aus der Speerspitze der Gegenreformation; er war zugleich scharfer Kritiker seiner Kirche, und sein Lied hat es ja ins evangelische Gesangbuch geschafft. Luther, auch das nebenbei, hat sich in Sachen Hexen alles andere als vertretbar geäußert)
Friedrich Spees Herrgottnochmal ist eben ein anderes als das sinnentleerte Herrgottnochmal heute. Spee bündelt seine Welterfahrung in diesem Lied, das wir heute im Advent singen:
O Heiland, reiß die Himmel auf/ herab, herab vom Himmel lauf; / reiß ab vom Himmel Tor und Tür, / reiß ab, wo Schloss und Riegel für.
Den Blick eines Journalisten auf diese mit geradezu lutherischer Sprachmacht geführte Klage wirft Heribert Prantl Weihnachten 2016 in der Süddeutschen Zeitung. Sie können es im Internet bei Wikipedia nachlesen: „Das Lied ist kein Klingeling. Es ist der bittere Ruf nach Gerechtigkeit, es ist die Klage darüber, dass Weihnachten nicht kommt, obwohl es im Kalender steht. Die Klage legt die Enttäuschung frei und bricht der Sehnsucht Bahn.“
Friedrich Spee formuliert immer wieder seine Verzweiflung an der Welt. Er fragt in seinem Lied: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt“, er klagt: „Hier leiden wir die größte Not“ und endet mit einem Hauch von Hoffnung: “Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland.“
Diese für Spee selbstverständliche Verankerung, dieses Vertrauen in etwas, das über unsere Hatz nach Erfolg und Genuss hinausgeht, ist heute weitgehend verloren gegangen. Das hat viele Gründe, sie sprengen den Rahmen.
Ich kann diese schleichende Entfremdung von der Selbstverständlichkeit, in einem Glauben verwurzelt zu sein, in der eigenen Familiengeschichte nachmalen. Da sieht die Lockerung der Kirchenbindung so aus: Mein Großvater mütterlicherseits war nebenan in St. Michaelis Kirchenmusiker, der Großvater väterlicherseits Domprediger in Güstrow, solange die Nazis ihn ließen. Mein Vater war Lehrer und nebenberuflich Organist, ein Onkel Orgelbauer auf Gotland. Meine älteren Schwestern singen im Kirchenchor. Ich bin gottseidank immerhin Mitglied der Kirche und habe mein persönliches Beten nicht verlernt.
Zu den Gemeinsamkeiten von Kirche und seriösen Medien gehört in diesem Zusammenhang eine ganz simple Tatsache: Es kommen uns die Abonnenten abhanden. Viele Zeitungen rutschen in die Existenzkrise, Kirche kämpft darum, noch Volkskirche zu sein. Deutsche Presse Agentur, 21. Juli: „Den großen christlichen Kirchen gingen 2016 mehr als eine halbe Million Menschen verloren.“ Ein Prophet meiner jungen Jahre, John Lennon, fragte schon 1966 bekannt provokant: „Ich weiß nicht, was zuerst vergehen wird; der Rock’n’Roll oder das Christentum?“
Was tun?
Vor einigen Tagen, am 12. November, zitiert die Deutsche Presse Agentur Heinrich Bedford-Strohm, den Vorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschland. Er sagt über junge Menschen: „Sie haben nichts gegen die Kirche, sie finden ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit und Frieden sogar gut und richtig.“ Das sei für sie aber kein Grund, sich in der Kirche zu engagieren. Die Suche nach Sinn, Glück und Identität verbänden junge Leute nicht mehr mit Religion.
Der Bedarf an Spiritualität aber sei da, da könne Kirche ansetzen. Die Evangelische Kirche, so Bedford-Strohm, „will junge Gläubige im digitalen Raum gewinnen“.
Ob Spiritualität im digitalen Raum zu finden ist? Da habe ich meine Zweifel. Allein der Kirchenraum könnte doch viel mehr leisten. Und es gibt da diese andere, diese klingende Kraft, die viel, viel weiter als der digitale Raum wirkt.
Die Musik und gerade die der Kirche ist ein großer Mutmacher, ein großer Tröster; eine Kraft, die das Fühlen und Denken durchdringt, mit einer Sprache, die Alltag meint und zugleich viel mehr. Die Kirchenmusik öffnet mir und ich glaube, sehr vielen Menschen, den Weg ins Innere und zum Bewusstsein, dass da mehr ist als die reine, kalte Nachrichtenlage. Ich bin mit Johann Sebastian Bachs Musik aufgewachsen, habe in Hippie-Jahren versucht, sie abzustreifen, aber aller Widerstand war zwecklos.
Ich kann dazu einen Nobelpreisträger zitieren. Bob Dylan äußert sich ja gern kryptisch, aber hier deutlich: „Ich finde Religiosität und Philosophie in der Musik. Ich finde sie nirgendwo sonst.“ Und frage man ihn nach Gott, sei sein erster Impuls, auf die alten Lieder zu verweisen, die für ihn eine Art Gebetbuch seien.
Hier muss, ich kann nicht anders, nun natürlich nochmal Vertrautes von Luther folgen, der bekanntlich gleich nach der Theologie der Musik die zweite Hauptrolle zuweist. Die Musik sei ein wirksames Mittel gegen „Zorn, Zank, Hass, Neid, Geiz, Sorge, Traurigkeit und Mord“, sie verjage den Teufel und mache die Menschen fröhlich.
Da ist es natürlich wunderbar, dass heute eine Kantate aus der Bach-Familie erklingt: Mache dich auf, werde Licht! Schön, dass eine Truhenorgel eingeweiht wird, und ideal, dass die Losung des Tages heißt: „Singet dem Herrn ein neues Lied.“
Da könnte ich nun enden, aber: Die Musik ist, wie Heribert Prantl zu Friedrich Spee sagt, kein Klingeling. Der Jazz- und Kirchenmusiker Daniel Stickan, hier im Haus stark verankert, hat in einem Gespräch betont, Kirchenmusik müsse mehr sein als Wohlklang, mehr als ein ästhetisches Erlebnis.
Daniel Stickan und nicht nur er zeigt in vielen Projekten, wie sich Kirche, Musik und Inhalt zeitgemäß verbinden lassen. Musiker wie Stickan schaffen Denkanstöße und Sinneserlebnisse, die im digitalen Raum kaum zu finden sein werden. Zum Beispiel mit der Jazz- und Theologiereihe „Lebensklänge“. Stickan zeigt wie andere natürlich auch, wie sich Kirche und neue Kirchenmusik dem Geist der Zeit stellen, sich aber nicht anbiedern. Das schlimmste Lied für mich in jungen Jahren war der einzige Kirchenhit, der es in die Hitparaden schaffte: „Danke“. Kirchenpop!!! Das ging gar nicht. Wir Kinder der Beatles und der Rolling Stones schüttelten die gerade wuchernde Mähne. Zugegeben: Die Haare sind längst weg, das Lied ist immer noch da.
Hör bald auf!: Muss eine Predigt eine Botschaft haben? Das steht mir ja gar nicht zu, aber eine kleine hätte ich doch. Sie kommt natürlich nicht von der Deutschen Presse Agentur. Sie hat nur drei Worte. Der Sopran, der im Weihnachtsoratorium lange nicht so fürchterlich viel zu tun hat, singt sie in wenigen Tagen wieder: Fürchtet euch nicht! Das mag banal sein, aber es steckt für mich alles drin, um dieses Leben und diese Welt in ihrer unendlichen Komplexität zu lieben. Fürchtet euch nicht! Diese drei Worte bergen doch eine Verpflichtung: nicht abwarten, sondern tätig sein, Vertrauen suchen, Vertrauen finden.
Tritt fest auf! Heribert Prantl zu Friedrich Spee: „Er konnte den Terror nicht stoppen; aber er konnte tun, was ein Einzelner tun kann: ihn anklagen. Er wurde zum Widerständler, zum Whistleblower des 17. Jahrhunderts.“
Friedrich Spee fürchtete sich nicht. Er macht’s Maul auf, sagt: Herr Gott, noch einmal muss ich es sagen, und er singt, womit ich dann wirklich aufhöre:
O klare Sonn, du schöner Stern,
dich wollten wir anschauen gern;
o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein
in Finsternis wir alle sein.
Hans-Martin Koch