Achtsamkeit, Toleranz, Mäßigung und Wohlwollen

Der Leitende Oberstaatsanwalt Gerhard Berger, Chef der Lüneburger Anklagebehörde, sprach am Zweiten Advent, 8. Dezember 2019, in der Reihe "Bürgerkanzel in St. Nicolai Lüneburg".

Die Bibel ist aktuell, sie ist „up to date“! In der eben verlesenen Epistel zum heutigen Adventssonntag haben wir die praktische Anweisung gehört: „Seufzt nicht widereinander, damit ihr nicht gerichtet werdet. Siehe, der Richter steht vor der Tür.“ Damit fordert uns Jakobus auf, in der Zeit bis zum Kommen des Herrn geduldig zu sein. Jakobus sagt: Macht euch das Leben nicht gegenseitig schwer, sucht euer Recht nicht im Streit.

Weshalb ist das nun so aktuell? Als Beleg möchte ich Beispiele aus meinem beruflichen Alltag anführen. Große Teile der zivilisierten Menschheit haben es offensichtlich verlernt, das gegenseitige Seufzen – Seufzen im Sinne von Klagen oder Beschimpfen – zu unterlassen. Dabei kann es jeden treffen. Fast jeder hat ein Handy, und es gehört heute wohl schon für viele zum täglichen Leben, seinen Nächsten in irgendwelchen Benutzergruppen niederzumachen. Die Hetze im Netz fängt in der Schule an, wenn Mitschüler bösartig gemobbt werden, und hört bei den sog. Prominenten aus der Welt des Showgeschäfts, des Sports und der Politik noch längst nicht auf. Die Folgen für die Opfer können schwerwiegend sein. Jugendliche können durch die Verbreitung unvorteilhafter Fotos noch Jahre später Nachteile im beruflichen Fortkommen erleiden; manchmal führen sie betreffende Chatverläufe sogar zu einer Traumatisierung. Personen des öffentlichen Lebens werden mit unangebrachten Nazi-Vergleichen oder üblen Beschimpfungen in widerwärtiger Weise massenhaft beleidigt. Fast jeder Bürgermeister oder Landrat kann ein Lied davon singen.

Ich verstehe die Botschaft von Jakobus als Mahnung, die Verbreitung von Unmutsäußerungen über soziale Netzwerke ganz einfach zu unterlassen. Damit verbunden ist für den Gläubigen die Vorstellung, dass Christus die Gründe, die heute vielleicht sogar berechtigten Anlass für Unmut geben, zu gegebener Zeit zurechtrücken und klarstellen wird.

Das bedeutet aber nicht, dass wir bis dahin die Zeit des Wartens mit Untätigkeit verbringen sollen. Um dem „Seufzen“, aber auch anderen Normverletzungen Einhalt zu gebieten, ist dem Staatsanwalt schon seit 1879 durch ein ganz irdisches Gesetz, nämlich die Strafprozessordnung, ein Strafverfolgungszwang auferlegt: Der Staatsanwalt ist von Amts wegen verpflichtet einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat vorliegen. Das hat bislang immer noch einigermaßen gut funktioniert.

Allerdings bringt die rasche Entwicklung der Kommunikationstechnik einen Kriminalitätswandel mit sich, dem sich Strafverfolgungsbehörden stellen müssen. Der klassische Banküberfall, bei dem der Räuber mit einer Pistole den Bankangestellten zur Herausgabe von Bargeld zwingt, ist gottlob zur Seltenheit geworden. Es ist inzwischen für manch einen Täter leichter und risikoärmer, mit einem Laptop vom Wohnzimmersessel aus anderer Leute Bankkonten leerzuräumen. Perfektionierte Verschlüsselungstechniken, manchmal auch der Datenschutz, erschweren die Aufklärung solcher Straftaten ungemein.

Darüber hinaus entwickeln sich Straftaten aus der digitalen Welt zunehmend zu einem Mengenproblem. Bei der Tataufklärung fallen häufig solche Massen von Daten an, dass diese mit dem menschlichen Gehirn allein nicht mehr sinnvoll erfasst, geordnet und verarbeitet werden können. Ermittlungen wegen der Verbreitung von Kinderpornografie haben oftmals nicht mehr 100 oder 1.000 unappetitliche Fotos zum Gegenstand, sondern wir haben es mit Datenmengen im terabyte-Bereich zu tun. Man hat mir gesagt, ein Datenträger mit einer Kapazität von 1 terabyte erlaubt die Speicherung des Inhalts von Aktenordnern mit je 250 Schreibmaschinenseiten auf einer Länge von sage und schreibe 160 Regalkilometern.

Die moderne Kommunikationstechnik zeigt uns zudem, dass für manch einen schon ein einzelner ungeschickter Satz ins Verderben führen kann. Wir erinnern uns mit Schrecken an die hinrichtungsgleiche Tötung des Kasseler Landrats Walter Lübcke. Er hatte im Herbst 2015 auf dem Höhepunkt der Welle flüchtender Menschen bei einer Bürgerversammlung in aufgeheizter Stimmung sinngemäß gesagt, dass derjenige, der die christlichen Werte nicht vertritt, dieses Land ja jederzeit verlassen kann. Anwesende, die sich dadurch provoziert gefühlt hatten, stellten noch am selben Abend ein Video der Veranstaltung ins Internet. Knapp vier Jahre später wurde Walter Lübcke als Opfer einer Hetzkampagne auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen. Wie gehen wir nun mit diesem technologischen Fortschritt um? Wir können das Internet oder die sozialen Netzwerke nicht einfach abschaffen und wollen das vermutlich auch gar nicht.

Hilfestellung und christliche Zukunftshoffnung kann uns das Adventslied „O Heiland reiß die Himmel auf“ aus dem Jahr 1622 geben, das traditionell an einem jeden zweiten Adventssonntag gesungen wird:

Zunächst einmal ist mir als Jurist das entschiedene „einerseits – andrerseits“, das der Text widerspiegelt, sehr sympathisch. Die Strophen 1 bis 3 geben Hoffnung mit ihren Schlüsselbegriffen Himmel, Tau und Erde. Die Strophen 4 bis 6 beschreiben vor dem Hintergrund der Verheerungen des 30jährigen Krieges ein düsteres Bild mit den Begriffen Jammertal, Finsternis und ewig Tod.

Vor allem aber liefert der Verfasser des Textes, der Jesuit Friedrich Spee, den besten Beweis dafür, dass die heute oft zu hörende Redensart „früher war alles besser“ ganz offensichtlich nicht stimmt. Spee hat im Jahr 1631 – gezwungenermaßen anonym – seine „cautio criminalis“ veröffentlicht. Es handelt sich dabei um einen sogenannten „Vorbehalt über die Prozesse gegen Hexen“. Mit ihm stellte sich Spee eindrucksvoll gegen die grausamen Hexenverfolgungen, die damals gang und gäbe waren; tausende Menschen wurden seinerzeit auf unvorstellbare Weise gepeinigt und mit durch Folter erpressten Geständnissen zum Scheiterhaufen gebracht. Von solch schlimmen Verhältnissen sind wir heute Gott sei Dank sehr weit entfernt. Die damalige Hoffnung auf Besserung hat sich also erfüllt.

Der Schlüssel zur Frage des Umgangs mit dem technologischen Fortschritt liegt demnach nicht darin, diesen zu unterbinden. Vielmehr liegt es an uns, die Entwicklung zu gestalten. Die Suche nach bestmöglicher Gestaltung sollte das zentrale Anliegen für alle uns heute relevant erscheinenden Lebensbereiche sein, sei es die Bewahrung der Schöpfung, der Klimawandel oder die Migration.

Ich fühle mich in dieser Auffassung bestätigt durch einen sehr lesenswerten Aufsatz des peruanischen Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa. Vor fast 19 Jahren befasste sich der Autor im US-amerikanischen Magazin „Foreign Poilcy“ mit dem damals alles überragenden Thema der Globalisierung. Er beleuchtete abgeschlossene Gesellschaften in Kuba und Nordkorea und indigene Minderheiten im Amazonasgebiet; er befasste sich mit erfolglosen Versuchen Frankreichs, das Fastfood aus dem Land und die Anglizismen aus der Sprache zu verbannen. Sein Ergebnis war: globalization happens – Globalisierung geschieht, ob wir wollen oder nicht, und uns bleibt nur, sie zu gestalten.

Ich finde, das gilt unverändert noch heute. Wir schicken Geld und Dienstleistungen in Sekundenschnelle um die ganze Welt, Waren in wenigen Tagen oder Stunden. Das Callcenter, über das wir unsere Geschäfte abwickeln, sitzt in Indien. Unser Elektroschrott landet in Afrika. Wir sammeln – wenn auch immer weniger gerecht verteilt – einen für Viele unermesslichen Reichtum an. Zugleich wundern wir uns, dass arme Menschen in dieser wirtschaftlich aufs Engste verflochtenen Welt nach Europa kommen wollen und sich davon weder durch Stacheldraht noch durch seeuntüchtige Boote abhalten lassen. Es könnte sein, dass in schon sehr naher Zukunft der vielbeschworenen Bekämpfung von Fluchtursachen deutlich mehr Gewicht beigemessen werden muss. Damit wäre auch unsere Bereitschaft gefordert, im eigenen Interesse dafür deutlich mehr Geld zu geben.

Was ist nun mit den geflüchteten Menschen, die es bis Lüneburg geschafft haben? Es entbehrt nicht einer gewissen Niedertracht, sie in ihrer Gesamtheit zu kriminalisieren, sei es anlässlich einer einzelnen Straftat oder sogar anlasslos. Ja, es trifft zu, dass einige von ihnen Straftaten begehen, aber andere von ihnen werden auch Tatopfer. Einen kriminalistischen Erfahrungssatz, der hier die Ausstellung eines Negativattests rechtfertigen könnte, gibt es jedoch nicht. Was es gibt - aber viel zu wenig Erwähnung findet - ist ein enormes bürgerschaftliches und auch kirchliches Engagement. Erst dieser Einsatz ermöglicht es den Neuankömmlingen überhaupt, hier Fuß zu fassen.

Da erinnere ich mich an die Geschichte eines 8jährigen Jungen aus Syrien. Das Wochenmagazin DIE ZEIT hat damals über ihn beichtet. Der Junge war im Herbst 2015 nach Oedeme gekommen und konnte kein Deutsch. Besorgte Lehrer sagten sich, dass es für den Jungen besser ist, trotz fehlender Sprachkenntnisse zur Schule zu gehen; irgendetwas werde er schon mitbekommen. Nach drei Monaten konnte der Junge noch immer kein Wort Deutsch, aber ein Großteil seiner Mitschüler war inzwischen in der Lage, sich mit ihm auf Arabisch zu verständigen: ein – wie ich finde – unschätzbarer interkultureller Bildungserfolg jenseits aller Lehrpläne.

Ich selbst habe den Schäfer Hadj, einen irakischen Kriegsflüchtling kennengelernt. Hadj war mit seiner Familie einer Asylunterkunft bei Fulda zugewiesen, im Landkreis Uelzen wurde dringend ein Schäfer gesucht. Es war nicht ganz einfach, den Umzug der Familie in die Lüneburger Heide zu bewerkstelligen. Die praktischen Probleme kennen wir alle aus Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“: ohne Wohnungszuweisung kein Arbeitsvertrag - ohne Arbeitsvertrag keine Wohnung. Am Ende hat der Wechsel mit viel Nachbarschaftshilfe und ohne großes „Seufzen“ geklappt. Gelebte Willkommenskultur hat hier einem Menschen Arbeit und Hoffnung gebracht und einer Schäferei zugleich die betriebliche Existenz gerettet.

Im Moment ist die Welle flüchtender Menschen scheinbar etwas abgeebbt. Das gilt aber nicht für die Barrieren in den Köpfen vieler Menschen, die hier von Geburt an beheimatet sind und Angst vor den Neuankömmlingen haben; diese könnten ihnen ja die Wohnung oder den Arbeitsplatz streitig machen. Wir sind gut beraten, uns mit den gängigen Parolen „das Boot ist voll“ und „wir sind doch nicht das Weltsozialamt“ argumentativ auseinandersetzen.

Wenn uns jenseits des medialen Getöses um Greta tatsächlich ein Klimawandel droht, müssen wir uns auf größere Wanderungsbewegungen einrichten als bisher erlebt. Wenn der Meeresspiegel ansteigt und Küstenregionen unbewohnbar werden, Dürreperioden dazu führen, dass es daheim nichts mehr zu essen gibt, oder Wirbelstürme in immer dichterer Folge ganze Landstriche verwüsten, werden sich die davon betroffenen Menschen in andere Gegenden bewegen. Dass sie sich dabei von Grenzzäunen oder Grenzmauern abhalten lassen, ist Wunschdenken! Schlimmstenfalls entsteht Kriegsgefahr. Ob nach der letzten Eiszeit ein solcher Klimawandel „menschengemacht“, eine göttliche Prüfung oder Teufelswerk ist, mag ein jeder für sich beurteilen. Wo es aber einen gesellschaftlichen Zusammenhalt braucht, das ist die gemeinsame Anstrengung, den Klimawandel zu verlangsamen und seine schädlichen Folgen zu verringern.

Ich glaube, dass die christliche Gemeinschaft einen ganz wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, eine heute zum Teil hysterisch geführte Diskussion zu versachlichen. Es sollte gelingen, die Auseinandersetzung um hilfreiche Maßnahmen vor allem unter dem Gesichtspunkt einer fairen Lastenverteilung zu führen. Dabei müssen wir uns auch an die eigene Nase fassen.

Es ist bedenklich, sich als fahrradfahrenden Umweltfreund auszugeben, wenn man im Internet immerzu Waren bestellt, die über riesige Entfernungen mit veralteten Dieselfahrzeugen angeliefert werden. Es ist leicht, nach sauberem Windstrom zu rufen, wenn die geplante Windkraftanlage vor der Haustür eines anderen stehen soll.

Der Advent wird auf der Internetseite der EKD beschrieben als eine Zeit der Vorfreude und Vorbereitung, der Stille und der Erwartung. Die freudige Erwartung ist dieser Tage vielfältig. Wir denken an die Erwartung einer Niederkunft, die uns aus dem Neuen Testament bekannt ist, oder an die Erwartung der Erfüllung eines Wunschzettels, die in glänzenden Kinderaugen ablesbar ist.

Das mit der Stille ist bei dem Weihnachtsrummel draußen vielleicht schon schwieriger. Es könnte helfen, einen ruhigen Platz aufzusuchen, und den eigenen digitalen Vormund, das Handy, einfach mal ein paar Stunden abzuschalten. Die Gefahr des „Seufzens“ wäre dann schon ziemlich gebannt. Es bliebe außerdem Zeit, mit innerer Vorfreude auf das Weihnachtsfest eigene Gedanken reifen zu lassen. Nützlich wäre vielleicht die Überlegung, wie man in die großen und kleinen Auseinandersetzungen unserer Tage mehr Achtsamkeit, Toleranz, Mäßigung und Wohlwollen einbringen kann.

Die christliche Zukunftshoffnung liegt in der Beachtung und Verbreitung christlicher Werte. Sie wird gestärkt durch Zusammenhalt, Zuversicht und den Glauben. Die Hoffnung führt zu einer Zeit voll Frieden und Gerechtigkeit. So steht es jedenfalls ganz am Ende des „Credo-Liedes“, das wir jetzt gemeinsam singen.