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 St. Johannis Lüneburg, Hausgiebel

Ich glaube, hilf meinem Unglauben!

Predigt von Dieter Rathing über Markus 9,17-27

Die Heilung eines besessenen Knaben

Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. Und sobald die Menge ihn sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn. Und er fragte sie: Was streitet ihr mit ihnen? Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht. Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir! Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein! Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, sodass die Menge sagte: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.

In viele Bibeltexte, liebe Gemeinde, kann man mit einem einzigen Satz einfach hinein springen, und man findet sich gleich darin zurecht. Bei diesem Evangelium fällt das schwer. Die dort erzählte Heilung ist uns eher fremd. Deshalb kann man das Erzählte auch sehr leicht zur Seite schieben. Ein Dämon tobt. Ein Wundertäter taucht auf. Ein Exorzismus wird vollzogen. Das sind Elemente, die in ein ganz fernes, antikes Weltbild gehören. Man kann auch niemanden in diese Erzählung einfach hineintreiben: „Das musst du glauben!“ Besessene, oder sage ich es besser mit dem korrekten Krankheitsbild, Epilepsie, gibt es zwar heute auch noch. Und erstaunliche, unerklärliche Heilungsvorgänge kommen auch in der modernen Medizin vor. Aber wer weiß schon, wie solches Heilwerden wirklich passiert? Wer wollte seinen Glauben daran hängen? Wenn etwas an dieser Geschichte für uns leicht zugänglich ist, dann ist die Beschwerde des Vaters. Er sucht Hilfe für seinen Sohn, er findet sie nicht und er beschwert sich. „Meister, ich habe mit Deinen Jüngern geredet, dass sie den bösen Geist austreiben sollen, doch sie konnten’s nicht.“

Beschämend eigentlich, dass die Jünger nichts vermochten. Man erwartet, dass es anders sein sollte bei Jesu Jüngern! Eigentlich sollte es anders sein bei seiner Kirche - anders sein bei uns.
Jesus kommt in den Menschenauflauf, der sich um den kranken Jungen gebildet hat, und findet seine Jünger. Er findet sie allerdings nicht in Operation gegen den Quälgeist, nicht im Kampf um das Schicksal des Jungen oder im Kümmern um seine Familie, sondern findet sie als ohnmächtiges Häuflein. Jesus findet sie in Wortgefechten verwickelt, streitend mit den Schriftgelehrten, diskutierend mit der Menge, also letztlich hilflos, als welche, die es gegen die Not nicht schaffen. Die Jünger schaffen es nicht, wie wir es so oft nicht schaffen. Sie können dem Menschen nicht helfen. Vielleicht haben sie den besten Willen, mag sein sie experimentieren mit vielen Methoden. Aber wenn Jesus dazukommt und nachguckt bei seinen Jüngern, bei seiner Kirche, dann findet er ein hilfloses Häuflein, bestenfalls noch in Wortgefechte verwickelt, diskutierend mit der Menge, aber letztlich als welche, die es - wieder einmal - nicht schaffen gegen die Not, gegen die Krankheit, gegen die Erwartungen, gegen das, was Menschen an sie herantragen, anschleppen, vor ihren Füßen abladen.
Jesus kann’s nicht glauben: „Du ungläubiges Geschlecht. Wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange euch noch ertragen?
Das ist mehr als ein kopfschüttelnder Seufzer. Das ist Jesu Klage über die Kirche. Wie lange soll ich euch so noch ertragen? Man muss sich das mal klarmachen: Der Jesus, der nach allem, was wir von ihm wissen, ein Abschreiben, ein Aufgeben, ein Verlorengeben von Menschen überhaupt nicht kannte, der fragt, wann endlich der Augenblick kommt, da er uns wieder los ist! Jesus bedauert nicht nur, dass er mit uns mal nichts anfangen kann, sondern: er hat uns satt, wir sind ihm eine Last! Wie lange soll ich euch so noch ertragen?
Liebe Gemeinde, wir befinden uns mit diesem Gedanken hart am Rande des Evangeliums. Was hier noch „frohe Botschaft“ sein soll, leuchtet einem nicht ohne weiteres ein. Allenfalls hilft es uns zu einer Ehrlichkeit, zur Ehrlichkeit mit uns selbst. Denn so wie die Jünger, so bleibt die Kirche, so bleiben wir als Christen hinter unseren Möglichkeiten zurück. Ich auch. Und deshalb gehe ich dann gelegentlich auch eher kleinlaut als munter, eher bekümmert als zuversichtlich, eher mit schlechtem als mit gutem Gewissen durchs Leben. Gerade, wenn ich etwas ahne von der Kraft und von der Möglichkeit des Glaubens, dann leide ich unter der eigenen Glaubensarmut. Gerade, wenn ich von der Stärke des Evangeliums überzeugt bin, leide ich an meiner Ohnmacht und der Erfolglosigkeit meiner Kirche. Wer, der darüber nicht auch bedrückt wäre. Wer, der daran nicht - zumindest hin und wieder – leiden würde.

In aller Bedrückung steckt aber nun ein gutes Teil des Glaubens. Das muss man jetzt auch hören. Und das darf man nicht vergessen. Gerade, wenn du dich am Rand siehst, dann ist das ein Hinweis auf die Mitte. Gerade dann, wenn du spürst: „Ich bin nicht im Kraftfeld des Glaubens“, dann weißt du am besten, dass es solch ein Kraftfeld gibt. Gerade dann, wenn du bedrückt bist über alles Dürftige und Hilflose in deinem Glauben, dann ahnst doch, dass es im Glauben Macht und Kraft und Potential gibt. Der Hirsch, der – wie es in einem der Psalmen einmal heißt – nach frischem Wasser lechzt, kann nur deshalb nach diesem Wasser lechzen, weil er weiß, dass es dieses Wasser gibt. Wichtig ist, dass du dich nicht mit deinem „Durst“ abfindest: „Ich bin ich in Dürftigkeit, also bleibe ich in Dürftigkeit, ich bin ich in Bedrückung, also bleibe ich in Bedrückung, ich bin am Rand des Glaubens, also bleibe ich da.“ Sondern, dass du daran festhältst, da ist eine Mitte, da ist ein Kraftfeld, ein Heil, einer, der was wenden, was umdrehen, was zum Guten tun kann.

„Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich und hilf.“ Das ist die Stimme des Vaters, der von diesem Heil in der Mitte etwas weiß, an diesem Heil festhält, ohne es schon zu erfahren. Er wird nun von Jesus in das Heilungsgespräch hineingezogen. Erst einmal kann der Vater erzählen, und Jesus nimmt sich Zeit zuzuhören. Wie es bei dem Jungen als Kind schon anfing mit der Krankheit, die hin und her reißt zwischen Feuer und Wasser. Und man kann sich vorstellen, wie mit diesem Hin- und hergerissen sein die ganz Familie mit berührt ist. Wie alle Fürsorge auf dem Jungen ruht – und dann die Ohnmacht, wenn es wieder zu einem Anfall kommt. Die Erleichterung, wenn die Erstarrung sich löst – und die Angst vor dem nächsten Mal. Zu jeder Art von Heilung, zu jeder Art von Not-Wendung, zu jedem Hilfe-Handeln gehört die ganze Geschichte, gehört das aus was sich die Krankheit, die Not zusammensetzt ja mit dazu. Und dazu gehört eben auch, das erzählen zu können und das (mit-)anhören zu wollen.

„Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich und hilf“ „Was heißt: Wenn du kannst“ sagt Jesus. „Alle Dinge sind möglich, dem der glaubt.“ Und so als wollte der Vater des kranken Jungen sich das nicht zweimal sagen lassen, ehe er sich versieht, und ehe er denn zum Nachdenken darüber kommt, was er denn wohl glaubt, schreit der sich in den Glauben hinein. „Und sogleich schrie der Vater: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Dieses Wort vom ungläubigen Glauben ist eines der tröstlichsten Worte der Bibel. Wir sind ja geneigt, sobald das Wort „Glauben“ fällt, schnell an Glaubensinhalte zu denken, an Definitionen, an theologische Aussagen, an Bekenntnisse. Daran meinen wir, den Glauben wie mit einer Messlatte in Höhe, Tiefe und Breite ausloten zu können. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Damit kann man sich wieder einmal erinnern lassen, dass „Glauben“ sich nicht aus einer Summe von Katechismusantworten zusammensetzt. Dein Glaube, das ist was ganz anders. Dein Glaube, der ist nicht aus Scharfsinn geboren, sondern eher aus Not. Dein Glaube, das ist eher ein Flehen und ein Hoffen, denn ein Bescheidwissen. Dein Glaube, der ist weniger feierliches Rezitieren, von dem was da ist, als viel mehr suchendes Hingreifen nach dem, was du noch nicht siehst. Glaube, das ist mehr eine Bedürftigkeit als etwas, das du schon vorweisen kannst. Ich glaube, hilf meinem Unglauben.

Ein zweites ist damit verbunden. Der Unglaube streicht den Glauben nicht durch. Mein Unglaube, mein „immer wieder Gott nicht fassen können“ gehört zum Glauben mit dazu. Es ist nicht Art des Glaubens zweifelsfrei zu sein. Mein Glaube, das bleibt gewissermaßen immer eine Glaubens-Unglaubens-Wippe, und oft genug kann darauf oft nur unsicher balancieren. Zwischen „Ich glaube“ und „Hilf meinem Unglauben“. Niemand sollte allerdings mit diesen „Unglauben“ kokettieren. Der Glaube ist nicht erst dann ehrlich und wahr, wenn er möglichst ständig und heftig von Zweifeln geplagt ist. Der Zweifel ist kein Ritterschlag des Glaubens. Wir dürfen durchaus von ganzem Herzen sagen: „Lieber Gott, ich glaube an dich.“ Er hat bestimmt nichts dagegen. Nur: wenn dein Glaube eben gerade nach unten wippt, dann
gehört auch dieses „nach unten“ mit in den Glauben hinein.

Aber nun? Kann ich denn alles, wenn ich glaube? Das steht ja wirklich so da. „Alle Dinge sind möglich, dem der da glaubt.“ Und der Satz ist zum geflügelten Wort geworden. eistens wird er mit einer gehörigen Portion Spott zitiert. Dieser Spott will uns dann einreden, der Glaube sei so etwas wie ein spirituelles Kraftmeiern, dass man je nach Bedarf einsetzen kann, einsetzen können müsste, um die Dinge zu seinen Gunsten zu bewegen. „Alle Dinge sind möglich, dem der glaubt.“ Zweifellos kann das folgenschwer missverstanden werden. Missverstanden als Aufforderung zu einem „Glauben“ an uns selbst. Zu einem Aberglauben, der sich selbst die Lösung aller Probleme zutraut. Dass wir mit unserem Glauben die Kirche retten, dass wir mit unserem Glauben allen Frieden, alles Heil und alle Gesundheit bewirken können. Das ist Aberglaube. Man muss nur noch einmal auf das Ende der Erzählung von dem epileptischen Jungen schauen. Zweifellos sind alle sofort davon überzeugt, dass hier Heilung geschehen ist. Es ist Heilung geschehen! Aber dass der Junge nach einem Anfall wieder auf die Beine kommt, viele Male vorher muss die Familie das schon erlebt haben. Von Heilung ist die Rede, ohne dass berichtet werden könnte auch nach Monaten, nach Jahren kam es zu keinem Rückfall. War nun der Junge für immer gesund? Bekam er keine Krämpfe mehr? Oder konnten die Seinen nun anders mit ihm umgehen?
Macht Glauben gesund? - Oder lässt Glauben mit Krankheit leben?
Füllt Glauben die Bodenlöcher vor uns aus? - Oder lässt Glaube sichere Schritte tun über
Bodenlöcher hinweg?
Schenkt der Glaube die Lösung der Probleme? - Oder erlöst uns der Glaube davon, alle
Probleme selbst lösen zu müssen?
Kann ich alle Lebensnot wenden, wenn ich glaube? - Oder kann ich im Glauben durch
alle Not hindurch leben?
„Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben.“ Amen.