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Singen macht den Glauben laut

Liebe Gemeinde, liebe Sängerinnen und Sänger, es tut dieser Uelzener St. Marien-Kirche gut, dass Sie als Sängerinnen und Sänger heute hier sind. Und es tut uns gut, wenn Sie den Gospelchor-Workshop heute hier mit uns zusammen abschließen. Warum tut es St. Marien gut? Weil es immer noch wahr ist, was der Kirchenvater Augustin gesagt hat: „Wer singt, betet doppelt.“ Er meint damit: Beim Singen kommen nicht nur die gesungenen Worte zu Gott, die wir auch im Gebet sprechen könnten. Sondern über ein Singen wird auch das laut, was wir von unserem Glauben ganz im Innern tragen, wofür wir keine - oder noch keine - Worte haben. Wenn unser Herz voll ist , dann ist es oft leichter zu singen als zu sagen „Lobe den Herren …“ Wenn es mir mal wieder die Sprache verschlagen hat, dann singe ich es leichter, als dass ich es sagen kann „Befiehl du deine Wege…“ oder „Aus tiefer Not schrei ich zu dir …“ Freude und Dankbarkeit, Not und Angst lassen sich oft besser singen als sagen. So wie wir zu Menschen durch die Blume sprechen können, und in der Blume ist mehr aufgehoben als wir sagen können, so ist auch im Singen mehr enthalten als wir mit Worten beten könnten. Danke dafür, dass Ihr Gesang heute diese Kirche mit doppeltem Gebet füllt!

Warum tut es uns gut, wenn Sie das Gospelchor-Wochenende hier im Gottesdienst abschließen? Weil der Gesang ein wunderbares Transportmittel ist, um das Wort Gottes laut werden zu lassen. Sehr schön bringt das eine Begebenheit aus der Reformationszeit auf den Punkt. Sie wissen: Mit dem lutherischen Glauben breiteten sich auch viele Lieder und Gesänge aus. Das Singen wurde in der Lutherzeit geradezu zum Erkennungszeichen dafür, ob eine Gemeinde bereits evangelisch war. So wird aus einer norddeutschen Stadt berichtet, dass der dem katholischen Glauben noch anhängende Bürgermeister seinen Stadtschreiber in die Kirche schickte, um zu schauen, was sich denn in seiner Stadt mit dem neuen Glauben der Reformation tue. Der Stadtschreiber kam zurück und berichtete „Ei, sie singen schon alle.“ Und der Bürgermeister soll geantwortet haben „Nun, dann ist alles verloren.“ Also, das Singen macht unseren Glauben laut.

Weil wir glaubensmäßig manchmal ziemliche Leisetreter sind, deshalb ist es gut zu singen. Das Singen macht auch die Liebe Gottes zu uns Menschen laut. Und weil wir, was diese Liebe angeht, zu oft schweigen, deshalb ist es gut den Gesang zu haben. Und das Singen macht unser Gotteslob laut. Aber weil wir, anstatt Gott zu loben, uns gern als Klagemäuler präsentieren, kommt ein Gospelgottesdienst gerade recht. Und wenn nun heute Menschen hier an St. Marien vorbeikommen, dann werden sie den Gesang hören und auch sagen „Ei, sie singen alle“. Aber keiner wird denken „Nun ist alles verloren.“ Sondern viele werden sagen: Wo so viele singen, da ist viel gewonnen.

Was gewinnen wir mit dem Singen? Eine kurze Antwort darauf steckt in einem Satz aus dem 98. Psalm: „Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.“
Was für Wunder geschehen, wenn wir singen? Welche Wunder erleben Sie als Gospel-Sängerinnen und -sänger? Sie singen Gospel in englischer Sprache. Da wundern Sie sich vielleicht erst mal darüber, wie gut Sie doch Englisch können, singen in dieser anderen Sprache. Und vielleicht wundern Sie sich auch darüber, wie viel mehr Englisch Sie singen können als sprechen. “Who am I, that you are mindful of me …“ oder “The Lord is good and he reigns me …” So sprechen Sie normalerweise ja nicht. So in anderer Sprache singen wir meistens in unseren Kirchen ja auch nicht. Oder tun wir es doch?

Mir schießt es bei manchem Choral aus dem Gesangbuch immer mal wieder durch den Kopf: Jetzt singst du was, das du mit deinen eigenen Worten nie sagen würdest. Jetzt singst du einen Glauben, den du im Moment gar nicht hast. Der Text unter den Noten und mein Glaube, die stimmen nicht immer überein, beides ist nicht zu jeder Zeit deckungsgleich. Singen wir nicht oft mehr als wir glauben? Das kann an einem gewöhnlichen Sonntag sein. Da habe ich am Vortag eine schlechte Nachricht bekommen und dann „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren …“!? Oder: Vor zwei Wochen haben wir Ostern gefeiert. Ich kann vielleicht mit den großen Worten vom Sieg des Lebens über den Tod gerade gar nichts anfangen und dann kommt „Christ ist erstanden von der Marter alle …“!? Das – und viel mehr noch – singen wir ja. Und nicht jedes Wort, nicht jeder Satz, den wir singen, ist immer und zu jeder Zeit durch unsere Erfahrung und mit unserem Glauben gedeckt, stimmt mit ihm überein. Zwischen dem gesungen Glauben und mir da tut sich manchmal ein Graben auf. Und wir singen. Wir singen trotzdem.

Und ganz seltsam: Mit dem Gesang, im Singen kommen wir über diesen Graben hinweg. Es ist tatsächlich so: Wir können mehr singen als wir glauben. Und das ist eine große Sache, ein Wunder. Beim Singen erlebe ich: Der Glaube ist größer als ich, er hat mehr Wahrheit als an manchen Tagen in mein eigenes kleines Herz passt. Ich kann mich von einem gesungen Glauben tragen lassen, wenn ich auf dem Weg, den Gott mir befiehlt, geistlich eigentlich gerade am Humpeln bin. Beim Singen kann ich eine Sprache sprechen, die ich nicht selber erfinden muss, Worte von mir geben, deren einzelne Buchstaben von mir nicht erst zusammengesetzt werden müssen. Wenn ich Glauben singe, dann muss meine Krämerseele mal nicht besserwisserisch beckmessern. Wenn ich meinen manchmal kleinen Glauben mit großen Worten singen kann, dann steckt da so viel Freiheit drin, wie in dem Bekenntnis zu meiner Frau. Wenn ich ihr sage, dass ich sie liebe und sie mir die schönste Frau der Welt sei, dann kommt sie kaum auf die Idee, ihre Nase zu messen und die Ohrläppchen zu begutachten, um zu überprüfen, ob sie wirklich und im wörtlichen Sinn die Schönste ist. In der Liebe und im Glauben gehören die Worte nicht auf die Waagschale, sondern wir lassen sie tanzen in Bildern von Sehnsucht und in Poesie der Hoffnung, mit Melodien, die ein Herz öffnen und allen Glaubensgrübel auch mal wegschließen können.
So sind unsere Lieder, ganz gleich in welcher Sprache, wichtige Glaubenshelfer. Sie helfen uns über manchen Glaubensgraben hinweg. Ein Wunder und ein Grund zur Freude.

Aber Wunder, liebe Gemeinde, die können nicht nur Freude machen, sie können einen auch erschrecken. Man kann erschrecken kann vor der Tiefe, in die hinein eine Musik uns Menschen zu führen vermag. Die Tiefe auch, aus der herauf eine Musik in uns aufsteigen kann. Fast jeder kennt ein angenehmes und wohliges Berührtwerden durch Melodien und Musik. Aber es gibt davon auch die Erfahrung einer ganz besonderen Tiefe.

Der amerikanische Neurologe Oliver Sacks hat ein ganzes Buch darüber geschrieben. Es heißt „Der einarmige Pianist“, und er geht darin den Verbindungen zwischen der Musik und unserem Gehirn nach. Unter anderem erzählt er darin von Clive, einem Musiker und Musikwissenschaftler. Clive erkrankte an einer Hirninfektion, die von seinem Gedächtnis kaum etwas übrig ließ. Seine Erinnerungskraft reichte nur noch für Sekunden. Aber es gab in alledem zwei Wunder. Zum einen verliebte sich Clive in seine Frau jedes Mal wieder, wenn er sie sah. Und zum anderen: Als sie ihm einmal Noten mitbrachte, erwies sich, dass ihr Mann nichts von seinen musikalischen Fähigkeiten verloren hatte. Ganze Stücke konnte er ablesen, erinnern, singen, am Klavier spielen, ohne Fehler und mit ganzer Seele, sogar einen Chor dirigieren, auch wenn er sofort vergaß, von wem das Stück geschrieben war. Neben aller Freude darüber: Es kann einen auch erschrecken, mit welcher Macht die Musik, mit welcher Kraft eine Lied, eine Musik in uns Platz greifen kann.

So mächtig die Musik, dass ein Ton einen ganzen Menschen wieder wachrufen kann. So kraftvoll, dass eine Melodie zum Seil wird, an dem ein Mensch aus dem Abgrund des Vergessens wieder zum Leben hochzuklettern vermag. Solche Seile spannen wir auch mit dem Gesang in unseren Kirchen. Mein Glaube kann daran anknüpfen, deine Hoffnung kann daran Halt finden, und unsere Liebe kann damit wachsen. Was für ein Wunder! Das Wunder einer Liebe, bei der es geschieht, dass ein gedankenloser Mann sich jedes Mal wieder in seine Frau verliebt. Das Wunder einer Hoffnung, die durch den Gesang wieder zum Leben kommt. Das Wunder eines Glaubens, den Gott wachsen lässt durch Musik und Gesang. Jetzt singt also, damit Gott seine Wunder tun kann! Amen.