kopfgrafik-johannis-chororgel

Chororgel, St. Johannis Lüneburg

Keine Gotteserfahrung ohne Auftrag

Dieter Rathing: Predigt über Jesaja 6,1-8 am 19.06.2011 zum Abschied aus Verden

In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!
(Jesaja 6, 1-8)

Liebe Gemeinde, erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Das trifft heute Nachmittag zu. Eigentlich sind Sie ja nur in den Verdener Dom gekommen, aber ich muss Sie jetzt gleich von hier heraus ganz weit weg führen. „Lüneburg“ werden jetzt welche vielleicht wittern. Ach, wenn es nur diese Entfernung wäre!

Sie sind hier zusammengekommen, viele sind miteinander vertraut, und Sie kennen sich, treffen bekannte Gesichter wieder. Aber ich muss Sie gleich mit einem ganz, ganz fremden Anderen bekannt machen. Sie erwarten vielleicht viel an freundlicher Nettigkeit heute Nachmittag, aber ich muss Ihnen gleich vor Augen stellen, wie mit glühenden Kohlen an einem Menschen hantiert wird. Verstehen Sie? Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.

Nach der Ordnung unserer Kirche ist an diesem Sonntag nach Pfingsten (Trinitatis, Dreieinigkeitsfest) für das Nachdenken in der Predigt ein Abschnitt aus dem Prophetenbuch des Jesaja vorgesehen. Jesaja schildert dort eine Vision, eine geistige Schau, die ihn in den Himmel führt. Also, über Verden und Lüneburg gucken wir heute Nachmittag locker hinaus. Es wartet auf uns ein ganz Anderer, und nur nett geht’s da nicht zu.

Wir haben es vorhin in der ersten Lesung gehört: Jesaja sieht Gott „sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron.“ Aber das war’s dann auch schon, was er von Gott selbst und von ihm ganz unmittelbar in Worte fassen kann. Denn dann beschreibt Jesaja eigentlich nur noch ein „Drumherum“. Von einem „Saum“ ist die Rede, von Engeln mit sechs Flügeln spricht er und vom Rauch, der das Haus erfüllt. So richtig schlau wird man daraus nicht. Vieles bleibt verhüllt.

So wie vieles verhüllt bleibt, wenn unsereiner anfängt, von Gott zu reden. Zum Beispiel hier auf der Kanzel. Nicht, dass ich mir keine Mühe gegeben hätte! Wen aber beim Predigthören in den vergangenen zehn Jahren gelegentlich das Gefühl beschlichen hat, ihm wäre da noch manches verhüllt geblieben („Ganz schlau bin ich daraus heute nicht geworden“), der liegt schon ganz richtig. Denn mehr können wir nicht als Predigerin und als Prediger. Wir können nicht mehr als das „Drumherum“ beschreiben. Manchmal kriegen wir vielleicht den Flügel eines Engels zu fassen, und der Engel gestattet uns, damit etwas zu wedeln. Wenn’s gut geht, haben wir mal einen Zipfel vom Saum des Gottesgewands zwischen den Fingern, und der Träger erlaubt uns zu spekulieren, wie das ganze Gewand wohl aussehen könnte, in das er gehüllt ist. Aber das ist es dann oft auch schon.

Zusammen mit Jesaja sehen wir nicht mehr als das „Drumherum“ des für unsere Augen verhüllten Gottes, zusammen mit Jesaja werden wir nicht mehr als der Bruchstücke des Himmels ansichtig, und jeder von uns hat kaum mehr bei sich als kleine Fragmente eines großen Glaubens. Enttäuscht vom Himmel? Enttäuscht vom Glauben? Von der Kirche?

Denken Sie: Jetzt ist der Jesaja mit seinem geistigen Auge schon mal im Himmel – und dann nur das? Nur das Drumherum? Und nichts davon, wie Gott nun wirklich ist? Haben Sie auch schon einmal gedacht: Jetzt bin ich schon mal in der Kirche, im Gottesdienst – die biblischen Bilder sind groß, die Worte erhaben, die eigene Erwartung hoch – aber bei einem selbst: dann nur das!? Nur das bisschen fromme Gefühl, nur das Wenige an Glaubenkönnen. Nur mein kleines Gottvertrauen. Ist das nicht alles nur Bruchstück? Nur unvollkommenes Fragment?

Jetzt, bei solchen Gedanken, liebe Gemeinde, müssten wir einen hier haben, der sich auskennt. Der sich auskennt nicht im Himmel, sondern auf der Erde, am besten noch ein Stück unter der Erde. Wir müssten einen Archäologen hier haben. Wissen Sie, was Archäologen an Freudentänzen aufführen, wenn sie „nur“ das Bruchstück einer Vase finden, einer Statue, oder „nur“ das Fragment eines Gebäudes? Die kriegen dabei Tränen in die Augen, ihnen laufen Schauer über den Rücken? Aber sie haben doch nur ein Bruchstück zwischen den Fingern …!

Archäologen schließen vom Bruchstück auf das Ganze. Wenn sie eine Scherbe in der Hand haben, sehen sie die ganze Vase. In den Fragmenten schimmert die Schönheit des Ganzen durch. Jesaja sieht nur den Zipfel des Saums. Aber von dem schließt er auf die ganze Fülle der Gottheit und weiß: Da sitzt er. Das Drumherum reicht ihm als sicheres Zeichen für Gott selbst. Können wir das? Gelingt uns das?

Von den kleinsten Zellen, den Grashalmen und dem Vogelgezwitscher bis hinauf zu Schwester Sonne und Bruder Mond und wieder hinunter zur Mutter Erde - in Bruchstücken, durch alle Risse hindurch, fragmentarisch Gott, den Schöpfer sehen? Können wir das? Gelingt uns das?

30 Jahre eines Lebens, das Fragment geblieben ist. Mutter Maria, Vater Josef, kleiner Wanderprediger in einem krummen Winkel der Erde, kein Orden, kein Ehrenzeichen, kein Ort, wo er sein Haupt hätte hinlegen können, das Ende am Kreuz. Im kleinen Menschen Jesus den großen Gottessohn Christus sehen, im unscheinbaren Rabbi den wunderbarsten Menschen, der je die Erde betreten hat, Heiland der Welt, mein Herr und Gott. Können wir das? Gelingt uns das?

Wenn Zerstrittene sich versöhnen oder wenn Unversöhnte ihren Schmerz formulieren, wenn jemand im Scheitern Hilfe erfährt oder im Gelingen ein Dankgebet sprechen kann, wenn Unfriedliche friedlich werden oder Friedliche den Frieden weitertragen, ganz unscheinbar, ganz bruchstückhaft, ganz fragmentarisch … - darin Gottes ganze große Barmherzigkeit sehen, darin seinen ganzen Heiligen Geist auf kleiner frischer Tat. Können wir das? Gelingt uns das?

Liebe Gemeinde, mehr können wir nicht, und mehr müssen wir auch nicht. Predigen und Glauben im Fragment. Und in der Kirche ist es auch so. Unsere Diakonie und unsere Partnerschaften mit Südafrika – Nächstenliebe im Fragment. Konfirmandenunterricht und „Lange Nächte der Kirchen“ – wenn Sie so wollen „bruchstückhaftes Drumherum“ – und jeder Dienst eines Pastors auch nicht mehr als das. Aber jedes Einzelne – so wie der Saum des Gewandes und die Flügel der Engel – ein untrügliches Zeichen: Der Thron ist nicht leer, wie manche frech behaupten, und wie andere verzagt befürchten. Da kannst Du gewiss sein: Der ist besetzt. Da kannst Du drauf setzen: Da sitzt einer.

Und jedes, jedes Fragment, das wir von ihm in Händen haben, lohnt es, ganze und große Freudentänze aufzuführen – auch Tränen in den Augen, auch Schauer auf dem Rücken. In kirchlich angemessenen Tun bedeutet „Gott einen Freudentanz aufführen“: Ihm „Heilig, heilig“ singen. Mehr geht nicht. Ihm „Heilig, heilig“ singen. Mit Mendelssohn oder in der h-Moll-Messe von Bach. Aber am besten vom Domchor. Ihr Sängerinnen und Sänger seid des Himmels Engel hier im Hause - im feinen Fragment. Mit der Stimme ihres Rufens sind es die Posaunen auch – im kräftigen Fragment. Und Beate Grotheer, die Küsterin, ist auch nicht nur Schall und Rauch – jeder Dienst hier im Haus ist auf seine Weise ein Freudentanz, ein „Heilig, heilig“ – im schönen Fragment.

Und wir, die wir das hören, die wir daran anteilnehmen, die wir mitsingen, werden so des Ganzen gewiss, des Vollkommenen, unseres Gottes, dem Vater, Sohn und Heiligen Geist. „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“ Das ist kein in den Himmel gespiegeltes Wunschbild von uns Menschen. Wenn überhaupt einer heilig ist, wer soll es denn sonst sein? Wer, wenn nicht er? Im deutlichen Unterschied zu unsereinem, der nun so gar kein Heiliger ist. Und alle Heiligenscheine, die wir über manchem von uns zu sehen meinen, sind von Scheinheiligkeit oft nicht so ganz weit entfernt. Und da muss man gar nicht an vermeintliche Lichtgestalten denken – Verteidigungsminister, Wettermoderatoren oder ähnliche –, man kann schlicht ganz bei sich selbst bleiben. 

Auch wenn keiner sagen wird, bei uns sei nun alles nur tiefe, dunkle Nacht. Aber ist das nicht fast noch schlimmer? – dieses Zwielicht von hell und dunkel, das dauernde Durcheinander von Gelingen und Misslingen, von „mitten ins Ziel getroffen“ und „Schuss in den Ofen“? Ich weiß von Momenten bei mir, in denen ich vor lauter gutem Gelingen hätte Purzelbaum schlagen können. Aber genau so viele Momente kenne ich, in denen hätte ich mich am liebsten im nächsten Erdloch verkriechen wollen, weil da, was das Gelingen betrifft, eben nicht einmal mehr Fragment zu erkennen war.

Unheiliges im Schein von Heiligkeit. Kein Ruhmesblatt inmitten viel Rühmens. Manches zu tadeln, auch wenn es lobesam schien. Ich weiß das. Und wer sonst noch das von sich selbst auch weiß, der ahnt, weshalb Jesaja einen Engel braucht. Den Engel mit der glühenden Kohle, mit der Zange vom Altar genommen … und rührte damit seine Lippen an. Das fühlt sich nicht nett an. Das tut nur noch weh. Wozu braucht’s das? Dass es in der Kirche auch noch weh tut? Und dann auch noch an den höchst empfindlichen Lippen?

Für die Lippen haben wir ja erst einmal andere Vorstellungen, was man mit ihnen tun kann. Mit Cliff Richard und seinen Shadows zum Beispiel: „Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da! … sind dem siebten Himmel ja so nah.“ Statt „lucky lips“ hier nun aber verbrannter Mund durch „glühende Kohle“! Glühende Kohle um anzudeuten, da kommt uns manchmal mehr über die Lippen als mit Wasser abzuspülen wäre. Und andersherum: Da gibt’s oft mehr Wahrheit zu sagen, als uns über die Lippen kommen will. Und nur mit Bussi links und Bussi rechts ist nicht aus der Welt zu bringen, was sich an Unheiligem in Gedanken, Worten und Werken so ansammeln kann. Da braucht’s dann schon mal den Weg, der auch über glühende Kohlen geht. Es mag und es muss dann auch weh tun. Manchmal führt nichts daran vorbei.

„Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei“, heißt es bei Jesaja. Schuld, die uns vergeben wird, und Schuld, die wir anderen vergeben, damit kommen wir weiter! Jesaja kommt sogar so weit damit, dass er sich für Weiteres Gott zur Verfügung stellt. „Hier bin ich. Sende mich!“ sagt er. Jesaja wird so frei, einen neuen prophetischen Auftrag entgegen zu nehmen.

Jetzt sind wir keine Propheten. Keiner von uns ist Jesaja. Aber wir übersetzen aus seiner Gottesbegegnung, was in unser kleines Leben hinein übersetzbar ist. Und da meine ich, dass immer noch keine Erfahrung, die wir mit Gott machen, ohne Auftrag sei. Ich glaube nicht, dass mir Gott einen Menschen, an die Seite gibt – ohne Auftrag. Ich glaube nicht, dass du glückliche Tage vor Gottes Angesicht erlebst – ohne Auftrag. Ich glaube nicht, dass Gott auch nur einen unter uns schwere Zeiten erleben lässt – ohne Auftrag. „Hier bin ich, sende mich!“

Und Auftrag kann es sein, dass einer sein Herz nicht dem Danken verschließt, dass er sein Leben nicht ärmer macht um das Gotteslob. Auftrag kann es sein, dass einer im Unglück danach sucht, ob es nicht einen Grund gibt, die Hände zu falten. Auftrag kann es sein, dass einer allem Jammer zum Trotz – von dem es in dieser Welt wahrhaftig genug gibt –, dass einer allem Jammer zum Trotz sich daran hält, dass immer noch Gottes guter Wille und sein Erbarmen über dieser Erde sind. Und: Auftrag kann es sein, hier heute unter dem Segen Gottes anständig voneinander Abschied zu nehmen.

Damit es nun noch einmal anders kommt, als Sie vielleicht denken, möchte ich Abschied nehmen mit der schönen Vorstellung – auch eines Fragments –, mit der Vorstellung eines Kusses. Unsere mehr oder weniger roten Lippen sind ja rein … Mit einem anständigen Kuss, der nun aber nicht, wie heute oft üblich, nur ein doppelter ist. Wange links, Wange rechts. Und das war’s dann. Nein, für meinen Abschiedskuss müssen Sie sich der alten Sowjetkommunisten erinnern. Manche von denen wurden noch in einem Priesterseminar erzogen. Die hatten zumindest noch eine Ahnung vom christlichen Ursprung dieses Brauches, wenn sie sich nicht nur mit zwei, sondern eben mit drei Küssen verabschiedeten: links, rechts, links … Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Fragmentarische Erinnerung an die heilige Dreifaltigkeit. So im Fragment stelle ich mir einen anständigen Abschiedskuss vor.

Verstehen Sie ihn nicht nur als „nett“, sondern durchaus mit viel Sympathie und mit kräftiger Leidenschaft. Aber bitte sehr, in diesem Fall ausschließlich: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Predigt von Dieter Rathing am 19. Juni 2011 in Verden