Wir gehen nicht allein

Kanzelrede von Sebastian Voigt am 4. Dezember 2016 in der Gottesdienstreihe "Bürgerkanzel in St. Nicolai". Sebastian Voigt ist Verantwortlicher Redakteur bei der BILD-Zeitung in Hamburg.

Liebe Gemeinde, liebe Familie, liebe Freunde. Schön, dass so viele hier sind. Ehe es losgeht möchte ich danken: Dafür, dass ich als Johannis-Spross, dessen Spielplatz der schiefe Kirchturm war und der als Küsters sein erstes Taschengeld dort verdient hat, nun in der Nicolai-Kirche sprechen darf.

Dank Ihnen, Frau Superintendentin, für Ihr Vertrauen. Und Dank Ihnen, lieber Herr Metzger-Frey und Ihrer Kantorei. Sie wissen warum...

Wer nach der Buchvorstellung Zeit und Hunger hat: Im Schallander am Stint verkauft der wunderbare Manni Vogt ausnahmsweise am Sonntag seine legendären Donnerstag-Frikadellen. Mehr brauchts zum Frühschoppen nicht.

Ach so. Gendermäßig bin ich nachlässig. Wenn ich Pastor sage, meine ich auch Pastorin, wenn ich Freund sage, meine ich auch Freundin...

Übrigens: Zum letzten Mal war ich Heiligabend in der Kirche, bei meinem Bruder im Kloster Fischbeck. 

Die Gnade des Herren, welche höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesu Christi. Amen!

Es war ein ganz normales Fußballspiel im April. Dortmund gegen Hoffenheim, 85000 Zuschauen in der BVB-Arena. Da kam eine Durchsage: Bitte dringend Sanitäter in Block sowieso, Reihe sowieso.

Über die sozialen Medien sprach sich schnell herum: Zwei ältere Männer hatten Herzprobleme. Es wurde merkwürdig leise im Stadion, Fan-Gesänge verstummten. Niemand hatte darum gebeten. Spieler schauten sich irritiert um. Dann sah man auch von weitem, wie Sanitäter und Rettungsärzte  die beiden Männer auf Tragen die steilen Stufen hochschleppten. Und plötzlich sang das ganze Stadion: Walk on, Walk on with Hope in your Heart, and you’ll Never Walk alone.  You'll Never Walk alone...

Diese Fußball-Hymne, hervorgegangen aus einem Schlager der 50er Jahre. Weltweit gesungen, berühmt geworden an der legendären Liverpooler Anfield Road. Es könnte ein Kirchenlied sein. Du gehst nie allein.

Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir. Der berühmte Psalm 23. Oder mein Konfirmationsspruch aus Psalm 37: Befiehl dem Herren Deinen Weg und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.

Ich möchte mit Ihnen über Verlässlichkeit nachdenken. Verlässlichkeit bedeutet Vertrauen. Zweifelst Du nie an Gott, hast Du die Nase nie voll? Fragen Freunde, die mit Kirche nix am Hut haben. Nein!

Am Tag nachdem sich mein Bruder Andreas auf den Bahngleisen das Leben genommen hatte, trafen sich Familie und Freunde bei Gaetano in der Pizzeria in der Rosenstraße. Da passte mich Pepino ab. Der kleine, rundliche Pizzabäcker mit dem großen Lächeln schaute mich an, sagte: Sebastian, ab heute will ich wie ein Bruder für Dich sein.

Wenige Tage später die Trauerfeier in der Kapelle auf dem Zentralfriedhof. Draußen Regen. Pastor Laufs hielt eine bis heute bewegende, tröstende Predigt. Wir sangen: Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsere Nacht nicht traurig sein... Kann unsere Nacht nicht endlos sein. Hinter der Familie saßen Freunde, Bekannte, auch Menschen, die Andreas gar nicht kannten, aber uns den Rücken stärkten. 

Als wir den Sarg zu Grabe trugen, riss der Himmel auf, warme Maisonne. Ich schaute meine Mutter an. Und wir sagten uns: Es ist gut so. Andreas wollte es so. Gott nimmt ihn zu sich. Wir haben beide darauf vertraut und in die Sonne geschaut. Gott ist verlässlich.

Mystisches ist mir fremd. Ich bin ein Zeitungsmann. Verlässlichkeit prägt auch meinen Beruf. Es fängt damit an, dass die Zeitung zuverlässig bei jedem Wetter morgens im Kasten steckt. Wenn heute ein Austräger hier ist: Danke Ihnen und ihren Kollegen.

Wir müssen uns verlassen können auf die Zeitung. Das beginnt im kleinen Sport. Wenn beim Spiel Karze gegen Betzendorf Vogt eine Rote Karte bekommt, aber Strauss in der Zeitung steht, dann kann sich Strauss am Morgen allerlei doofe Sprüche anhören. Die Zeitung muss aber nicht nur Nachrichten transportieren. So muss immer mehr die Welt erklären, verlässlich. 

Was passiert in Allepo, was in Brüssel, Berlin. Was bedeutet das für mich persönlich? Neue Rentensätze, Trump, Pkw-Maut, Jamaika im Lüneburger Rathaus, Arzneimittelfreigabe... wer versteht das denn noch alles? Meine Zeitung.

Ich gehe noch einen Schritt weiter: Zeitung muss für mich auch eine verlässliche Haltung haben. Gerade, weil alles immer unübersichtlicher wird. Die BILD mag da manchem zu laut erscheinen. Das ist Boulevard. Aber grade BILD hat eine verlässliche Haltung. An der Seite der USA, des jüdischen Volkes, der Demokratie, des Rechtsstaates, der ganz normal arbeitenden Bevölkerung.

Nach der Trump-Wahl titelte BILD in Anlehnung an den Merkel-Satz: Wir schaffen auch den.... Um im Innenteil klar zu bekennen: Das ist Demokratie. Das müssen wir aushalten. Der Spiegel hat den „Untergang der Welt, wir sie heute kennen“, propagiert. So ein Quatsch. Das ist nicht meine Haltung. Auf die verlasse ich mich nicht. Eine Zeitung ist grade in der digitalisieren Welt mit ihrer Zuverlässlichkeit wichtig. Und die, die sie machen, tragen große Verantwortung für das gedruckte, das bleibende Wort.

Ich mag nicht über Politik sprechen, ich bin kein Politiker. Aber manchmal wünsche ich, mir meine Kirche wäre lauter. Um den braun angeschmierten Idioten nicht das klare Wort zu überlassen. Wo bleibt der wortgewaltige Bischof, der von der Kanzel herab den Völkermord in Aleppo als solchen anprangert? Laut! Der sagt: Diesmal können wir Deutschen nicht sagen, wir hätten nichts gewusst. Darum übrigens zeigt BILD die Fotos der geschundenen, blutverschmierten Kinder von Aleppo. Bilder, die schreien: Seht her. Auf wen können sich diese Kinder verlassen?

Wo sind in meiner Kirche die großen Persönlichkeiten, die großen Prediger wie Hanns Lilje, Eduard Lohse, Horst Hirschler oder Margot Käßmann? Fragen Sie doch mal auf der Straße 100 Leute, wer Ratsvorsitzender der EKD ist. Ähm, der mit dem Doppelnamen?

Margot Käßmann, sie ist heute übrigens Kolumnistin der BamS, könnte nach ihrer Alkohol-Fahrt heute noch Bischöfin sein, wenn sich ALLE glaubhaft, tausendprozentig und laut zu ihr bekannt hätte. Aber waren da – nicht nur in der Öffentlichkeit – zu viele, die vielleicht sogar froh waren, diese streitbare Frau los zu sein.

Es gab vor vielen Jahren einen ähnlichen Fall im Kirchenkreis. Ein Pastor war wie Frau Käßmann angetrunken Auto gefahren. Das stand nie in der Zeitung, landete aber beim Superintendenten. Der wollte grade Luft holen, da wurde gesagt: „Das geht sie im Grunde nix an. Wir regeln das in der Gemeinde.“ Der Pastor wurde vier Wochen lang von Kirchenvorstands- und Gemeindegliedern zu allen Terminen chauffiert. Verlässlich. Fallen lassen? Nicht in der Gemeinde.

Ich mache mich jetzt bewusst unbeliebt: Haben sie sich mal gefragt, warum ein Uli Hoeneß, der wegen millionenfacher Steuerhinterziehung im Gefängnis saß, vor zehn Tagen ohne Gegenstimme wieder zum Chef des FC Bayern gewählt wurde?

Weil von dem Tag, als seine unfassbare Steueraffäre bekannt wurde, über die Verurteilung, die Haftzeit, die Freilassung bis heute der Verein tausendprozentig hinter ihm gestanden hat. Gegen alle Widerstände, gegen das moralinsaure Feuilleton. Fallenlassen? Nicht in der Vereins-Familie, auf die er sich verlassen konnte.

Und ich erzähle ihnen jetzt noch eine kleine Geschichte. Ein Spieler des FC Bayern kam zu Hoeneß ins Büro, da fiel ihm ein älterer Mann auf, etwas heruntergekommen. Er fragte Hoeneß: Wer ist denn das. Antwortete Hoeneß: Das ist der Brunnnenmeier. Da fragte der Spieler: Aber das ist doch ein 60ger... also ein Spieler von 1860 München, den Löwen, den Blauen, dem Erzrivalen des FC Bayern.

Hoeneß: Ja. Und der Brunnenmeier ist nach seiner Karriere tief gefallen, ganz tief. Da hab ich ihm gesagt: Rudi, am Monatsanfang kommst Du in mein Büro und holst Dir einen 1000er ab, damit du über die Runden kommst. 

Es war Hoeneß Privatgeld. Und er hat nie öffentlich drüber gesprochen. Ich kenne die Geschichte, weil der Spieler mir den Menschen Hoeneß erklären wollte.

Margot Käßmann wäre heute noch Präsidentin des FC Bayern. Käßmann war eine charismatische Bischöfin. Bisweilen laut. Es muss nämlich manchmal laut und deutlich sein. Um das klar zu sagen: Steuern hinterziehen und besoffen Autofahren ist absoluter Mist! Punkt. Aber einen Menschen fallenlassen ist der größere Mist.

Verlässlichkeit fängt Fallende auf. Freunde fangen Fallende auf! Menschen, die uns begleiten, auf die wir uns verlassen. Sie fangen uns auf. Die Eltern, die Familie, klar. Aber es sind viel mehr. Die Freunde, natürlich. Hier sitzen bestimmt fünf Menschen, die ich morgens um drei anrufen, die mich anrufen könnten. Wir können uns aufeinander verlassen.

Ein Freund, mit dem ich seit mehr als 15 Jahren eine Woche auf Föhr bin. Uli. Ein Freund, der mir wie ein neuer Bruder geworden ist. Andreas. Aber es sind noch viel mehr Menschen, die unser Leben lebenswert machen. Ich denke an die Osteopathin, die nicht nur meine Muskeln und Nerven berührt.

Meinen Arzt, der neben den Sehnen auch einen Blick für die Seele hat. Ich denke an meine verlässlichen Kollegen. An den Kellner, der weiß, was ich am liebsten mag. Meinen Wirt, der sich mit seiner Frau zum Plausch an den Tisch setzt. Diese liebenswürdige Intimität unserer kleinen Stadt. Da ist die Marktfrau, die seit Jahren da ist, bei jedem Wetter. Der Pastor, der mein Vertrauen hat. Der Kumpel aus dem Sportverein. Der freundliche Nachbar. Die nette Frau von der Fleischtheke. Die Frühschwimmer im Freibad. Es sind die Menschen, die da sind, die unserem Leben ein lebendiges Gesicht geben. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal... Sie sind da.

Wer heute als Atheist gekommen ist, soll als Atheist gehen. Aber wir alle sollten die Menschen, auf die wir uns im Großen und Kleinen verlassen können, öfter bewusst als Stützen unseres Lebens dankbar wahrnehmen. Nichts ist selbstverständlich.

Ich glaube, dass sich in diesen Menschen Gott uns Menschen zeigt. Aber ich bin kein Theologe. Ich bin Protestant. Und Zeitungsmann. Bald ist Weihnachten. Und ich wünsche uns etwas. Schließen sie für einen Moment die Augen, wenn Sie mögen. Sie stehen allein auf dem Rasen eines riesigen, dunklen Fußballstadions. 

Wer kennt das nicht? Krankheit, Schmerzen, Geldnot, Angst um den Job, Ärger mit dem Partner, Einsamkeit, Sorge um das Unternehmen, die Langweile des Lebens, Angst um einen geliebten Menschen. Ja, es ist manchmal zum Heulen. Jeder von uns kennt es, wenn das Leben seine hässliche Fratze zeigt. Und höhnisch grinst: Nun sieh mal zu, wie Du da wieder raus kommst. Und plötzlich geht das Fluchtlicht an. Es wird hell.

Vor uns auf der Tribüne stehen all die Menschen, auf die wir uns verlassen können. Menschen, die unser Leben begleiten, unserem Leben ein freundliches Gesicht geben. Und ganz leise beginnen sie zu singen: Walk on, Walk on, with Hope in your Heart, and you'll never Walk alone. Walk on, Walk on, with Hope in your Heart and you'll never Walk alone.

Da ist immer jemand bei uns. Wir gehen nicht allein.

Amen!