Ansprache von Dieter Rathing zur Eröffnung des Wichern-Adventskranzes

Mit dem Wichern-Adventskranz hier auf dem Lüneburger Wasserturm können wir viele große Worte verbinden. Wir können sagen, dass dieser Adventskranz zur Kulturvergewisserung beiträgt: Wir pflegen einen Festbrauch, der 1839 von Johann Hinrich Wichern eingeführt wurde. Der Hamburger Theologe und Erzieher hatte sich einiger Kinder angenommen, die in großer Armut lebten. Er zog mit ihnen in das Rauhe Haus, ein altes Bauernhaus, und betreute sie dort. Als die Kinder in der Adventszeit immer wieder fragten, wann denn endlich Weihnachten sei, baute er aus einem alten Wagenrad einen Holzkranz mit kleinen roten und vier großen weißen Kerzen. Jeden Tag der Adventszeit wurde eine weitere Kerze angezündet, an den Adventssonntagen eine große Kerze mehr, sodass die Kinder die Tage bis Weihnachten abzählen konnten. So können es die Kinder auch am Wasserturm tun.
Wir können sagen, dass wir mit dieser Lichtinstallation ein Zeichen setzen für christliche Werte: Den nächsten Menschen nicht übersehen und die fernen Menschen nicht vergessen. Wir können sprechen von einem Leuchtsignal für das diakonische Handeln der Kirche: Johann Hinrich Wicherns Lebenswerk, Kindern in Not zu helfen, setzt sich hier in der Region in der Arbeit des Diakonieverbands der Kirchenkreise Lüneburg und Bleckede fort. Wir können sagen, dass wir ein Zeichen setzen für das Licht, das durch Jesus Christus in die Welt kam.
Das ist alles richtig. Aber statt der vielen großen Worte finde ich drei kleine Worte, die mit dem Wichern-Adventskranz auf dem Wasserturm verbunden sind, viel aussagekräftiger: „Gedichte für Wichte“. Diese drei Worte stehen für das Projekt des Netzwerks Leseförderung Lüneburg, Kinder bis zu drei Jahren in die Welt der Sprache und der Bilder einzuführen. Drei Gedanken möchte ich mit den Gedichten für Wichte verbinden.
Der erste Gedanke: Zu den Kindern. Zunächst könnte man ja meinen, Kinder in die „Welt der Sprache“, des Lesens und des Lernens aus Büchern einzuführen, das habe nur etwas mit Subjekt, Prädikat und Objekt zu tun, mit richtiger Orthografie und Interpunktion, mit Deklinieren und Konjugieren, mit Syntax und Semantik. Sog. „Messergebnisse“ von Schulstudien erwecken diesen Eindruck. Aber solche Schulstudien sagen ja möglicherweise ebenso wenig über gute Bildung aus, wie eine Kalorientabelle einem sagt, was gutes Essen ist. Wenn wir Kinder die Welt von Prosa und Poesie nahebringen, dann sagen wir etwas ganz anderes. Dann sagen wir ihnen: Wenn ihr die Silben eines Dichters buchstabiert, werdet ihr fähig später einmal die Worte eurer Freundin zu verstehen. Wenn ihr die Sprache von Zeichen, von Symbolen erlernt, dann fangt ihr an, im Herzen eines Menschen zu lesen. Wenn ihr euch tragen lasst vom Rhythmus einer Musik vom Rhythmus eines Reims, dann beginnt ihr ein Gefühl zu bekommen für den Rhythmus eurer Seele. Und jeder von uns ahnt, wie wichtig solche Art von „Bildung“ ist, in einer so praktisch und so sachlich gewordenen Welt, wie der unseren. Und wie nötig es ist, Kindern so etwas wie Herzensbildung beizubringen.
Der zweite Gedanke ist mit uns Erwachsenen verbunden. Ich habe jetzt die Erwachsenen vor Augen, die mit den Kindern über Lieder, Reime und Gedichte an ihrer Sprechfähigkeit arbeiten. Bei „Gedichten“ denken wir an Poesie und an die gedankliche Produktion von schönen Texten. Aber das griechische Wort, von dem der Begriff Poesie abstammt, hat sehr viele Bedeutungen. Nur eine davon, und nicht die wichtigste, heißt „dichten“ oder „erdichten“. Die anderen Bedeutungen haben mit „machen“ zu tun und mit „tun“, etwas tun.
diakonischen Bereich der Ästhetik. In dieser Poesie es Tuns ist es auch schön, mit Kindern zu singen, ihnen vorzulesen und ihre Fantasie anzuregen. Ein ganz eigener Bereich der Ästhetik ist es, Herz und Verstand eines Kindes zu bilden. Ich möchte allen einen großen herzlichen Dank sagen, die daran durch ihr schönes Tun mitwirken.
Mein dritter Gedanke schließlich verbindet uns Erwachsene mit den Kindern. Für gewöhnlich sehen wir alles was mit Bildung und Erziehung zu tun hat in einem Gefälle von uns Erwachsenen zu den Kindern hin. Wir erziehen die Kinder zu uns hin, denken wir. Das tun wir auch. Aber es gibt bei genauem Hinsehen gibt es auch das Umgekehrte: Kinder formen, prägen und beeinflussen uns. Wenn Sie so wollen: Kinder haben eine Erziehungskraft auf uns Erwachsene. Fangen wir nur einmal beim Essenstisch an. Kinder bringen uns Tischmanieren bei. Weil sie uns so wunderbar kopieren. Kinder machen beim Essen nach, was wir machen. Deshalb benehmen wir uns bei Tisch besser, wenn Kinder dabei sind - Sie wissen schon: Messer ablecken und ähnliche „Unsitten“... Oder ist Ihnen die erfolgreiche Erziehung von jungen Frauen und jungen Männern durch ihre Kinder schon einmal aufgefallen? Die kleinen Zwerge schaffen es, dass aus zickigen Töchtern pflichtbewusste Mütter werden und aus ziemlichen Rabauken zärtliche Väter. Kinder zwingen uns, für ein Anderes zu sorgen, sie nötigen uns zu planen, verantwortlich zu sein, sie nötigen uns erwachsen zu werden.
Kinder machen wichtig, was wir denken. Kinder formen unsere Worte nach, führen unsere Gesten vor und machen unsere Macken nach. Kinder bewegen uns, immer wieder über Gut und Böse nachzudenken, sie halten uns den Spiegel unserer erwachsenen Unarten vor, weil sie ganz schlicht fragen: „Warum machst du das so? Warum hast du das getan?“ Kinder erziehen uns zu mehr Menschlichkeit. Wie wir als Erwachsene unsere Eltern ehren oder eben nicht, so werden unsere Kinder es sich merken, wie man sich zu Eltern verhält. Ob wir Respekt haben vor der Einzigartigkeit des anderen Menschen, ob wir das Fremde für gleichwertig achten, oder ob wir fremdeln aus Unsicherheit, das gucken sie uns ab, und halten es uns dann wieder vor.
Kinder sehen darauf, wie zu Hause miteinander umgehen. Wenn wir viel meckern und ermahnen, werden sie viel meckern und ermahnen. Wenn wir viel loben und Gutes sagen, werden sie viel loben und Gutes sagen können. So bringen Kinder für uns Erwachsene Besserungskraft mit. Kinder können Erwachsenen sogar die Angst vor Spinnen aberziehen, wenn sie nicht schon vor aller eigenen Erfahrung mit den Spinnchen den spitzen iiii-Schrei der Erwachsenen haben gellen hören.
Oder denken Sie an manches Ducken und Buckeln vor sogenannten prominenten oder wichtigen Leuten, wie herrlich direkt und unbefangen können Kinder mit ihnen umgehen.
Apropos Abgucken, spielen Sie mit Kindern oder Enkeln jetzt im Advent doch mal wieder Memory? Sie wissen schon: jeweils zwei von vielen verdeckt liegenden Karten sind immer gleich, und die beiden gleichen müssen gefunden werden. Warum nur kriegen das die Kinder so viel besser hin als wir? Vielleicht weil wir so oft an tausend andere Dinge gleichzeitig denken, zerstreut sind? Kinder lehren uns, – mag sein oft erfolglos – aber sie lehren uns Konzentration, lehren uns, ganz da und ganz hier, ganz gegenwärtig und präsent zu sein.
Kinder lehren uns auch, zärtlich und friedlich zudenken. Erinnern Sie sich nur mal daran, Kinder schlafen zu sehen. Wie der schlichte Anblick die menschlichsten und friedvollsten Gedanken in uns auslöst.
Schließlich, Kinder machen uns Erwachsene fromm. Bei ihrer Geburt staunen wir über die Schöpfung, bei ihren Fragen kommt uns der „liebe Gott“ mal wieder in den Sinn und über die Lippen, vor ihnen fangen wir an Jesus-Geschichten zu erzählen, sie bringen uns gelegentlich zum Händefalten, und mit ihnen zusammen entdecken wir neu die Kraft einer Kerze. Der Kraft der Kerzen ist der Wichern-Adventskranz 2011 verbunden. Gott segne alles, was durch ihn an guten Gedanken und an gutem Tun unter uns erwächst!