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Vom Schatz der Langsamkeit

Grußwort zur Einweihung des evangelischen Gymnasiums in Meine am 15. Februar 2012

Es gehört sicherlich zu den größten Peinlichkeiten in einer Schule, wenn man sich hinstellen muss – vorne auch noch – mit dem Eingeständnis, von anderen abgeschrieben zu haben. In diese Peinlichkeit begebe mich jetzt mit meinem Grußwort. Ich habe es in weiten Teilen abgeschrieben.

Vorher habe ich gelesen – das immerhin. Ich habe gelesen über Bildung und Schule in unserem Land. Und mehr als einmal begegnete mir die Forderung, dass da „ganz schnell“ etwas geschehen müsse. „Schnell“ seien Schülerinnen und Schüler auf internationale Rangplätze zu bringen, „schnell“ sei die Schule für die Globalisierung und eine zunehmende Komplexität aller Verhältnisse fit zu machen. „Schnell.“ Vielleicht ist mir das Wort so in die Augen gesprungen, weil „schnell“ mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Adverb kirchlicher Herkunft ist. Dass die Kirche langsam und behäbig sei, gehört ja denn auch zur Kritik an ihr.

Wir waren ja gerade in einer Kirche (St. Stephani, Meine, Mitte 19. Jh.). Sie werden sich umgeschaut haben. Mit Tempo ist da gewiss nicht gebaut, gestaltet und gemalt worden. In Beschleunigung ist kirchliche Tradition nicht gewachsen. Mit Schnelligkeit lässt es sich in der Kirche und in ihren Traditionen auch heute noch nicht einleben. Manchmal bin ich geneigt, das zu bedauern. Gelegentlich kommt mir allerdings „die Langsamkeit“ wie ein Schatz vor, den wir sorgsam zu behüten haben. Günter Grass hat sich in dieser Richtung einmal geäußert. Das habe ich abgeschrieben:

„Ich schlage vor“, so Günter Grass, „in allen Schulen einen Kurs zur 'Erlernung der Langsamkeit' einzuführen. Von mir aus darf es sogar ein Leistungskurs sein. Langsamkeit wäre eine Gangart, die der Zeit zuwider liefe. Die bewusste Verzögerung. Das bis zum Stillstand gebremste Tempo. Das Erlernen des Innehaltens, der Muße. Nichts wäre inmitten der gegenwärtigen Informationsflut hilfreicher als eine Hinführung der Schüler und Schülerinnen zur Besinnung ohne lärmende Nebengeräusche, ohne schnelle Bildabfolge, ohne Aktion und hinein ins Abenteuer der Stille, in der einzig Eigengeräusche erlebet werden können. Ich weiß: ein Vorschlag, den zu realisieren zwangsläufig die Zeit fehlen wird …“ (aus DIE ZEIT Nr. 21/1999)

Aus der Kirche heraus schließe ich mich dem Wunsch von Günter Grass für das neue Philipp Melanchthon Gymnasium Meine gern an. Wer sich eine schulische „Erlernung der Langsamkeit“ jetzt nur in Verbindung mit einem wohl eher langweiligen Unterricht vorstellen kann, den kann ich – ebenfalls – aus der Kirche heraus trösten. Es sollen schon vereinzelt Erfahrungen in der Kirche mit langweiligen Predigten oder langweiligem Konfirmandenunterricht gemacht worden sein...

In ihrer pädagogischen Bedeutung wird die oft gescholtene Langweiligkeit allerdings deutlich unterschätzt. Das habe ich bei Emil Kraepelin, einem Vater der wissenschaftlichen Psychiatrie, gest. 1926, gelesen – und abgeschrieben – aus seinem Aufsatz „Über geistige Arbeit“:

„Zum Heile für unsere heranwachsende Jugend hat die gütige Natur ihr ein Sicherheitsventil gegeben, dessen Wert nicht hoch genug gepriesen werden kann – das ist die Unaufmerksamkeit. Daraus ergibt sich die unerwartete Folgerung, dass bei der heutigen Ausdehnung des Unterrichts langweilige Lehrer geradezu eine Notwendigkeit sind. Würden alle Lehrer verstehen, bei ihren Schülern ein hinreichendes Interesse für ihren Unterrichtsgegenstand zu erwecken und wachzuhalten, so würden die Kinder trotz rasch wachsender Ermüdung zu dauernden geistigen Kraftanstrengungen geführt, deren Folgen wir gar nicht zu übersehen vermögen.“ (Ueber geistige Arbeit. Neue Heidelberger Jahrbücher, Jg. 4, Heidelberg 1894)

Ich höre daraus die Sorge um eine Verwechselung von pädagogischem Handeln mit schulischer Hyperaktivität. Aus der Kirche heraus wünsche ich dem Philipp Melanchthon Gymnasium Meine eine dieser Sorge zugewandte Aufmerksamkeit.