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 Kanzel, St. Johannis Lüneburg

Anfang unter Tränen

Dieter Rathing: Predigt über Lukas 19,41-48 zur Amtseinführung am 28.08.2011 in St. Johannis, Lüneburg

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Dieter Rathing auf der Kanzel der Lüneburger St. Johanniskirche: Predigt aus Anlass der Amtseinführung am Israel-Sonntag, 28. August 2011. Foto: Hartmut Merten

Und als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und akeinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist. Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur aRäuberhöhle gemacht. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten, und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn. (Lk. 19,41-48)

Liebe Gemeinde, um ehrlich zu sein: So habe ich mir das hier heute am Anfang nicht vorgestellt. Sie und ich, das ist schon in Ordnung, die Bläsermusik zum Einzug, die Segensworte vor dem Altar und das „Fürchte

dich nicht“ als Motette eben vom St. Johannis-Chor – wunderbar! Freudige

Feierlichkeit hier in St. Johannis.

Wir freuen uns - aber einer weint. Den Anfang des Evangeliums, das unsere Kirche für diesen Sonntag vorsieht, wird ja niemand überhört haben: „Als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt Jerusalem und weinte über sie ...“

Kann unsereins unter den Tränen Jesu anfangen? Und wir alle zusammen:

Können wir etwas anfangen mit einem heulenden Heiland? Heute?

Wenn Tränen fließen, dann ist es erst einmal wichtig zu wissen, warum ein

Mensch weint. Jesus weint über Jerusalem. Er tut das – über zwei

Jahrtausende hinweg – heute noch. Denn wer in unseren Tagen vom Ölberg

hinuntergeht nach Gethsemane – den Blick auf die Türme und Kuppeln der

Stadt –, er kommt an der Kapelle „Dominus flevit“ vorbei, zu Deutsch: „Der

Herr weinte“. Die Kapelle ist den Tränen Jesu über Jerusalem gewidmet.

Und kaum jemand kann heute aufrichtig nach Jerusalem gehen und nicht

berührt sein vom Unfrieden, der über dieser Stadt und dem ganzen Land

Israel Palästina liegt.

Die Klage Jesu hat eine erschreckende Nähe zur

Gegenwart. Denn immer noch scheint niemand zu wissen, was Jerusalem,

was dem Heiligen Land und was dem ganzen Nahen Osten zum Frieden

dient. Im Gegenteil: Unter dem Eindruck der täglichen Gewalt scheint alle

Orientierung darüber verloren, wie es auch anders sein könnte.

Als Christen in Deutschland sind wir jedoch nicht gut geeignet, Ratschläge

zum Frieden dort zu geben. Denn der heutige Staat Israel kann kaum

anders, als unseren Friedensvorschlägen zu misstrauen. Noch immer werden

wir danach gefragt, wie ernst uns die Absage an den Antisemitismus ist.

Auch in Lüneburg. Zum Beispiel mit einem Netzwerk gegen

Rechtsextremismus. Oder in Hermannsburg. Dort eröffnet das Ev.-luth.

Missionswerk heute Abend eine Ausstellung über „Stationen des

Antijudaismus“ vom 3. Jahrhundert bis in unsere Tage.

Als Christen wollen wir inmitten aller politischen Diskussionen keine

Rechthaber sein. Wir halten uns an den weinenden Jesus.

Wer weint, hat

nicht Recht, sondern vor allem Kummer.

Und so mühen wir uns in Kummer um Geschwisterschaft mit allen Kindern

Gottes. In der Ferne und in der Nähe. In der Ferne des Nahen Ostens: Mit

denen, für die ihre Heimat Israel heißt, und mit denen, die ihr zu Hause

Palästina nennen. In allen Menschen spiegelt sich das Antlitz Gottes wider.

Ohne Ansehen der Religion. Hier bei uns im eigenen Land: Geschwisterschaft

ohne Ansehen von kultureller Herkunft, von Hautfarbe oder geschlechtlicher

Orientierung. In allen Menschen spiegelt sich das Antlitz Gottes wider.

Im Ansehen von Jesu Tränen erblicken wir aber noch mehr als das Antlitz

Gottes. Wenn der Jude Jesus weint, dann weint da nicht nur ein Mensch,

sondern dann weint da der Gottessohn, dann weint dort Gott selbst. Können

wir mit seinen Tränen etwas anfangen? Mit Tränen des Allmächtigen?

Mächtige weinen doch nicht – schon gar nicht öffentlich. Altbundeskanzler

Helmut Schmidt hat einmal – Jahre später, rückblickend auf die

Flugzeuggeiselnahme von Mogadischu – sich dazu bekannt, dass er nach

dem glücklichen Ausgang der Geiselbefreiung geweint habe. Und dann vom

Journalisten befragt, warum er das erst sehr lange nach seiner aktiven Zeit

eingestanden habe, antwortet Helmut Schmidt. „Hätte ich das als Kanzler

getan, hätte mein Weinen das Vertrauen der Menschen in mich erschüttert.“

Erschüttern die Tränen Jesu unser Gottvertrauen?

Ich glaube, das Gegenteil

ist der Fall. Für meinen Glauben jedenfalls sind gerade diese Tränen

vertrauensbildend. Denn die Tränen, die einer weint, offenbaren mir etwas

von seinem Innersten. Sie lassen, wie wir so sagen, „tief blicken“. Die Tränen

eines Menschen zeigen etwas von seiner Teilnahmekraft, zeigen etwas von

seiner Fähigkeit zu Sympathie und Mitgefühl – respektvoll spricht man heute

von „emotionaler Intelligenz“.

Mit allem gebotenen Respekt „freue“ ich mich über die Tränen Jesu. Sie

machen mir Hoffnung. So wie es mir Hoffnung macht, wenn einer von uns

darunter leiden kann, dass Menschen im Unfrieden leben, wenn er mitfühlt.

So wie es mir Hoffnung macht, wenn es einem von uns nicht egal ist, dass

Menschen Hunger und Durst haben, Hunger nach Brot und Durst nach

Gerechtigkeit, Sehnsucht nach Heilwerden. Aus unserer Diakonie, aus Beratungsstellen, aus Pflege- und

Krankeneinrichtungen, aus der internationalen Partnerschaftsarbeit kenne ich

solche Menschen. Mitfühlende und mitleidende Mitarbeitende, und manchmal

werden sie auch zu Mitweinenden. Solche, die dahin gucken, wo es weh tut.

Und die da hingehen, wo keiner gern hingeht. Sie zeigen Gesicht und Herz.

So wie die Tränen in Jesu Gesicht uns Gottes Herz zeigen.

Das Herz des

allmächtigen Gottes ist ein teilnehmendes Herz. Es schlägt in Mitgefühl für

alle, die unter Unfrieden und im Hunger und Durst nach Gerechtigkeit leben.

Es schlägt für die unter uns, denen kalt ist im Schatten ihres Lebens. Es ist

gut, um dieses Gottesherz zu wissen.

Gut für solche Zeiten, in denen du meinst, alle anderen hätten Grund zur

Freude - aber du hast den blues. Gut für jene Stunden, in denen du alle

anderen um dich herum in scheinbar leichtem Leben aufgehen siehst – und

dir ist nur noch zum Heulen zumute. Gut dann zu wissen: Für einen wiegt

mein Weinen, für einen fallen meine Tränen ins Gewicht. „Mein Jesus hat

geweinet um seine Stadt, ach, auch gewiss um mich hat er geweinet.“

Annette von Droste-Hülshoff hat so gedichtet. Gut, das zu wissen.

Um dieses Gottesherz zu wissen, ist gut auch für die anderen Zeiten. Die

gibt’s ja genauso, und auch wohl nicht nur bei mir. Die Stunden, in denen

das Leben ganz in gut gelaunter Leichtigkeit aufzugehen scheint. Wo die

Bodenhaftung schwächelt, fast ins Schweben hinein alles Erdenkümmern

zum Fremdwort wird. Da, Mensch, dich der Tränen Jesu zu erinnern. Dann,

Mann, mal wieder hingucken, wo’s anderen weh tut. Da, alter Knabe, dich

mal bequemen hinzugehen, wohin zu gehen Dir schwer fällt.

Ob wir damit etwas anfangen können, liebe Gemeinde? In Kummer genauso

wie in Freude? Ich glaube zutiefst, Jesu Tränen werfen nicht nur Schatten auf

unsere Welt, sondern sie stellen uns alle zusammen auch in ein

hoffnungsvolles Licht. Bei allem Respekt davor, dass es auch Kummer geben

wird, ich freue mich, unter den Tränen Jesu im Sprengel Lüneburg

anzufangen.

Jetzt bleibt es aber nicht bei dem Kummer oder bei der Freude, die einer hat.

Es bleibt auch nicht dabei, mit Tränen etwas anzufangen. Kein Zufall ist es,

wenn der Evangelist Lukas, nachdem er Jesus über Jerusalem hat weinen

lassen, ihn anschließend über Gethsemane hinweg führt und den Ölberg ganz

hinunter in den Tempel gehen lässt.

Dort im Heiligen wird aus Mitleiden Leidenschaft, und aus Mitgefühl wird

Engagement.

Denn er „fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu

ihnen: ‚Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus sein‘; ihr aber habt

es zur Räuberhöhle gemacht.“

Der sonst als eher sanft Bekannte wird zum Störfall, der zumeist wegen

seiner Demut Verehrte mutiert zum Demonstranten. Jesus, den wir vor allem

vor Augen haben, wie er mit einem großen und liebevollen „Ja“ auf Menschen

zugeht, hadert hier mit den Händlern und sie bekommen sein heftiges

widersprechendes „Nein“ zu hören. Und mit aller Liebe scheint es vorbei.

So denken wir vielleicht: Mit aller Liebe ist es vorbei, wenn du anstelle von

„Ja und Amen“ ein „Nein“ zu hören bekommst, wenn du selber, anstatt

lammfromm zu bleiben, anfängst einen kräftigen Zorn in dir zu spüren … -

dann ist es mit aller Liebe vorbei.

Aber in der Liebe sind „Ja“ und „Nein“ kein Widerspruch. In ihr haben beide

Platz. Es gibt auch ein „Nein“ neben dem „Ja“ in der Liebe. Es gibt auch ein

widersprechen in Liebe und aus Liebe. Eltern wissen etwas zuerst etwas

davon, ein „Nein“ aus Liebe zu sagen – und das nicht nur gegenüber ihren

kleinen Kindern. Bei allen erwachsenen Kindern gehört es zum lebenslangen

Lernprogramm, gegenüber den eigenen Eltern auch „Nein“ sagen zu dürfen –

aus Liebe. Und in jeder unserer Ehen und Partnerschaften gehört es –

hoffentlich! – zur Liebe, die wir füreinander empfinden, in Liebe einander zu

widersprechen.

Damit sind wir dann schon in der schwersten Lehre von Liebeslektionen: Das

Aushalten dieses Widerspruchs. „Ich liebe dich, aber ich sage dir „Nein“.“ „Du liebst mich, und du widersprichst mir.“ Und dann mit diesem „Ja“ und mit

diesem „Nein“, mit diesem Widerspruch fertig zu werden.

Wie werde ich mit dem „Nein“ Jesu im Heiligen Tempel fertig? Mit seinem

Widerspruch, mit seinem Zorn?

Martin Luther soll in seinen Tischreden einmal gesagt haben, er predige,

singe, bete nie so gut als im Zorn. Luther spricht von so etwas wie einem

„heiligen“ Zorn. Heiliger Zorn - wo einer aus Liebe zum Heiligen zornig ist.

Gerechter Zorn - wo welche aus Hunger und Durst nach Gerechtigkeit zornig

werden. Wir haben Bilder aus der Ferne vor Augen.

Und in unserer Nähe? Neben einem lutherisch-zornigen Predigen, Singen und

Beten wird zuzeiten auch ein zorniges Kämpfen und kämpferisches Streiten

und streitbares Demonstrieren zu unserem Glauben dazugehören. Nie

achtlos. Nie ohne Respekt vor der Person. Nie gegen Menschen! Wohl aber

kritisch gegenüber menschlichem Handeln. Wohl aber kräftig gegen

unmenschliche Weltanschauungen. Wohl aber im Widerspruch zu

lebenswidrigen Entscheidungen.

Und da mögen wir dann Orte ganz in der Nähe vor Augen haben, an denen

es seinen Platz hat, aus Liebe zu Gottes Schöpfung zornig zu sein. Orte, an

denen es Grund gibt, aus Liebe zu Tieren und Pflanzen zu streiten. Aus Liebe

und aus Kummer.

So wie Jesus um den Tempel Kummer hat. Das Handeln der Händler und

alles Verkaufen der Krämer kümmert ihn dabei wahrscheinlich am wenigsten.

Jesus war kein Wirtschaftsideologe. Er war kein Gegner des Geldverdienens.

Er mäkelt nicht am Markt. Sein Anliegen ist das Heilige: „Mein Haus soll ein

Bethaus sein und keine Räuberhöhle.“ In Räuberhöhlen wurden Menschen festgehalten, um im Austauschgeschäft

für sie Lösegeld zu erpressen. So soll es im Umgang mit dem Heiligen nicht

sein.

Ich höre daraus: Gott ist kein Räuber. Er presst mir nichts ab.

Gott ist kein Geschäftemacher. Mit ihm kann ich nichts tauschen.

Und du kannst daraus hören:

Mit deiner Hoffnung auf Heil kannst du zu ihm kommen – und musst nichts

dafür bringen.

Deine Sehnsucht nach Erlösung braucht kein Geld. Du bist mehr als alles,

was du haben kannst.

Du bist Tempel. Du bist Priester. Du bist Gott heilig. Und zusammen fangen

wir damit jetzt etwas an! Amen.