Landessuperintendent Dieter Rathing am 24. Dezember 2013, 18 Uhr, in der Lüneburger St. Johanniskirche
Liebe Gemeinde, jetzt sind wir hier zusamen an diesem besonderen Tag im Jahr mit seinen besonderen Stunden. Und zuerst einmal wünsche ich Ihnen, dass Sie viel von dem Wert und von der Kostbarkeit dieses Heiligen Abend und dann der Weihnachtstage für sich erleben.
Dass es wertvolle Stunden des Herzens für Sie sein können im Zusammensein mit den nahen Menschen. Es ist eine der wunderbarsten Fähigkeiten, die wir haben, einander ins Herz zu schließen.
Dass es kostbare Tage für Sie sind, auch wenn für manchen und manche von Ihnen mit viel lieber Arbeit verbunden. Es sind die sorgenden Hände, mit denen wir einander als Menschen auf dieser Welt eine Krippe bereiten und Herberge geben. Es warm und geborgen unter uns zu machen, dieses gehört zu den wunderbarsten Fertigkeiten, die einer haben kann.
Dass es wertvolle Momente der Freude sind – vielleicht auch im Staunen für ein geglücktes Geschenk. Solche Momente, in denen wir überraschend etwas empfangen, lehren uns Dankbarkeit. Dankbarkeit für eigenes Leben und für das der anderen.
Dass es kostbare Augenblicke selbst dort werden, wo an diesem Abend eine Träne fließt. All jene, die heute mit einem Kummer hierher gekommen sind, dürfen sich der Botschaft des Heiligen Abend am nächsten wissen: In der dunkelsten Nacht, in der kältesten Stunde strahlt die Wärme und scheint das Licht am klarsten.
In der Einsamkeit liegt die Wiege der Einfühlsamkeit, das Verlassensein gebiert Kraft, einem anderen Menschen zur Heimat zu werden, und über jedem Gesicht, das uns fehlt, an das wir uns heute besonders erinnern, leuchtet ein kostbarer Stern, der uns sagt, dass wir in der Liebe unvergessen sind.
Dieser Heilige Abend, diese Heilige Nacht, liebe Gemeinde, vieles mag uns in diesen Stunden aufgehen von dem, wie wertvoll wir als Menschen einander sein können, im Gutsein, im Kümmern und Sorgen, sogar in den Tränen, die wir füreinander weinen.
Ob es uns gelingt, etwas von der Kostbarkeit dieses Abends mitzunehmen? Ob es dieser Nacht gelingt, in unser Herz etwas hineinzuschreiben, das Kraft hat? Kraft, um mit allem Glück und Gelingen menschlich anständig umzugehen? Kraft, um mit all dem, was wir versäumen, worin wir versagen, weiterzuleben?
Eins ist uns ja vor Augen: In der Krippe liegt nicht mehr als ein Kind, manche werden sagen „nur“ ein Kind. Ganz unscheinbar, noch sehr verletzlich, selbst der Hilfe bedürftig … Wie kann von dem, wie soll von solch einem Kind Kraft ausgehen? Wie kann es dazu stark genug sein?
Ich finde etwas von dieser Frage wieder in einer kleinen Begebenheit, die sich um die Weihnachtskrippe dreht. Gerade an solch einer Krippe mit den entsprechenden Figuren fehlt es auf Weihnachten hin in einer Kirchengemeinde. Pastor und Kirchenvorstand wollen den Mangel beheben, aber das nötige Geld für Holzschnitzereien ist einfach nicht da. Es reicht nur für Figuren aus bunt beklebter Pappe – die Hirten, Maria und Josef, das Kind.
Am Heiligen Abend stellt nun der Pastor diese Figuren vor. Er bemüht sich, vor allem den Kindern die verschiedenen Krippengäste zu erklären: „Schaut doch, wie schön die Tiere aussehen!“ sagt er. „Und wie friedlich sie dort alle zusammenstehen, der Ochs, der Esel, die Schafe. Sie rennen nicht herum, sie stoßen sich nicht gegenseitig. Warum sind sie wohl so friedlich?“ Die Kinder überlegen eine Weile. Schließlich sagt eins: „Die sind so friedlich, weil die aus Pappe sind.“
„ ... weil die aus Pappe sind.“ Irgendwie ist das ja auch schwer zu verstehen, warum die Geburt des Christuskindes sich dämpfend auf die Streitlust der Tiere auswirken soll. Und ist es nicht überhaupt schwer zu verstehen, wie von der Geburt eines Kindes, wie von der Jesu Christi eine Kraft ausgehen kann, die nicht „von Pappe“ ist?
Weihnachten, die Geburt eines Kindes, Jesus, Gott wird ein Mensch … Mein unvollkommenes Verstehen dieser ganzen Geschichte …, mein kleiner, unscheinbarer Glaube daran … Wie kann ich dessen gewiss sein, dass das alles nicht „von Pappe“ ist?
Die Bibel antwortet darauf mit nur einem Satz. Aber dieser eine Satz enthält alles Wichtige von Weihnachten, auch wenn Bethlehem und der Stall, wenn Maria und Joseph darin nicht vorkommen. Aus dem Johannesevangelium im 3. Kapitel:
Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
„Also hat Gott die Welt geliebt ...“ Ja, sagen Sie mal, finden Sie denn diese Welt liebenswert? Mag sein, auf dieser Welt gibt es die schönsten Sonnenuntergänge. Mag sein, es gibt hier die saftigsten Äpfel, die kernigsten Nüsse und das süßeste Marzipan. Und, mag sein, hoch über dieser Welt hat das leuchtendste Funkeln der Sterne seinen Platz. Alles schön und gut. Aber muss es nicht doch bessere Welten geben? Muss es nicht eine Welt geben, die liebenswerter ist als ausgerechnet unsere?
Dort der Terror, da wieder ein Krieg. Hier das Hochwasser, woanders der Tornado. Da nimmt eine unberechenbare Natur den Menschen alles, was sie haben. Dort jagen ebenso unberechenbare Menschen andre Menschen auf die Flucht. Die Chronik auch dieses Jahres spricht wieder ihre Sprache. Ist das eine liebenswürdige Welt? Oder haben wir nicht eher eine traurige, eine von Unfrieden und Katastrophen, haben wir nicht vielmehr eine geplagte, mit viel Mühe und Vergeblichkeit beladene Welt vor uns?
Ein junges Paar sagt mir: „Wir lieben und wir genießen unser Leben mit allem, was daran wunderbar ist. Und mit dem Rest versuchen wir klarzukommen. Aber ein Kind möchten wir in diese Welt nicht hineinsetzen. In diese Welt nicht.“
Also, warum hat Gott diese Welt geliebt, die wir doch anscheinend gar nicht so sehr lieben können? Es gibt nur eine Antwort darauf: Weil sie es besonders nötig hat. Gott liebt die Welt, weil sie liebesbedürftig ist.
Weil diese Welt in ihrer ganzen Armut und Unbelehrbarkeit nur durch eines berührt werden kann: Durch Liebe. Diese Welt ist angewiesen, unendlich angewiesen auf jemanden, der sie in den Arm nimmt. Einen, der ihre Not und Unvollkommenheit sieht und nicht darüber hinweggeht. Einen, der sich an allem Schönen mitfreut und mit glücklich ist über alles, was gut gelingt. Der wahrnimmt, was hier geschieht, im Guten und im Bösen. Diese Welt braucht Nähe, ganz viel Nähe und große Liebe.
Und jetzt frage ich Sie: Wie anders, wie besser, wie schöner kann man auf dieser Welt Liebe zeigen als durch ein Kind. Wie anders, wie besser, wie schöner hätte auch Gott seine Liebe zu dieser Welt zeigen können als durch ein Kind! Ein Menschenkind aus Fleisch und Blut. Das ist nicht „von Pappe“! Und damit wir’s ja nur glauben können, dass dieses Kind der Liebe nicht „von Pappe“ ist, kommt Jesus genau da zur Welt, wo sie besonders liebebedürftig ist:
In kalter Nacht. Er würde ja sonst nicht verstehen: wie sehr uns Menschen Kälte und Nacht, Dunkel und Aussichtslosigkeit verfolgen können.
Als Kind einer jungen unverheirateten Mutter. So kennt er die Unvollkommenheiten unserer Familien, wo wir das Beste wollen, und uns vieles trotzdem nicht gelingt.
Draußen im Stall der Hirten. Damit ein für alle Mal klar ist: Auch über der Arbeit, auch über dem Leben, das erst mal weit weg ist von allem Frommsein und aller Religion, steht sein guter Stern.
Nacht und Kälte, Eltern ohne Trauschein, Armut als Geburtsambiente, ein Gott, der im Schafstall zur Welt kommt … Was sind das für Zustände, liebe Gemeinde, was sind das für Umstände? Damit wir’s ja nur glauben können: Dieser Gott, dieser Sohn, dieser Mensch, diese Liebe ist wirklich nicht „von Pappe“.
Und wenn Sie das mitnehmen von diesem Heiligen Abend, wenn Sie das mitnehmen aus dieser Nacht, dann haben Sie genug. Dann haben Sie genug vom Christkind bekommen. Alles andere können Sie dann genießen als Zugabe, als etwas Schönes überhin.
Und wenn Dir dann - die Tage gehen ja auch nach Weihnachten ins Land - wenn Dir dann mal Zweifel kommen. Zweifel, ob das denn mit der Liebe von diesem Gott Sinn macht. Oder ob man denn in diese Welt noch ein Kind setzen kann. Oder ob es mit allem Bösen, mit Elend und Katastrophen nicht überhand nimmt. Dann mach es einfach Gott nach. Du weißt ja, diese Welt ist liebesbedürftig, sie braucht Nähe, ganz viel davon und große Liebe.
Also nimm die Welt mit deiner Liebe in den Arm! Du weißt ja: Diese Welt ist angewiesen, unendlich angewiesen darauf, in den Arm genommen zu werden.
Und sage nicht, die Welt ist aber zu groß, und ich selbst bin zu klein dafür, meine kurzen Arme reichen dafür nicht aus. Um die Welt in den Arm zu nehmen, genügt ein Mensch. Mit einem einzigen Menschenkind hat Gottes Liebe zu dieser Welt ja auch angefangen.
Nimm einen einzigen Menschen dieser Welt in den Arm. Einen Nächsten. Einen nahen Nächsten oder einen fernen Nächsten. Manche ferne Nächste mögen Dir sogar ganz nah sein. Aber das weißt Du. Und ob da denn ein Lachen ist, oder ob eine Träne fließt, Du kannst sicher sein: Deine Liebe ist nicht „von Pappe“!
So sicher wie Gott diese Welt geliebt hat, als er uns seinen einzigen Sohn gab, so sicher kannst Du sein, dass alle, die daran glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Amen.