kopfgrafik-johannisfenster1

Kirchenfenster, St. Johannis Lüneburg

Predigt zur Orgelweihe: "Lobet ihn!"

Dom zu Bardowick, Sonntag, 15. Januar 2012

Lobet ihn …! Lobet ihn …! Liebe Gemeinde, so wie wir es zu Beginn dieses Gottesdienstes mit den Worten des 150. Psalms gebetet haben, so soll es die Überschrift heute Morgen hier im Bardowicker Dom sein. Mit unserem Singen, Beten und Hören wollen wir Gott loben. Damit wir uns jedoch auch erinnern, von welchen Erfahrungen dieses Gotteslob herkommt, haben wir das Evangelium (Johannesevangelium, Kapitel 2,1-11) gehört. Der Wein ist ausgegangen auf der Hochzeit in Kana. Und in diesem Mangel braucht es einen, der die Krüge wieder füllt. Jesus verwandelt Wasser in Wein. Da kommt Gotteslob her. Aus dem Mangel. Das wahre Gotteslob kommt von beklagenswerten Erfahrungen her. Wir spüren, dass uns etwas fehlt. Wir werden gewahr, dass wir nicht haben, was wir zum Leben brauchen. Und wir klagen darüber. Dann kommt einer, und er füllt den Mangel aus. Wendet einen Jammer, löst eine Not. Das tut uns gut. Aus der Klage wird Freude. „Das hast du gut gemacht“ sagen wir dann und loben ihn.
Und loben Gott darin mit. Denn wer das Lob für einen Menschen richtig hört, der wird darin auch immer das Gotteslob mithören. Das Lob an den Gott, der Menschen dazu bewegt, etwas von ihrer Kraft und ihrem Können für andere zu spendieren. Da können wir ganz großzügig denken. Gott ist kein eifersüchtiger Erbsenzähler, dem wir etwas wegenehmen, wenn wir Menschen für ihr Tun loben. Denn dass Menschen ihre Begabung, ihre Zeit und das, was sie sonst haben, für andere einsetzen, das ist ja doch nicht selbstverständlich. Es gibt auch welche, die behalten das alles nur für sich oder gehen knauserig und geizig damit um.

„Das hast du gut gemacht“, so können wir es Jesus nach 2000 Jahren noch hinterher rufen. Wer Wasser in Wein zu verwandeln vermag, einen Mangel beheben, eine Not wenden, eine Fehlstelle füllen, der hat Lob und Anerkennung verdient. „Das hast du gut gemacht“, so können wir es heute Morgen gleich ganz vielen Menschen zurufen, jetzt nach dem Hören der ersten Klänge von der neuen Orgel zumal. „Das habt Ihr gut gemacht“, Ihr Orgelbauer. „Das hat habt Ihr gut gemacht“, Ihr Gemeindeglieder aus St. Peter und Paul, Spenderinnen und Spender, Förderer und Unterstützer, Ihr Leute von der Klosterkammer, Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher, Pastorin und Pastoren. Ihr seid großzügig gewesen mit Eurem Talent und Eurem Können, mit Eurer Zeit und Eurer Spende. Eine Fehlstelle ist wieder gefüllt. Ein Mangel behoben. Das „heulende Elend“ ist wieder zum Klingen gebracht. Und wie! Jetzt kommen keine Töne mehr, ohne dass jemand überhaupt eine Taste drückt. So dürfen Professor Harald Vogel und Organist Peter Elflein wieder zeigen, was sie mit den Tasten so gut können!

Und doch will ich jetzt einen Moment lang mit überschäumenden Loben einhalten. Es mag ja den einen oder anderen geben, der sich ganz nüchtern die Frage stellt: Ist eine Orgel denn das alles wert? Ist der Kostenaufwand das denn wert, nun diese Orgel zu hören? Gibt es nicht größere Not und anderen Mangel unter uns und auf der Welt als keine Orgel im Stil der Zeit Johann Sebastian Bachs zu haben? Das ist eine ernste Frage. So wie es eine ernste Frage sein kann, ob es auf der Hochzeit zu Kana wirklich noch des weiteren Weins wirklich bedurfte. Hätte es schlichtes Wasser gegen den Durst nicht auch getan? Nüchtern betrachtet müssen wir dem wohl zustimmen. Nüchtern betrachtet braucht der Mensch Wasser, er braucht keinen Wein. Nüchtern betrachtet gibt es anderen wichtigen Mangel auf dieser Welt als den Mangel an einer Orgel.

Und wenn Menschen auf dieser Erde sind, die um Not und Jammer, um Elend und Verzweiflung wissen, dann gehört Jesus zu ihnen. Von seinen Heilungen und Wundern, aus Worte und Taten, aus seinem ganzen Leben wissen wir das. Und doch verwandelt er Wasser in Wein! Und doch sorgt er dafür, dass bei der Hochzeit die Leute nicht nur ihren körperlichen Durst stillen, sondern auch Herz, Geist und Seele am Wein erfreuen können. Steht das mit dem Wasser und dem Wein vielleicht gar nicht so gegeneinander, wie wir es gelegentlich gegen einander stellen? Ist das mit der Not in der Welt und unserer Orgel, mit menschlichem Mangel auf der einen und mit Musik und Kunst und Kultur auf der anderen Seite gar nicht so ein Widerspruch, wie wir ihn manchmal empfinden?

Wenn es ein wirklicher Widerspruch wäre, dann dürfte wohl kein Gesang über unsere Lippen kommen, wir dürften keine Kirchen und keine Orgeln haben, es dürfte nichts an Kunst und Kultur, nichts von Tanz und Musik unter uns sein. Ja, jedes Bild an der Wand und der Blumenstrauß auf den Tisch wären verdächtig. Jesus weiß es besser. Er stellt in Kana den Wein nicht unter Verdacht. Es kann dort am dankbarsten Hoch-Zeit gefeiert werden, wo man um die Tiefen des Lebens weiß. Es kann da am kräftigsten gesungen werden, wo welche aus einer Schwere des Lebens kommen. Dort erklingt das Gotteslob am lautesten, wo Menschen Mangel und Entbehrungen kennen.

Alles, was Odem hat, rufen die Psalmworte deshalb zum Loben auf. Mit ihnen loben wir Gott dafür, dass nun wieder mit einer Orgel in diesem Dom Gott gelobt werden kann. Wir loben Gott dafür, dass er mit dieser Orgel unser Gotteslob auf die Sprünge hilft, dass diese Orgel durch gute und durch schlechte Tage hindurch Menschen in ihrem Gotteslob begleiten kann. Die Guten und die Bösen. Die Ehrfürchtigen und die Gleichgültigen. Die von Gott Ergriffenen und die, die ihn immer wieder gar nicht begreifen können. Es gibt ja kaum einen unter uns, der nicht – so oder so – vom Klang einer Orgel berührt würde. Kaum einer, dessen Herz und Sinne nicht angesprochen würden, wenn der kräftige Luftstrom im geregelten Lauf durch Balganlage und Windladen hindurch die Register zum Leben erweckt. So oder so.

„So oder so“ sage ich, weil ich auch diejenigen kenne, in denen der Klang einer Orgel nicht zuerst Freude und Jubel auslöst. „Wenn ich eine Orgel höre“, sagte mir einmal eine Frau, „dann muss ich immer weinen.“ Manchem mag sie vielleicht auch nur eine Träne ins Auge treiben oder einen Schauer über die Haut spülen. Aber ist auch das nicht etwas, zu dem man – vielleicht ganz vorsichtig – sagen könnte „Gut gemacht“? Ist es nicht etwas Gutes, wenn der Klang eines Instruments uns Zugang zu Gefühlen und Erkenntnissen eröffnet, die sonst nur verborgen und verschüttet da sind? Ist es nicht gut zu heißen, wenn wir auch für die traurigen und jammervollen Seiten unseres Daseins einen Herzensöffner haben?

Ganz vorsichtig und verhalten möchte ich das sagen: „Gut gemacht, lieber Gott, dass du die Dur- und die Moll-Klänge unseres Lebens durch die Musik zum Klingen bringst. Gut gemacht, dass du uns mit der Orgel auch Jammern lassen kannst. Und klagen, wenn wir von Beklagenswertem betroffen sind. Wenn wir in kleinen oder großen Nöten sind.“ Von der Musik her bekommen wir einen Zugang dazu. Und oft genug finden über die Musik auch Not und Jammer einen Ausgang, findet der Blues, den wir in uns tragen, Ausdruck und Aussage.
Und wenn das geschieht, dann können wir auch dafür Gott nicht laut genug loben – und sei es mit einer Träne im Auge. Denn das kennt jeder und jede von sich. Von Jammer und Not kann unsereins auch regelrecht gefesselt werden. Schnell fixieren wir uns auf alles Negative in dieser Welt. Leicht werden wir missmutig und bitter angesichts der uns umgebenden Probleme. Gelegentlich halten wir uns zugute, dass wir ja so kritisch und problemorientiert sind, dass wir dem Elend dieser Welt so aufopfernd ins Auge blicken - und kommen dann oft über ein Maulen und Mäkeln, über Meckern und Mosern nicht mehr hinaus.
Dagegen kann man nur alle Register ziehen. Alle Register, die uns zur Verfügung stehen, gegen eine Weltsicht, die nur von den Bässen beherrscht ist. Die Welt besteht nicht nur aus Jammer und Not. Die Menschen sind nicht nur welche, für die wir Schwarz sehen müssen. Der ganze Gang der Geschichte ist keiner, der nur nach unten führt. Die Orgel zieht dagegen jedenfalls alle Register. Sie zieht uns in Helle, nach oben, zum Licht. Vereinigt mit unseren Stimmen – „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn.“ – führt sie uns über uns und unsere Menschenwelt hinaus.

„Nicht den Menschen, sondern Gott ist meine Musik gewidmet“, so war es Johann Sebastian Bachs musikalisches Motto. Für viele ist seine Musik eine große wortlose Predigt. Er hat damit unzähligen Menschen eine Ahnung von Gott geschenkt. Sogar der Christenkritiker Friedrich Nietzsche konnte anerkennend sagen: „Bei Bachs Musik ist mir, als ob ich dabei wäre, wie Gott die Welt erschuf.“

Unser christlicher Glaube lauscht und sinnt den Taten Gottes nach. Wir schauen nach der Ordnung hinter den Dingen. In unseren Predigten tun wir das mit Worten, die unsere Erfahrungen und unser Leben von der Heiligen Schrift her verstehen. Oder wir beobachten den Kosmos und die Natur in ihren Gesetzmäßigkeiten und ziehen unsere Schlüsse daraus. In der Mathematik fassen wir die Ordnung der Dinge in Formeln. Die Philosophen versuchen Sätze ewiger Wahrheit zu formulieren. Mystiker begnügen sich mit der Sprache des Schweigens, um der Welt auf den Grund zu gehen.

Keine dieser Sprachen aber gibt dem Dasein einen besseren Ausdruck als die Musik. Musik ist eine Menschheitsstimme. Sie braucht keine Worte. Denn Worte können immer auch trennen. Sie braucht keinen Anspruch auf Wahrheit. Denn die Wahrheit des einen soll immer die Unwahrheit des anderen beweisen. Sie begnügt sich nicht mit dem Schweigen, denn wo geschwiegen wird, kann es auch unheimlich sein.

Im Bardowicker Dom schweigt die Orgel nun nicht mehr. Wir können wieder dabei sein, „wie Gott die Welt erschuf“. Ihr Klang und ihre Töne geben unseren Erfahrungen wieder eine Stimme. Sie schenkt denen, die ihr lauschen, Empfindungen von Harmonie. Schenkt uns Augenblicke, wo wir ganz bei uns sein können und zugleich ganz weit von uns weg.

Und diese Momente, in denen wir uns selbst vergessen können und in denen die Zeit keine Rolle mehr spielt, diese Momente gehören zu den besten unseres Lebens. Sie schenken uns den Himmel ins Herz. Der Gott, der uns dieses Geschenk macht, den loben wir. „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!“ Amen.