Lust des Beginnens

Predigt im Gottesdienst zum Generalkonvent am 17. September 2014 in Celle

Im Rahmen der Begrüßung:

O Lust des Beginnens! O früher Morgen!
Erstes Gras, wenn vergessen scheint
Was grün ist! O erste Seite des Buchs
Des erwarteten, sehr überraschende! Lies
Langsam, allzuschnell
Wird der ungelesene Teil dir dünn! Und der erste Wasserguss
In das verschweißte Gesicht! Das frische
Kühle Hemd! O Beginn der Liebe! Blick, der wegirrt!
O Beginn der Arbeit! Öl zu füllen
In die kalte Maschine! Erster Handgriff und erstes Summen
Des anspringenden Motors! Und erster Zug
Rauchs, der die Lungen füllt! Und du
Neuer Gedanke!

Bertholt Brecht

Biblische Lesung:

Wir ermahnen euch aber, liebe Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann. Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und gegen jedermann. Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch. Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt. Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist er, der euch ruft; er wird's auch tun.

1. Thessalonicherbrief 5, 14-24

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Konventsgemeinde,
„O Lust des Beginnens …“ Wie ist die durchschnittliche Lust des Beginnens bei Ihnen? Vom Hörensagen mögen Sie etwas kennen von den Schwierigkeiten der Mutter mit ihrem Sohn, der nicht aufstehen will und zur Kirche gehen? Trotzig zieht er das Bettlaken über den Kopf. „Ich gehe nicht zur Kirche“, sagt er, „nie wieder!“ „Bist du krank?“ fragt die Mutter. „Nein.“ – Ich bin nur krank, was die Kirche angeht. Sie hassen mich. Sie geben mir Spitznamen. Sie machen sich über mich lustig. Warum sollte ich da noch hingehen?“ Die Mutter: „Ich kann dir zwei gute Gründe nennen. Der erste ist: Du bist jetzt 44 Jahre alt. Und der zweite: Du bist der Pastor!“

Von einer gewissen Unlust des Beginnens scheinen Christen vom Anbeginn ihrer Geschichte an befallen gewesen zu sein. Denn schon in der Morgendämmerung der Kirche ruft der Apostel Paulus mit einer ganzen Reihe von Ermahnungen die Geschwister in Thessaloniki aus den geistlichen Federn. Der erste uns bekannte apostolische Brief überhaupt (um das Jahr 50), daraus der Predigttext für den kommenden Sonntags, und was schreibt er? Sie haben‘s gehört. „Wir ermahnen euch …“ Na, toll. So etwas braucht man am Morgen auch … „Wir ermahnen euch …“ Und dann folgen13 Imperative. 13 Ermahnungen, Aufforderungen, Appelle, Zurechtweisungen zum christlichen In-die-Puschen-Kommen.

Also, der Blick zurück in die Zeit kirchlichen Beginnens löst keine hochgestimmten Empfindungen aus. Man könnte beinahe enttäuscht sein. Am Morgen des Christentums wenig zu spüren von einer Lust. Die Gemeinde Jesu hat keine neuen Menschen hervorgebracht. Das neue Stück musste auf vorhandener Bühne gespielt werden, mit den alten Spielern, die sich in gebrauchten Kostümen durch abgenutzte Requisiten bewegen. Das Ensemble des frühen Morgens war nicht besser dran als das gegenwärtige.

Auf den gegenwärtigen Spielplänen der Kirche – auch der Politik, Wirtschaft und Kultur – da steht weiterhin eine große Liebe – soll ich sagen „Lust“? – zum Ermahnen, eine Affinität zu Aufforderung und Appell. Benehmt Euch! Empört Euch! Engagiert Euch! Verändert Euch! Bewegt Euch! So brüllen mir fünf Buchtitel aus meinem Bücherschrank geradezu entgegen. Zwei Worte, immer großgeschrieben und mit dickem Ausrufungszeichen. Was dann darin steht, wer wollte etwas dagegen sagen? Die Aufforderung zu einer Diät, zu körperlicher Bewegung, gegen Rassismus, für den Wohltätigkeits-Spendentopf und den Klima-Retter-Basar. Alles kulturell koscher, politisch proper, kirchlich korrekt. Wer wollte etwas dagegen sagen?

Warum aber fruchten die Dauer-Appelle und Ruckreden am Ende doch so wenig? Warum reizen Ermahnungen eher den Unwillen, als dass sie eine „Lust des Beginnens“ stimulieren? Bei Paulus: Die Unordentlichen an ihre Unordnung erinnern, die Unfrohen, dass sie doch fröhlicher sein könnten, die Ungeduldigen sollen geduldiger werden und die Undankbaren doch mehr Dankbarkeit zeigen. Wer braucht das? Wer braucht das, zuerst auf seine Defizite hin angesprochen zu werden? Erst mal an die Schwächen erinnert? Mit den eigenen Mängeln konfrontiert? In der Pädagogik ist das ein No-Go. In der Seelsorge geht das gar nicht.
Aber wie sieht das aus in unseren Predigten, in der Liturgie unserer Gottesdienste? Gelingt uns da ein Beginnen, das nicht von einer Defizitorientierung, sondern Verheißung getragen ist oder von einem Versprechen? Ein Beginnen, das dich auf deine Möglichkeiten, deine Potentiale hin anspricht und auf einen geistlichen Lustgewinn, sie einzusetzen. „O Lust des Beginnens …“ Wenn ich mich an diesen Versen von Bertholt Brecht geradezu erbauen kann, dann deshalb, weil in den dreizehn kargen Zeilen eine Fülle von Frische und so etwas wie der Weckruf eines kühlen Wassergusses steckt. Ich bekomme Verheißungen vor Augen gestellt.
Kennen Sie die alte Mönchskrankheit der Acedia? Sorglosigkeit oder Nachlässigkeit übersetzen welche. Für mich steckt da auch ein guter Schuss Melancholie drin, ein Überdruss an Allem, üble Schreibtischlaune, dumpfe Unlust und so etwas.

Und wenn einen in der Vorbereitung des Generalkonvents etwas von dieser Acedia anfliegt? Ich habe dann zwei Möglichkeiten. Die erste: Ich gehe nach nebenan ins Büro zu Frau Waltje-Meyer …- und sehe da am Schreibtisch in wunderbaren Excel-Listen und Mappen einen schönen Generalkonvent mit elf Workshops entstehen, deren Räume, Referenten und Moderatoren verheißungsvoll organisiert, informiert und nachlässige Online-Anmelder noch stimuliert werden. Und dieses zu sehen, bringt mich wirklich in die Konvents-Puschen. Oder eben: Ich stoße auf solch eine Poesie vom Grün ersten Grases, vom Lesen der ersten Seite eines neuen Buches, von der Lust darauf, einen neuen Gedanken zu erhaschen.

Im Grunde geht es immer wieder um dieses eine: Wie bringt man einen sturköpfigen Esel zum Saufen? Und mal bin ich selber der Esel. Und mal sind andere die Sturköpfe. Jacques Loew, französischer Dominikaner und Arbeiterpriester, hat einmal genau darüber meditiert: Wie bewegt man einen Esel, der vor dem Trinkgefäß fremdelt (diese Grautiere machen das gerne), wie bringt man den zum Saufen? Und er hat nur eine Lösung gefunden. Man muss einen durstigen Esel herbeischaffen, der ausgiebig, mit großem Genuss und Behagen, an der Seite seines Artgenossen aus dem Eimer trinkt. Ohne großes Theater, einfach weil er Durst hat, einen großen, unstillbaren Durst. Dieses wird dann seinen Kollegen nicht unbeeindruckt lassen. Die Lust zum Beginnen wird den Sturkopf ankommen, dass er sich zum Eimer neigt und das erfrischende Wasser schlürft.
Ob Paulus seine Leute in Thessaloniki – die Unordentlichen, die Ungeduldigen … - auch als Sturköpfe hätte bezeichnen wollen, weiß ich nicht. Aber er macht im Grunde genau das. Er stellt seinen geistlich Sorglosen, den moralisch Nachlässigen und den einer verantwortlichen Geschwisterschaft Überdrüssigen, er stellt ihnen allen einen, den EINEN vor Augen, der ihnen Lust machen soll. Lust, aus der Quelle zu schlürfen, aus der dieser EINE getrunken hat. Lust sich mit dem beseelen zu lassen, von dem ER beseelt war. Lust dazu, sich an dem zu orientieren, woran dieser EINE sich orientierte. Paulus macht nichts anderes. Er stellt dem ersten, noch recht müden Christenensemble den lebendigen Gottessolisten Christus vor Augen. Seine Wiederkunft, seine Nähe. „Treu ist er, der euch ruft.“ Hört zu ihm hin, guckt zu ihm hin.

Und Paulus ist überzeugt, wenn seine Leute den vor sich wissen, wenn sie seine Augen auf sich ruhen sehen, sich von seinen Armen umfasst, von seinen Händen berührt, dann werden sie – pardon – dann werden sie „saufen“. Dann werden sie die Kleinmütigen so trösten, wie er getröstet hat, dem Guten so nachjagen, wie er dem Guten nachgejagt ist. Dann können sie gar nicht anders, als miteinander so viel Geduld zu haben, wie Christus sie mit Menschen hatte. Dann müssen sie so dankbar in allen Dingen sein, wie er es war. Dann werden alle Imperative und Appelle gewissermaßen zu Selbstläufern. Dieser menschliche Artgenosse von Gottes Gnaden vor sich, neben sich, bei sich, der macht’s. Der macht den Unterschied.

Und jetzt, für uns heute gedacht, soll mir keiner kommen, liebe Schwestern und Brüder, keiner soll mir kommen und sagen, diese paulinische Nah-Erwartung, die haben wir heute doch nicht mehr. Diesen Christus vor sich, neben sich, bei sich zu haben, das teilt doch heute keiner mehr. Bitte stöhnen Sie darüber in Ihrer Predigt am kommenden Sonntag nicht. Stöhnen Sie nicht, dass wir einer Naherwartung verlustig gegangen sind. Klagen Sie nicht über fehlende Naherwartung, sondern machen Sie Lust zur Nähe. Menschliche Artgenossen gibt’s genug. Für jeden. Auch die sind „von Gottes Gnaden.“ Vor sich, neben sich, bei sich. Und keiner von diesen Artgenossen, die jeder von uns hat, wird es übelnehmen, wenn wir an ihm und mit ihm einmal Nähe üben. Nicht Nah-Erwartung kompliziert konstruieren, sondern schlicht Nähe üben.

Jeder weiß doch, die Nähe eines Menschen kann gesund machen – ja, auch krank, ich weiß – aber eben auch gesund, so wie es die Nähe Jesu gemacht hat. Du weißt, die Nähe eines Menschen kann gut machen – ja, auch böse und traurig, ich weiß – aber eben auch gut, so wie die Nähe Jesu Menschen gut gemacht hat. Und du weißt, die Nähe eines Menschen lässt aufleben. Die Stimme eines Menschen kann zum Aufhorchen bringen einen, der für alles taub zu sein schien. Dein Wort kann sehend machen einen, der für alles blind war. Und stell dir mal vor, wie das Anhören eines Menschen Wunder wirkt. Und der Weg vom Wissen über das Reden zum Tun ist gar nicht so interplanetarisch weit, wie du manchmal denkst. Es ist oft nur ein Schritt, der schlichte Schritt in die Nähe eines Artgenossen.

Und dieser Schritt, liebe Konventsgemeinde, der macht nicht nur den Unterschied für diejenigen, die Paulus vor Augen hat als Unordentliche, Kleinmütige und eines Beginnens Unlustige. Ich glaube, dieser Schritt in die Nähe eines Menschen trägt auch viel aus in den größeren Fragen, die uns bewegen. Zum Beispiel in der Frage des heutigen Generalkonvents „Die Kunst des Sterbens – wer hilft uns dabei?“

Was mir persönlich am meisten hilft in der ethischen Gewissensbildung zu dieser Frage, das ist der Schritt in die Nähe von Menschen, die Nähe eines sterbenden Menschen, eines Kranken. Und das, was sich mir zu dieser Frage als Antwort bislang gebildet hat, das kommt aus der Nähe zu diesen Menschen. Das spricht überhaupt nicht gegen einen klugen Vortrag, das spricht nicht gegen Fortbildung, Workshop, Diskussion. Wenn es gut geht, ist da überall abgeleitete Nähe zu Menschen drin. Was mir beim Sterben hilft – bei dem von anderen und hoffentlich einmal beim eigenen –, das stammt aus der Nähe von sterbenden Artgenossen.

Wer will, mag das auch auf andere ethische Felder übertragen. Ich bilde mein Gewissen in den Fragen des Umgangs mit Flüchtlingen in der Nähe von solchen, die auf der Flucht waren oder es noch sind. Ich bilde meine Meinung in Fragen von Krieg und Frieden, von militärischen Einsätzen aus der Nähe zu Menschen, die in solchen Einsätzen waren oder darunter gelitten haben.

Tue ich das? Nein, ich tue das nicht genug, nicht gut genug, nicht oft genug, nicht gewissenhaft genug. Es bleiben Fehlstellen, viele Fehlstellen. Zuviel bleibt da unausgefüllt. Und dann höre ich mich um und gucke mich um. Und finde manchmal einen wie Bertholt Brecht, der mir Lust auf neues Beginnen macht. Erstes Grün des Grases, das noch ungelesene Buch, morgendlicher Wasserguss und all das. Es ist gut, davon zu wissen und das in der Nähe zu haben. Aber all das atmet noch nicht, da ist kein Herzschlag drin, keine Augengüte, keine Seelenwärme, oder noch zu wenig davon. Es bleiben auch hier Fehlstellen. Und dann kann ich nicht anders, und dann will ich nicht anders, als vor mir und neben mir und bei mir den zu glauben, der da dann den Unterschied macht. „Treu ist er, der euch ruft, er wird’s auch tun.“ Amen.