Toleranz und Tabu

Predigt am 15. September 2013 in St. Johannis, Lüneburg, Landessuperintendent Dieter Rathing über „Toleranz und Tabu“. (Predigttext Markus 2, 23-28)

 

Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat. (Markus 2, 23-28)

Liebe Gemeinde, stellen Sie sich das mal vor! Der Kirchenvorstand von St. Johannis beschließt, an Sonn- und Feiertagen hier in der Kirche Getränke zu verkaufen. In der warmen Jahreszeit kühle Cocktails und im Winter sollen es dann Glühwein und andere alkoholische Getränke sein. Für den Hausgebrauch werden daneben auch Bruchreste von Abendmahlsoblaten abgegeben. Sie können als Tierfutter Verwendung finden. Der Erlös soll dem Haushalt zu Gute kommen.

Wer muss jetzt kräftig durchatmen? Das ist doch tabu! Alkoholverkauf in der Kirche. Am Sonntag. Abendmahlsoblaten als Tierfutter. Es gibt Sachen, die gehen nicht. Auch ohne, dass wir uns vielleicht schon einmal Gedanken darüber gemacht hätten, geschweige denn darüber gesprochen. Manches macht man einfach nicht. Das geht gar nicht. Das ist unanständig. Es gibt bei uns eine rote Linie für Wertvolles und Heiliges, ein No-Go für Takt und Anstand. Gebiete, die nach Sitte und Gefühl nicht betreten werden dürfen. Es gibt Tabus.
Nun muss ich klar und unmissverständlich sagen: Der Kirchenvorstand von St. Johannis hat solche von mir genannten Beschlüsse nicht gefasst. Nein, es gibt hier keine alkoholischen Getränke zum Verkauf. Auch die Oblaten bleiben dem Heiligen Abendmahl vorbehalten. Die Kirchenleute brechen kein Tabu, sie begehen hier keinen Verstoß gegen Anstand und Sitte.

Damit bleiben sie nun allerdings hinter Jesus zurück. Und hinter seinen Jüngern auch. Denn die brechen ein Tabu. Ganz heftig sogar. Markus in seinem Evangelium hält das fest. Erst spazieren sie durch anderer Leute Kornfelder. Und dann klauen sie von deren Getreide. Vielleicht geht das noch als Mundraub durch. Das Armenrecht könnte es notfalls tolerieren, wenn jemand auf fremdem Feld seinen Hunger stillt.

Die Jünger tun, was gerade noch geduldet wird. Aber sie tun es am verbotenen Tag. Denn es ist Sabbat. Ruhetag. Und Sabbatruhe heißt totale Ruhe. Über Land zu ziehen, hat keine Erlaubnis. Zweitausend Schritte an diesem Tag und keinen mehr. „Jeder, der am Sabbat Arbeit tut, soll sterben“, sagt eine strenge Auslegung des Gesetzes. Und genauso streng kann es heißen: „Ein lebendiger Mensch, der ins Wasser oder sonst wo hinfällt, den darf man nicht mit einer Leiter, einem Strick oder einem anderen Gerät herausholen.“ Vollends nun Ähren zu raufen – Erntearbeit! Und dann noch die Ähren kornmühlenartig zwischen den Händen zu zerreiben – ein Tabubruch sondergleichen.

Die Lebenswelt Jesu gibt dem Sabbat eine ganz unvergleichliche Bedeutung. Wer diese Ordnung anrührt, der rührt Gott an. Denn mit dem Ruhetag hat Gott sein Schöpfungswerk gekrönt. Deshalb wird der Mensch am siebenten Tag der Woche buchstäblich seinem Schöpfer gleich, ihm zum Ebenbild. Gott ebenbildlich in der Freude über alles Geschaffene, in der Zufriedenheit über alle guten Ordnungen, im Ruhen von allen Werken. Der Sabbat ist heilig, alles Arbeiten an diesem Tag ein Tabu.

„Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ Die Pharisäer als gute Ordnungswächter tolerieren den Tabubruch nicht. Null Toleranz dem Bruch der guten Ordnung, null Toleranz dem Verstoß gegen Anstand und Sitte, null Toleranz dem Angriff auf das, was uns heilig ist.

Der Film „Die letzte Versuchung Christi“ zeigt 1988 Jesus in einer Liebesszene mit Maria Magdalena. Die dänische Zeitung „Jyllands Posten“ druckt 2005 eine Karikatur des Propheten Mohammed mit Turban in Form einer Bombe und brennender Lunte. Die Satirezeitschrift Titanic zeigt 2012 auf der Titelseite ein Bild des Papstes mit Fäkalien beschmiert. Tabubrüche. Warum tun Menschen, was religiöse Gefühle anderer Menschen verletzt, was Heiliges lächerlich macht, Anstand und Sitte durchbricht? Sollen wir das dulden? Oder: Null Toleranz?
Wir kennen anderes, was als Tabubruch unter uns empfunden wird. Protestierende Landwirte, die Hektoliter Milch auf die Straße schütten. Das Verzehren von Hunde- oder Katzenfleisch, erst recht das von Menschen. Lange Zeit das Zeigen von Homosexualität im Fernsehen.

„Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ Jesus toleriert den Tabubruch seiner Jünger. Er sagt: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“

Ist das nun der christliche Freibrief dafür, ruhig auch mal fünf gerade sein zu lassen? Haben wir damit von Jesus die Erlaubnis in der Tasche, dass jeder unter Berufung auf sein Gewissen Entscheidungen nach eigenem Gutdünken fällen kann? Man wird ja noch sagen dürfen … Man wird ja doch auch mal machen dürfen … Als aufgeklärter Mensch ist man doch heute tolerant, wenn da mal einer über die Grenzen geht … Ordnung, Anstand und Sitte, religiöses Empfinden, sind das nicht Tabus aus alten Zeiten? Der Sabbat ist doch für den Menschen da …

Liebe Gemeinde, jeder ahnt wohl, dass es so nicht gemeint sein kann mit der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat (Gal. 5,1), dass es so nicht gedacht werden kann mit einer Toleranz, die alles erträgt, mit einem Dulden, das zu allem nur Ja und Amen sagt.

Aber wie können wir das Gebiet beschreiben, wo ein Dulden und Ertragen, wo Toleranz gefordert ist? Wann sehen wir Grenzen erreicht? Wo ist ein Tabu-Punkt überschritten? Ehrlich gesagt, für Jesus gibt es diesen Punkt nicht. Und für Jesus ist auch die Grenze von Tabu und Toleranz beweglich, sehr beweglich. Denn bei ihm hat diese „Grenze“ zwei Beine. Sie hat ein Herz, das frei schlagen will, eine Seele, die sich fühlen kann wie eingesperrt. Die „Grenze“ hat einen Magen, der bei Hunger knurrt und Gefühle, denen man leicht wehtun kann. Zwischen Toleranz und Tabu steht für Jesus der Mensch. Zwischen Toleranz und Tabu stehst Du als Mensch, und es steht da der Dir nächste Mensch.

Nicht abgetan damit, dass es Gesetze geben muss, geschriebene und ungeschriebene. Wir haben stille Übereinkünfte zu dem, was man tut oder eben auch nicht tut. Jede Gesellschaft hat Regeln, die außerhalb einer Diskussion stehen. Wo immer Menschen zusammenleben, finden wir Tabus. Sie geben ein Gerüst für unser Lieben und für unser Streiten, für’s Feiern und für die Arbeit. Und oft genug regeln die ungeschriebenen Gesetze mehr als die geschriebenen.
Aber in jedem Gesetz steckt zugleich auch die Gefahr, dass es seinen ursprünglichen Sinn verfehlt. Ursprünglich steckt in einem Ruhetag der Sinn, Menschen einen Ausgleich für die Härte des Alltags zu geben. Ursprünglich steckt im Sabbat der Gedanke, Menschen teilhaben zu lassen am Frieden Gottes nach dem vollendeten Schöpfungswerk, ein Ausruhen am siebenten Tag.
Aber was ist, wenn Menschen an diesem Tag Hunger haben wie die Jünger im Kornfeld, offensichtlich? Was ist, wenn aus dem guten Sinn von Ordnungen Zwangsjacken werden, aus denen heraus Menschen nur noch ächzen? Was ist, wenn aus den vielen stillen Übereinkünften in einer Gesellschaft Menschen überhaupt nicht mehr zu sich selbst finden können und zur eigenen Berufung? Und nicht mehr finden können zu Gott und zu seinem Ruf, uns selbst zu lieben und zu lieben den Nächsten wie uns selbst?

Hier, liebe Gemeinde, hier nun wären Geschichten zu erzählen und zu hören. Geschichten von Menschen, deren Leben einem ungeschriebenen Gesetz, einem Tabu zum Opfer geworden ist. Zum Beispiel dem Tabu, dass man über Gewalt in den eigenen vier Wänden nicht spricht. Zum Beispiel dem Tabu, dass es verbietet, ein eigenes Liebesempfinden zu leben. Oder dem Tabu, der geistigen oder körperlichen Macht eines anderen Menschen ausgeliefert zu sein.

Aber solche Geschichten her zu erzählen, hieße Menschen zu beschämen, sie in eine Opferecke zu stellen. Menschen sind nicht zu solchen Geschichten da. Der Mensch ist nicht dazu da, anderen zum Opfer zu werden. Nicht zum Opfer einer Geschichte, die sich andere über ihn erzählen. Nicht zum Opfer eines Bildes, das anderen zur Unterhaltung dient. Nicht zum Opfer einer Ordnung. Bei Jesus soll der Mensch nicht zum Opfer einer Sabbatordnung werden. Deshalb durchbricht er das Tabu der Ruhe dieses Tages – „um des Menschen willen.“ Was für ein Segen, wenn es gelingt, ein Tabu zu brechen um des Menschen willen!

Wer dazu eine Geschichte hören will, dem sei sie erzählt als Geschichte eines jüdischen Rabbi in Russland. Auf einer Bahnfahrt ist die Strecke durch Schneewehen versperrt. Es ist Freitagnachmittag, wenige Stunden vor Sabbatbeginn. Die Männer schuften und schaufeln. Als sie die Gleise endlich frei haben, da ist schon der Sabbat angebrochen. Kein Zug darf fahren, kein Rad sich drehen. Die Männer fluchen, die Frauen frieren, die Kinder weinen. Was tut der Rabbi? Er breitet die Arme aus über Männer, Frauen und Kinder. Er spricht über sie den Segen und wirkt das Wunder: Links vom Gleis steht der Sabbat, rechts vom Gleis steht der Sabbat, doch mitten hindurch fährt der Zug – „um der Menschen willen“.

Wo, liebe Gemeinde, fahren heute solche Züge „um des Menschen willen“? In Zeitungen mit Karikaturen von Mohamed oder mit Beleidigungen des Papstes fahren sie nicht. Da ist nichts „um des Menschen willen“ sondern um der Auflage oder um des Geschäfts willen. Über Cocktail-Verkauf in der Kirche und Bruchreste von Oblaten für Haustiere müssen wir nicht reden, damit wird auch keine Not von Menschen gewendet, damit wird allein religiösen Gefühlen wehgetan.

Aber die Not von Menschen wenden … Das ist etwas ganz anderes. Das tat David als er das Tabu der heiligen Brote des Altars brach, er gab sie seinen Leuten, denen der Magen knurrte, zu essen. Es gibt nichts Heiligeres auf Erden, das heiliger sein könnte als ein Mensch, wenn er Hunger hat oder in Not ist.
Die Not von Menschen wenden … Manchem ist in Erinnerung, wie einst Helmut Schmidt das politisch gut begründete Tabu eines Einsatzes des Bundeswehr in Deutschland gebrochen hat. In der Sturmflut 1962 holten Soldaten mit ihren Hubschraubern Menschen von ihren Dächern. Du kannst Dich nicht auf Gesetze berufen, wenn das Leben von Menschen in Gefahr ist.

Die Not von Menschen wenden … Martin Luther brach das Tabu der kirchlichen Gesetze eines Ablasshandels, der glaubenstötend auf den Gewissen lag. Keine Kirche kann etwas festsetzen, das an der Gewissensnot von Menschen vorbeigeht.

Ohne Zweifel: Auch, wo in der Kirche Züge fahren „um des Menschen willen“ darf gefragt werden. Und wir sind gegenwärtig mittendrin in solchen Fragen. Ohne Zweifel: Die Ehe ist und bleibt eine gute Gabe Gottes für das Zusammenleben von Mann und Frau. Aber reden wir von dieser guten Gabe nicht mit so viel Bedeutung und so viel Gewicht, mit so viel „Heiligenschein“, dass sie für junge Leute zum Schreckgespenst werden kann und sie die Ehe als gute Ordnung eher fürchten zu müssen meinen, als dass man sie freudig eingehen mag. Es ist „um des Menschen willen“, wenn wir kirchlich anerkennen: Ja, auch in anderen Lebensgemeinschaften als der Ehe können Treue und Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Respekt füreinander gelebt werden. Segensreich. Und auch mit dem Segen der Kirche.

Wann und wo dürfen wir, wann und wo müssen wir „um des Menschen willen“ ein Tabu brechen und wenden die Not von Menschen? Und wenden die Not von Menschen, liebe Gemeinde, das ist der einzig erlaubte Grund, um gute Ordnungen in Frage zu stellen, um ein Tabu zu brechen. Jesus ist zum Tabubrecher geworden „um des Menschen willen“.

Genau genommen haben wir Jesus Christus selbst einem großen Tabubruch zu verdanken. Denn Gott selbst ging mit Jesu Geburt einen Tabubruch ein.
Über Jahrhunderte, über Jahrtausende hieß es nach strenger ungeschriebener Ordnung: Götter bleiben Götter. Gott im Himmel und der Mensch auf Erden. Dazwischen fährt kein Zug von oben nach unten, da führt kein Pfad vom Himmel auf die Erde. Gebote kann man geben, Propheten kann man schicken, ja. Aber als Gott selber ein Mensch werden? Das war göttliches No-Go. Tabu. Heiliges muss doch heilig bleiben. Ein heiliger Gott kann nicht gemein werden mit Menschenkram und Menschenkummer. Kann doch nicht teilen Menschen Herz und Hunger.

Gott in einem Menschen, das zu denken war ein Tabu und ist es für viele noch immer. Der Vater Jesu Christi hat dieses Tabu gebrochen. Er hat es getan „um des Menschen willen“. Deshalb dürfen wir, deshalb müssen wir um Gottes willen fragen, was um des Menschen willen nötig ist. Um Gottes willen fragen, wo menschliche Not zu wenden ist. Wo immer wir das tun, werden Herzen freier schlagen können, kommen Seelen aus ihrem Gefängnis, werden Menschen satt. Und dem Glauben wird ein Gleis gegeben. Amen.