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Kirchenfenster, St. Johannis Lüneburg

Diese unglaubliche Barmherzigkeit

Dieter Rathing: Predigt über Matthäus 9,9-13 auf dem Generalkonvent am 21.09.2011 in der Lobetalarbeit, Celle

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Liebe Schwestern und Brüder, Kirchenkreiskonferenz Bleckede vergangene Woche. Vorstellungsrunde. Eine Pastorin gibt ein Kaleidoskop in die Reihe. Ich halte das runde Guckrohr gegen das Licht. Im Drehen bilden sich neue und immer wieder neue Systeme von Dreiecken, Rosetten, komplizierten Mustern, kleine Wunderwerke bizarrer Schönheit. Ich werde an Kindertage erinnert, die freudig-staunendes Gefallen hatten an den sich verändernden Formen und Farben. Eigentlich will ich das Guckrohr gar nicht mehr aus der Hand geben …

Wie ein Blick durch solch ein Kaleidoskop ist im Grunde alles, was wir auf dem Boden des Evangeliums zu sehen bekommen. Es ist immer dieselbe Perspektive ins Licht, die Jesus Christus uns vermittelt, doch jeweils an den Umständen und an den verschiedenen Gemeinden bricht und formt sie sich neu und verschieden. 

So auch heute, hier in unserer Gemeinde des Generalkonvents. Wer von Ihnen seinen Liturgischen Kalender kennt, der wird wissen, dass heute nicht irgendein Septembermittwoch ist, nicht irgendein Tag zwischen dem 13. und dem 14. Sonntag nach Trinitatis. 21. September – das ist der Tag des Evangelisten Matthäus. In unserer kirchlichen Tradition wird er mit dem Zöllner Matthäus identifiziert, von dem wir soeben im Evangelium gehört haben. Es sind die Verse, die als Predigttext für diesen Tag vorgesehen sind.

Matthäus, der Mensch, der am Zoll sitzt. Jesus geht hin und spricht zu ihm: „Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Jesus geht hin …! - „Gehen kommt. Und kommen geht“ habe ich neulich in einer der vielen Reformschriften für unsere Kirche gelesen. „Gehen kommt. Und kommen geht.“ Jesus muss die neuere Kirchenreformliteratur schon vorweg gelesen haben, ich traue ihm das zu. „Sie“ - die Menschen - kommen nicht mehr.

Hingehen ist angesagt. Als Pastorinnen und Pastoren „gehen“ Sie „hin“ in diesen Wochen in Ihren Gemeinden. Für den zu erstellenden Wahlaufsatz der Kirchenvorstandswahlen besuchen Sie in Frage kommende Frauen und Männer. Auch künftige Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher kommen nicht mehr (von selbst). Du musst hingehen. Sogenannte Findungskommissonen zeugen davon. Oder die schnöde kirchliche Alltagserfahrung sagt Dir das: „Gehen kommt. Und Kommen geht.“

Allerdings, anstelle der zwei Worte „Folge mir“ – „Und er stand auf und folge ihm“… - anstelle der lediglich zwei Worte, die Jesus bei seinem Hingehen genügten … - wir müssen uns häufig genug die Münder fusselig reden, um jemanden zum Folgen in das Kirchenvorsteheramt zu bewegen. Und machen – auch häufig genug – dann dennoch die Erfahrung, dass „sie“ nicht folgen, sondern sitzen bleiben. Als wenn es noch eines Beweises bedurft hätte: Wir sind nicht Jesus. Wahrlich: Wir sind nicht Jesus. Und wenn wir’s sein könnten, wir wollten es – wohl genauso „wahrlich“ – auch nicht sein.

Wer aber ist ER, dass Menschen wie Matthäus ihm auf ein bloßes „Folge mir“ hin wirklich folgen? Für den Evangelisten Matthäus liegt die Antwort in einem schlichten Satz. In einem Satz liegt für ihn die zusammenfassende Lehre aller Erfahrungen mit Jesus. Er schreibt uns diesen Satz gleich zwei Mal ins Stammbuch, zwei Mal in sein Evangelium. Es ist sein Schlüsselwort.

Und bevor Sie jetzt Ihr exegetisches Wissen kommen lassen, was denn noch mal Matthäus typisch von den drei anderen Evangelisten unterscheidet … - Theologie des Neuen Testaments: Bultmann, Bornkamm, Lohse, Pöhlmann … - vergessen Sie’s. Dazu brauchen sie keine Theologie. Ein Satz reicht. Matthäus zitiert ihn aus dem alttestamentlichen Propheten Hosea (6,6): „Geht aber hin und lernt, was das heißt: Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ In diesem einen Satz liegt die Veränderung eines ganze Menschenlebens. 

Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer. Dieses Satz zu wissen, diesen Satz glauben zu können, das vermag einen Matthäus, das vermag ein ganzes Menschenleben zu verändern. Und warum brauchen wir ein ganzes Pastorenleben, um das zu verstehen? Weil es zu den schwersten Jesus-Worten gehört: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ Weil das so unglaublich schwer zu lernen und zu glauben ist.

Mir fällt es schon schwer, das jetzt nur über die Lippen zu bringen – geschweige denn, dass ich wüsste, was das wirklich bedeutet: Pastorin, ich habe kein Wohlgefallen an Deinem Opfer. Superintendentin, ich will Dein Opfer nicht. Landessuperintendent, ich habe kein Wohlgefallen an Deinem Opfer. Bischof, ich will Dein Opfer nicht. „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit!“

Ich höre das, und ich werde kleinlaut. So kleinlaut, dass ich mich jetzt hier nicht getraue – was einer Predigt wohl angemessen wäre – Konkretionen zu nennen. Beispiele zu sagen für mein und für Ihr pastorales Opferdenken. Ich getraue mich das nicht. Und ich bleibe kleinlaut, wenn ich sehe, wie kaum das „Folge mir“ ausgesprochen ist und in echt jesuanischem Tempo da weitet sich’s gleich schon wieder aus zum nächsten: Jesus „liegt zu Tische“ mit Sündern und Zöllnern.

Offenbar ist es – nach Matthäus – gar nicht nötig, eine Einladung an diese Menschen auszusprechen. Es ist gar nicht nötig „hinzugehen“ – sie kommen. Es genügt offenbar, sie einfach zuzulassen, sich auf sie einzulassen. Und allein mit dieser kaleidoskopischen Einstellung habe ich das ganze Leben Jesu so offen vor mir wie nur möglich. Was ich da zu sehen bekomme, ist so staunenswert, dass ich immer wieder darum ringen muss, wie viel an Vorwänden, Einwänden, Vorurteilen, Aburteilungen ich abbauen müsste, um anderen Menschen so zugänglich zu werden, wie Jesus Christus aus Nazareth es in seiner ganzen Botschaft dargestellt hat.

Aber jetzt lasse ich das mal, und lassen Sie das jetzt bitte auch mal, sich vorzustellen, wie ich sein müsste, um so zu sein wie er. Es rattert einem ja gleich und unwillkürlich durch den Kopf – „… wie müsstest Du werden und dich verändern, damit du …, und wie müsste deine Gemeinde werden und sich verändern, damit wir …, und wie müsste die ganze Kirche werden und sich verändern, damit sie …Nein! Lassen wir das jetzt mal! Jesus ist kein Kirchenreformer. Kein Gemeindeorganisationsentwickler. Matthäus schickt ihn uns nicht als personaltrainer aus dem Coaching-Team der Abteilung „Gemeindeberatung“ im Haus Kirchlicher Dienste.

Nein, Jesus ist da, und die um ihn herum die meinen schlicht: Mit dem Mann darf ich und kann ich sprechen. Ja, mit dem muss ich sprechen. Mit wem denn sonst? Nur er wird all das nicht sagen, was ich sonst zu hören bekomme: die Gebote …, die Anweisungen der Kirchen- – Pardon! – der Tempelleitung, die Regeln des bürgerlichen Anstands … Nur dieser Mensch scheint zu wissen, dass die Zukunft eines Menschen nicht hervorgeht aus der tüchtigen Verwendung von Imperativ und Optativ.

Seine Rede war nicht: Du solltest! Oder: Du müsstest eigentlich! Sondern er scheint zu wissen: Das Leben kann sich nur neu ordnen, wenn ich Verständnis entgegenbringe für die Hintergründe, aus denen heraus etwas entsteht, aus denen heraus sich etwas ereignet. Bei Sündern und Zöllnern, die Jesus nachfolgten, war das so.

Wie ist das bei uns? In der Folge von Leuten wie Matthäus sind wir als Pastorinnen und Pastoren ja doch auch welche, die sein „Folge mir“ angesprochen hat. Ordnet sich unser Leben neu, ordnet sich unser pfarramtliches Nachfolge-Leben neu, wenn wir Jesu-Rede hören „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“? Welche Hintergründe müssen wir verstehen, wenn in den vergangenen Jahren bei manchen von uns entstanden ist das Gefühl von „Nachfolge-Unsicherheit“. Davon, dass man gelegentlich gar nicht mehr so sicher ist darin, sich mit dem Dienst noch in der wirklichen Nachfolge Jesu zu bewegen. Was müssen wir einander sagen darüber, wodurch sich Konflikte in unserer Kirche ereignen? Welche Hintergründe einander wissen lassen, wo welche von uns krank werden?

Und was an Barmherzigkeit – Barmherzigkeit für Dich! Das vor allem! – was an Barmherzigkeit für Dich kannst Du aus der Rede Jesu hören? Die Barmherzigkeit, Dich in allen Anforderungen nicht zu überfordern?! Die Barmherzigkeit, in den nahezu grenzenlosen Möglichkeiten Deines Dienstes Grenzen zu ziehen?!

Ist Deine Barmherzigkeit die, Dich auch mal „zu Tische“ zu legen? Oder ist es die, nicht immer am Tisch der Gemeinde liegen zu müssen? Ist es Deine Barmherzigkeit, die Gemeinschaft der anderen zu suchen? Oder ist es die, die Dir auch mal Ruhe vor den Leuten gibt? Der größten Barmherzigkeit Jesu Christi gehen wir gleich entgegen. Wir gehen an seinen Tisch, ihn zu empfangen. Viele Bibelausleger sind der Meinung, das, was wir als Gemeinschaftsmahl feiern, sei nicht zuerst aus dem „Abendmahlssaal“ mit der exklusiven Schar der Jünger hervorgegangen, nicht aus dem Passa-Ritual, sondern aus dieser Szene der Einladung der Zöllner und der Sünder – aus der Einladung an alle Menschen.

Dieser unglaublichen Barmherzigkeit lasst uns entgegengehen. Amen.