Kanzelrede von Dr. Wolfgang Schwarz am 6. Dezember 2015 in der Reihe "Bürgerkanzel in St. Nicolai" Lüneburg. Dr. Schwarz ist Palliativmediziner, Gründer und Geschäftsführer des St. Marianus - Zentrum für Schwerkranke - in Bardowick.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern!
Wir kommen heute hier zusammen, treffen aufeinander in unserer ganzen Individualität: mit unserer jeweils eigenen Lebensgeschichte, unseren Persönlichkeiten, Bekanntenkreisen, Berufen. Wir sind ganz unterschiedlich. Und doch verbindet uns ein gemeinsamer Nenner: Wir sind alle Menschen und wir haben alle eine begrenzte Lebenszeit. Und wir wissen das - auch wenn wir zum Glück nicht täglich daran denken. Dieses Schicksal der Finalität macht uns wirklich zu Brüdern und Schwestern und daher darf ich Sie so ansprechen.
Wir leben ein tolles Leben mit Höhen und Tiefen, sind kreativ, gestalten, pflanzen Bäume. Und all das wissend, dass am Ende nichts übrig bleibt als der Müllcontainer (in meinem Falle eher 12 als 8 Kubikmeter).
Wir können leben, damit wurden wir ausgestattet, als wir ins dieses Leben geworfen wurden. Aber wir können auch sterben, mit dem Tod so umgehen, dass er zwar gewiß am Ende des Lebens steht, aber dieses Leben trotzdem möglich ist. Für mich ist das ein Gottesbeweis.
Ich begleite mit meinem Team seit fast 20 Jahren Menschen an das Ende ihres Lebens. Soweit wir eben mitgehen können. Am Ende wird es oftmals schwierig. Das kann niemand alleine. Da brauchen wir Teams seit fast 20 Jahren, die uns aus diesem Lebens hinausheben, wie sie uns in dieses Leben hineingehoben haben. Es ist schon schwer genug, dass man oft im Leben auch alleine ist. Aber am Ende braucht man Hilfe, da sollte niemand dem unerklärbaren Phänomen des Sterbens und des Todes alleine gegenüber stehen.
Ich stehe fassungslos vor der Kraft, Leidensfähigkeit und Energie, mit der Menschen durch dieses Leben mit all seinen Schicksalsschlägen gehen. Gehen wie auf einer Einbahnstraße, die sie dem schwierigen Ende immer näher bringt. Denn auch wenn wir heute unendlich viel gegen das
körperliche Leiden tun können, die Situation immer am Ende entspannt und erträglich für den Sterbenden ist, auch wenn wir niemanden alleine lassen, für ihn da sind, ihn stützen, ist es doch das Ende eines Lebens, der Abschied von allem, auch von all den wichtigen Angehörigen. Was für
eine Perspektive! Und doch können wir damit leben.
Und dann wurde vor ca 2015 Jahren alles anders. Es wurde ein Kind geboren, welches durch seine Botschaft die Welt veränderte. In diesem einen Moment. Es wurde nicht auf ein fernes Reich Gottes verwiesen, welches irgendwann am Ende der Zeiten einmal kommen werde. Nein, ab jetzt bist du vom Tod erlöst. Ob du willst oder nicht. Ab jetzt ist der Tod überwunden. Ab jetzt geht es nach dem Tode weiter. Glaube es, wenn du kannst. Wenn nicht, laß dich überraschen - du wirst es erleben.
Können wir das glauben, können wir das heute noch so glauben, wie die Könige und die Hirten es damals konnten? Der Tod, dieses große Elend am Ende des Lebens führt zu etwas Gutem? Kann man das glauben?
Es ist schon merkwürdig: niemand soll mir sagen, dass die Geburt eines Kindes ein schmerzfreier, ästhetischer Vorgang sei. Auch wenn die jungen Väter ihn gelegentlich sogar auf Video festhalten, ist die Geburt doch mit Blut, Wehen, Schweiß und Schmerzen verbunden. Und wir können das ertragen, wir feiern, lassen die Sektkorken knallen. Denn es ist ein Wunder
geschehen: ein neues Leben ist in diese Welt gekommen.
Und am Ende geschieht doch das gleiche: Schmerzen, Schweiß, Wehen, Blut. Wir können das Sterben aber kaum mitansehen und kein Sektkorken knallt. Haben wir vielleicht verlernt daran zu glauben, dass auch das Sterben zu etwas Wunderbarem führt? Und können es daher viel schlechter mitansehen als eine Geburt?
Glauben wir noch, dass die Geburt dieses Kindes vor über 2000 Jahren uns vom Tod erlöst hat? Er wurde unter absonderlichen Umständen geboren. angekündigt in den alten Schriften über Jahrhunderte hinweg, geboren von einer Jungfrau, in einem Stall zu Bethlehem. Eine Mutter hält ihn auf dem Schoß, wünscht ihm Glück für sein Leben, ist voller Hoffnung. Sie wird seinen Weg mitgehen, vieles nicht verstehen. Und schließlich wird sie nach 33 Jahren den geschundenen, vom Kreuz abgenommenen Körper ihres toten Sohnes wieder auf dem Schoß halten.
Er ist immer nur der Looser, der Verlierer. Man versteht ihn nicht, hört nicht auf ihn, jagt ihn fort und versucht ihn für eigene Ziele einzuspannen. Selbst seine Jünger zweifeln an ihm und lassen ihn in Gethsemane im Stich. Die, für die er in die Welt gekommen ist, nageln ihn ans Kreuz. Und doch hat er die Welt verändert. Denn er hat uns vom Tod erlöst.
Seither sterben Menschen anders. Ich beobachte das, habe es in mehreren Tausend Fällen in den letzten 20 Jahren miterlebt. Ich sehe, dass am Ende des körperlichen Sterbens, Frieden, Ruhe einkehrt. Ich sehe, dass am Ende keine Angst mehr da ist, denn diese bezieht sich nur auf den Sterbeprozess, nicht auf den Tod. Friedliche Neugierde gepaart mit stiller Freude wird sichtbar. Jetzt sieht der Sterbende etwas, das ich nicht sehen kann. Er sieht, wohin er geht. Und das ist etwas Schönes, Befreiendes, Froh-Machendes.
Anders kann ich mir nicht erklären, dass wir keinerlei Signale des Festhaltens, der Verzweiflung und der Angst erkennen können. Niemand klammert sich an diese Welt. Und wäre das nicht so, wenn er nur einen schwarzen Abgrund erkennen könnte?
Als ich vor vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Uni Lüneburg hatte, mußte ich das Sterbethema in einem Seminar mit jungen Studenten besprechen. Um sie zur inneren Auseinandersetzung mit dem Thema zu bringen, sollten sie zur nächsten Unterrichtsstunde ihre eigene Todesanzeige - ohne sich auf ein Datum festzulegen - mitbringen. Und es wurden die üblichen Texte abgegeben, wie sie sie in der Landeszeitung lesen können.
Aber eine studierende Ordensschwester schrieb einen anderen Text. Und der befindet sich seither in meinen Papieren und wird zu lesen sein, wenn ich einmal gestorben bin:
„Am xx.yy. des Jahres zzzz erwachte
Dr. Wolfgang Schwarz
zum ewigen Leben“.
Ich werde nicht eingeschlafen sein, nicht von uns gegangen sein - ich werde
endlich erwacht sein zu dem, was Mensch-Sein wirklich ist. Darin liegt die Erlösung von dem Tode durch den Sohn Gottes, dessen Geburt wir in einigen Tagen wieder feiern werden. Wir in St. Marianus tun alles, damit dieses Leben gut zuende gehen kann. Dafür, dass es nach dem Tod gut weitergeht, ist schon alles getan. Amen.
Dr. Wolfgang Schwarz