Dieter Rathing: Ansprache im Gottesdienst für Lehrende am 29. September 2012 in der Stadtkirche Celle
„...und sie aßen alle und wurden satt.“ So geht’s zu Ende mit dem geteilten Brot und geteiltem Fisch, wie wir es eben von der Speisung der 5000 aus dem Evangelium (Markus 6,30-44) gehört haben. Am Ende hat es gereicht. Die Leute haben gegessen und - wahrscheinlich auch - getrunken. „Jetzt reichts’s“, haben sie wohl gesagt. Im guten Sinne verstanden „jetzt reicht’s und …“ Ja, was „und“? Geht’s denn jetzt noch weiter? Wenn die körperlichen Bedürfnisse gestillt sind, der Leib zu seinem Recht gekommen und alles Äußere in gutem Sinn geregelt ist, wie geht’s dann noch weiter?
Ich kann das auch gleich für die „Brotseite“ in Schule fragen. Wenn „G 8“ eingeführt und die neue Oberschule einmal installiert sind, so wie hier in Celle jetzt schon alle anderen Grundschulen auch zu Ganztagsschulen geworden sind? Und mutig in die Zukunft gedacht: Wenn die Förderschulen aufgelöst, die Inklusion gelungen eingeführt, wenn aller schulische Reformhunger gestillt und das Äußere in gutem Sinn geregelt ist? In aller Unvollkommenheit geschieht das ja in jedem Schuljahr. Jetzt nach sechs Wochen stehen die Stundenpläne, die Klassenräume sind eingerichtet, Belegungspläne zurechtgerüttelt, die ersten Ferientage schon in Sicht. Wenn das Äußere – noch einmal: in aller Unvollkommenheit! – wenn das Äußere gerichtet, und zusammen geführt ist, wie geht’s dann noch weiter? Für Essen und Trinken sagen wir „Das hält Leib und Seele zusammen.“ Gibt’s neben dem äußeren „Schul-Leib“ auch so etwas wie eine innere „Schul-Seele“, die mit dem Leib zusammengehalten werden muss?
Für den Menschen ist das immerhin umstritten, ob es bei ihm so etwas wie eine Seele gibt. Fragt man zum Beispiel einen wie Rudolf Virchow – er war im 19. Jahrhundert Begründer der modernen Pathologie an der Berliner Charité – dann bekommt man von ihm zu hören, er habe in seinem Leben Tausende von Obduktionen vorgenommen, aber er habe dabei noch nie eine Seele entdeckt.
Fragt man einen dagegen einen wie Carl Gustav Jung… Der alte Schweizer Seelenklempner geht ganz davon aus, dass es die Seele gibt. Er hält sie allerdings für „das undurchsichtigste Gebilde, mit dem sich das Denken je beschäftigt hat“.
Vielleicht fragen Sie mal Ihre Schülerinnen und Schüler nach der Seele. Manche von denen werden sich möglicherweise an eine bestimmte Folge der Simpsons erinnern. Ich muss die Comic-Simpsons aus dem Fernsehen, glaube ich, hier nicht vorstellen. Manche Folgen haben es wirklich in sich. Zum Beispiel die, in der Bart Simpson seine Seele an seinen Freund Milhouse verkauft. Denn Bart hält im Gegensatz zu Milhouse die Seele für eine Erfindung der Kirche. Darauf bietet ihm Milhouse fünf Dollar für seine Seele. Bart nimmt einen Zettel, schreibt „Seele“ drauf und schwupps geht die Seele für fünf Dollar über den Tisch. Wenn nun sogar bei den Simpsons... - es gibt also die Seele!
Merkwürdigerweise wird unsereins immer wieder am ehesten von ihrer Existenz überzeugt, wenn etwas nicht mir ihr stimmt, oder wenn sie fehlt. An uns und in uns ist mehr als das, was wir anfassen können. Selbst im gröbsten Klotz gibt es Platz für Gefühle, für Denken und Wollen, für Liebe und Trauer. Wir spüren auch, wie sehr diese innere seelische Seite mit unserem Körper verwoben ist, aber trotz allem geben wir oft der Seele im Gegensatz zum Körper etwas zu wenig Aufmerksamkeit. Zwar heißt es „Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen“, aber dem Leib führen wir oft mehr Nahrung zu als der Seele.
Bart Simpson übrigens wird von der Existenz seiner Seele auch erst überzeugt, als er wahrnimmt, wie ihm etwas fehlt. Und Bart findet – die Dollars sind schon lange in Süßigkeiten umgesetzt –, dass er sie dringend wiederbraucht, seine Seele. Denn es passieren ihm ohne Seele seltsame Dinge. Die Haustiere knurren ihn auf einmal an. Als der auf die Glastür des Gefrierschranks haucht, kondensiert sein Atem nicht am Glas. Er kann über seine Lieblingssendung im Fernsehen nicht mehr lachen. Seine Freunde wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und als seine Mutter ihn vor dem Schlafengehen in den Arm nimmt, bemerkt sie, dass ihm etwas fehlt. Bart sagt: „Als ob ich keine Seele habe.“ Darauf die Mutter. „Ach Schatz, du bist doch kein Monster.“
Keine Monster: Schülerinnen und Schüler. Auch wenn sie knurren wie Barts Haustiere, auch wenn welche einen kaum wahrnehmbaren Lern-Atem zu haben scheinen - es materialisiert sich offenbar gar nichts... Auch wenn es welche gibt, die das Lachen verlernt zu haben scheinen oder solche, von denen die Freunde weglaufen. Was für „Seelchen“ können diese Jungs und Mädchen sein!? Wie viel Äußerlichkeit an Gehabe und Geprange kann sie bestimmen? Wie viel von „Ich kann die ganze Welt gewinnen“? In welch gänzlich unbeseelter Umgebung können Schülerinnen und Schüler ihr zu Hause haben? Und es braucht, und es braucht, um ihnen in der Schule etwas einzuhauchen. „Ach Schatz, du bist doch kein Monster.“ Neben den „Seelchen“ gibt es dann die ausgewachsenen Seelen in der Brust der Schule. Diese erwachsenen Seelen werden manchmal erst wahrgenommen, wenn sie verlustig zu gehen drohen. Sie kennen die Worte von Verabschiedungen, dass ein Kollege, eine Sekretärin oder der Hausmeister als „gute Seele der Schule“ gelobt und gewürdigt wird. Offenbar haben wir nicht nur eine Seele, sondern jeder und jede kann auch Seele sein – gute Seele. Wie eine gute Seele in der Schule aussieht, was sie macht und was sie ausmacht, das wissen Sie besser als ich. Neben der Fachlichkeit sind wohl wichtig: Präsenz und Ausstrahlung, Gespür und Verständnis für die unterschiedlichsten Persönlichkeiten, ebenso viel Kraft zur Zuwendung wie zum Widerstand. Auf alle Fälle: Die „gute Seele“ ist ein Mensch mit Eigenschaften, keine Neutralitätsmaschine.
Bei Frank McCourt, dem amerikanisch-irischen Schriftsteller mit 30 Jahren Erfahrung als Lehrer, habe ich es so gelesen: „Ein Lehrer muss wie ein Künstler sein. Er muss seinen eigenen Stil und seine eigene Stimme finden. Wahre Autorität ist ein Mysterium. Eine Mischung aus Persönlichkeit, Sensibilität, Wissen, Stimmung.“ Ein „Mysterium“ ist so unsichtbar wie die Seele. Aber ob einer sie hat oder nicht hat, das nehmen Schüler wahr. Frank McCourt schreibt: „Schüler sind Experten. Sie sehen Lehrer kommen und gehen. Sie schauen dich an und können dich sofort einschätzen.“ Experten für das Unsichtbare, für das Mysterium, für die Seele.
Ob es zu gewagt ist, neben den individuellen Seelen auch von der Seele einer ganzen Schule zu sprechen? Kann Schule eine Seele haben? Manche würden es vielleicht Schulklima nennen. Aber bei Klima fällt mir gleich die Verbindung mit „Katastrophe“ ein. Und „Klima“ riecht irgendwie danach, zum Messen und zum Begutachten freigegeben zu sein. In Zahlen und Tabellen, mit Inspektionen und Evaluationen klimatische Anstiege oder Abstiege erheben und erfassen. Wenn ich mir ein „Klima“ in Schulräumen vorstelle, das möglicherweise ja auch schlecht sein kann, dann sehe ich schon welche mit einer Klimaanlage bereit stehen: Ein paar Rädchen einbauen, ein bisschen an den Schrauben drehen, ein paar Schalter umlegen oder Knöpfe drücken. So mechanisch geht das doch ganz im Innern einer Schule nicht!
Alles das, was Seele in einer Schule sein mag, ist zum Messen und Evaluieren wohl gar nicht geeignet, man kann es auch nicht wie mit Schalter und auf Knopfdruck mal schnell hoch und runter drehen oder verstellen. Alle kurzatmigen Wichtigkeiten sind mit hoher Wahrscheinlichkeit gar keine wirklichen Wichtigkeiten in der Schule. Und bei allen Zählmeldungen, die zum Schuljahresbeginn immer wieder Hochkonjunktur haben, ist es möglicherweise genauso. Mehr oder weniger Geld, steigende oder fallende Klassenfrequenzen, ausgeweitete oder reduzierte Computernutzung, Fülle oder Defizit an Quereinsteigern, längere oder kürzere Gymnasialzeit usw. Das alles mag so oder so sein. Den Kern der Schule, ich sage hier ruhig „die Seele einer Schule“ berührt das vielleicht alles nur so viel wie die Tangente den Kreis.
Was aber dann? Was bringt die Seele einer Schule zum Vorschein? Wie sagt C. G Jung? Bei der Seele handelt es sich um ein „undurchsichtiges Gebilde“. Sind in der Schule die Lehrerinnen und Lehrer diese „undurchsichtigen Gebilde“? „Undurchsichtig“ deshalb, weil eigentlich gar nicht so richtig zu fassen ist, wie und wodurch Lehrer eine Schule „beseelen“.
Aber Hinweise gibt’s. Zum Beispiel im Feuilleton einer Zeitung. Ehemalige Schüler hat man da nach ihrer Schule gefragt, 10, 20 oder 30 Jahre nach der Schulentlassung. Und über ihre Beschreibung der Lehrerpersönlichkeiten kam etwas von der Seele einer Schule zum Vorschein. Zum Beispiel die Seele einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Schule: In der Gestalt einer Lehrkraft, die für ihre Formeln an der Tafel mit großer körperlicher Leidenschaft die Kreide so ausgiebig nutzt und wischt, dass sie nach der ersten Stunde so aussieht „wie ein Bäcker nach der Frühschicht“. Trotz des Kreidestaubs sagt ein Schüler rückblickend: „Nie mehr habe ich gedacht, Mathematik sei eine trockene Materie.“
Zum Beispiel die Seele einer künstlerisch aufmunternden Schule: Da gibt’s eine Lehrerin, die auch die wirrsten Malkastenbilder kommentierte mit „So siehst du das also.“ Und dann in Rede und Antwort darauf – so beschreibt es eine Schülerin - „waren Fehler kein Versagen, sondern Anlass, es neu zu versuchen“.
Zum Beispiel die Seele einer der Literatur und der Kultur verpflichteten Schule: In der gelingt es einem Lehrer mit sehr persönlichen Berichten über sein „savoir-vivre“ zwischen Rotwein, Côte d’Azur und Vernissage Kultur als Verheißung zu vermitteln. Zitat: „Er hatte Familie, er hatte ein Leben, und er schaffte es, die Schule einen Schritt dorthin zu verwandeln.“
Oder zum Beispiel die Seele eines ganz am „doing gender“ ausgerichteten Sportlehrers: Der verpflichtete beim Fußballspiel die Jungen, die Mädchen ihrer Mannschaft so in Szene zu setzen, dass sie zum Erfolg kamen: Für das Spielergebnis zählten nur die Tore der Mädchen.
So hat „Seele“ immer etwas mit besonderer Beziehung zu tun, mit der Beziehung zur Sache oder mit der Beziehung zueinander. Bei Bart und seiner Seele spielt am Ende die Beziehung auch eine entscheidende Rolle: Bart Simpson sitzt am Ende vor seinem Bett und kniet. Und er betet. Er hat seine Seele verkauft, und er will sie zurück. Aber Milhouse hat sie weiterverkauft, und Bart weiß nicht an wen. Plötzlich flattert Bart ein Stück Papier auf die Bettdecke. Es ist das Blatt, auf das er „Seele“ geschrieben hat. Lisa, seine Schwester, hat die Seele zurückgekauft für ihren Bruder... Das Wiederfinden der Seele im Comic. Ganz praktisch. Ganz unspektakulär. Und ganz im Vertrauen. Sehen, was einem fehlt. Hören, was einer verloren hat. Teilen seiner Sorge. Helfen beim Wiederfinden.
Ganz am Ende übrigens verspeist Bart den Zettel mit seinem Wort Seele noch. Er will sie auf keinen Fall noch einmal verlieren. Er nimmt seine Seele zu sich, in sich auf, dorthin wo sie hingehört, auch wenn sie niemand beim Obduzieren finden wird. Aber Leib und Seele gehören eben zusammen. Amen.