Besucht und erlöst

Predigt im Gottesdienst zur Eröffnung der Herbstsynode der Landeskirche am 27. November 2012 in der Mutterhaus-Kirche der Henriettenstiftung in Hannover

Liebe Schwestern und Brüder, kann das denn wahr sein? Oder schlafen und träumen wir? Vor zwei Tagen am Ewigkeitssonntag die Zukunftsansage des Jesaja (wir haben sie heute noch einmal gehört): „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ Eine strahlende Verheißung zwar, aber weit, ganz weit über alle unsere Horizonte vorausweisend, und davor die endlos sich dehnenden Weiten der alten Erde und des alten Himmels.

Und jetzt, einen Lidschlag danach, jetzt bei Lukas zum Ersten Advent soll es bereits geschehen sein? Ja, Benedictus Dominus, gelobet sei der Herr! Der Aufgang aus der Höhe, - heute und hier, den Glanz des alten Himmels von Sonne, Mond und Sternen unermesslich überstrahlend, das Licht des neuen Himmels um uns, die glückseligste Heimsuchung. Überall Helligkeit, sogar unsere Herzen, die alt und müde gewordenen, erfüllt von dem neuen Licht. Und die Quelle allen Glanzes: „Die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes.“
Von Jesaja zu Lukas, das macht Freude! „… große Freude, die allem Volk widerfahren wird.“ Doch dazu kommen wir erst in vier Wochen. Aber Lukas macht jetzt schon Freude. Er muss einfach Freude machen. Zuerst dem Geistlichen Vizepräsidenten, ach was, dem ganzen Landeskirchenamt. Dort, wo die finstere Sorge zu Hause ist um die Visitationsberichte. Ephoren und Landessuperintendenten sind ständig im Verzug mit den Berichten über ihre Besuche in Gemeinden und Kirchenkreisen. Nach drei Monaten sollen sie. Aber wann kommen sie? Visitationsberichte haben bei uns eine gewisse Nachlaufzeit.
Lukas dagegen macht Freude. Er lässt Zacharias – „vom Heiligen Geist erfüllt“ – sagen, obwohl die Geburt von Bethlehem erst noch bevorsteht, obwohl das Kommen Gottes in diese Welt hinein eindeutig noch voraus liegt, Lukas lässt Zacharias jetzt schon – als sei es bereits geschehen – sagen: Gott hat besucht sein Volk. Gott hat erlöst sein Volk. Gott hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils. Es ist ja noch eine ganze Weile hin, aber Zacharias sagt: Gott hat, hat, hat …
So haben wir hier also den ersten Visitationsbericht vorliegen, der schon vor der Visitation geschrieben wurde. „Geht doch“, denkt man in Abteilung 2. „Eia, wärn wir da“, seufzt der Visitator.

Damit bekommen wir deutlich die Grenze gezogen zwischen unserem Besuchen und Gottes Visitation. Wir können in der Tat nicht mehr tun als nachsehen, nachfragen und rückblickend ein paar gute Worte sagen für das, was wir zuvor gesehen haben. Das ist es dann, und dabei bleibt es dann – meistens. Wenn aber Gott sein Volk besucht, dann ändert sich etwas. Und wie! Und sogar vorauslaufend!

Lukas erzählt das ja, wie Gottes Ankunft schon lange vorauslaufend bei Zacharias Wirkung zeigt. Als der fromme, hochbetagte Priester seinem täglichen Tempeldienst nachgeht, verheißt der Engel Gabriel Zacharias und seiner Frau Elisabeth die Geburt eines Sohnes. Zacharias kann das nicht glauben, und er fragt den Engel nach einem Beweis, einem Zeichen. Für dieses ungläubige Ansinnen wird Zacharias dann von Gabriel mit Stummheit belegt. „Du wirst nicht reden können bis zu dem Tag, an dem dieses geschehen wird.“
So beginnt die Adventszeit bei Lukas mit der Sprachlosigkeit eines Theologen. (Zeichenhaft soll diese Sprachlosigkeit auch heute noch hier und da von Ordinierten gepflegt werden: Vor allem an vierten Adventssonntagen lassen Pastorinnen und Pastoren vermehrt Lektoren und Prädikanten für sich reden …)
„Gelobet sei der Herr. Denn er hat besucht und erlöst sein Volk.“ Bevor der ganze Besuchsbericht als ein großer Lobgesang aus Zacharias herausfließen kann – neun Monate Schweigen. Lobgesungener Visitationsbericht …? Vor dem Besuch neun Monate Stummheit …? Hier nun versagen endgültig alle Vergleiche zu unserer Art von Visitation und zu dem, was da in den Monaten voraus zu tun ist.

Könnte man es Gemeinden verdenken, wenn sie sich den Engel Gabriel als Mitglied des Visitationsteams wünschen? Einen, der vorab erst einmal zum Schweigen verdonnert und nicht dazu, „Ziele der Arbeit zu formulieren, die vorhandenen Aktivitäten zu messen und Planungen an diesen Zielen auszurichten, zu überprüfen und erforderlichenfalls anzupassen“ (§1.4 VisG)? Bei Lukas heißt es von dem über den Zeitpunkt der Visitation unterrichteten Priester: „Zacharias winkte ihnen und blieb stumm.“ Und dann im Stummsein geht Zacharias das auf, was er vorher nicht glauben konnte: „Gott hat besucht und hat erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils.“ Gott hat, hat, hat … Aus dem Schweigen kommt es bei Zacharias zum Erkennen: Nicht Du, mein Alter, bist es, der hier die Kinder in die Welt bringt. Und Elisabeth ist es auch nicht. Ihr erlöst nichts. Ihr richtet kein Heil auf. Da könnt Ihr zusammen noch so aktiv sein, Ziele formulieren wie Ihr wollt. Nicht Ihr seid es, die Euch zukunftsfähig machen und nachhaltig und bestandsfest.

Liebe Schwestern und Brüder, zu welchem Erkennen würden wir kommen in neun Monaten eines Schweigens? Was würde uns in einer Zeit des Stumm-Seins aufgehen? Dass wir noch mehr kirchliche Zukunftskonzepte formulieren? Dass wir noch nachhaltigere Optimierungsdynamiken planen? Noch mehr mitgliederorientierte Gemeindewachstumsstrategien entwerfen?
Oder könnte uns etwas ganz anderes aufgehen? Nicht das, was Du, Priester, Dir an Arbeitszielen formulierst, macht Dich zukunftsfähig. Und die Planungsprozesse der Elisabeth-Gemeinde nebenan sind es auch nicht. Da könnt ihr zusammen strategisch aktiv sein, wie ihr wollt. Nachhaltigkeit und Bestandsfestigkeit kommen von woanders her.

Ob wir für solche Einsichten erst mit Stummheit geschlagen werden müssen? Weil wir’s nicht glauben können dieses Gott hat …, Gott hat …, Gott hat …
Liebe Schwestern und Brüder, hören Sie daraus durchaus eine Sorge. Eine Sorge, die nicht zuerst der Zukunft gilt, sondern vor allem der Gegenwart. Ich habe die kirchliche Sorge, dass wir in unseren Gemeinden und Kirchenkreisen zu zukunftsbeschäftigt sind – und zu zukunftsbekümmert auch. Ich habe die Sorge, dass wir unter allem, was wir miteinander an kirchlicher Planung, an gemeindlicher Strategie und Zukunftskonzepten betreiben, dass uns darunter die Gegenwart unseres Glaubens aus den Augen gerät. So beschäftigt mit dem, was wir in Zukunft alles vorhaben, verpassen wir, was die Gegenwart heute von uns fordert.

Und es spiegelt diese Sorge, wenn ich von vielen Seiten höre „Wir kommen gar nicht mehr dazu, unser Eigentliches zu machen. Wir werden beansprucht vom Organisieren der Strukturen, vom Formulieren von Konzepten. Wir beschäftigen uns damit, wo wir mal hinwollen, und können gar nicht bei dem sein, was uns vor den Füßen liegt.“ Und das nicht allein in der Kirche. Allerorten ist man ja mit einem Kümmern um die Zukunft beschäftigt.

Für die Schule malen wir uns aus, wie künftig in Klassen mit Inklusion unterrichtet werden soll … - und lassen jetzt im Unterricht die Schüler abgehängt sein und bleiben, die dann zum Ende ihrer Hauptschulzeit nicht ausbildungsfähig sind.
Für die Bundeswehr wird eine Zukunftsreform nach der anderen diskutiert … – die Soldaten aber fühlen sich in ihren Sorgen und Nöten, die sie jetzt mit ihren Einsätzen haben, nicht wahrgenommen.

Ich wähle diese Beispiele, weil es gerade in Schule und Bundeswehr ein hohes Maß an individueller Verunsicherung gibt, Zweifel am Sinn des eigenen Tuns, Fragen nach Berufsidentität und Berufungsgewissheit. Was daran in der Gegenwart fehlt, ist nicht durch die Beschäftigung mit der Zukunft aufzuwiegen.
In unserer Kirche planen und vorbereiten wir – neben vielem anderen – für die Zukunft eines Jubiläumsjahres 2017, Martin Luther und die Reformation. Und kommen wir in der Gegenwart dazu, unsere Nase in das Bibelbuch zu stecken, wo Martin Luther und die Reformatoren sie hineingesteckt sehen wollten?

Der Münchener Komiker Karl Valentin hat sich einmal ein ganz schräges Visitationsereignis vorgestellt und gesagt „Heute Abend besuche ich mich, ich hoffe, dass ich daheim bin.“ Ich habe die Sorge: Wenn wir uns selbst mal besuchen kommen, wir könnten dann nicht zu Hause sein. Nicht ganz da. Nicht ganz bei uns. Nicht ganz bei unserer Sache.

Wo ist Zacharias? Wo bei der Sache ist dieser fromme Priester, als er – gerade im hohen Alter Vater geworden – seine Sprache wiederfindet? Ganz bei seinem Kind doch hoffentlich. Von Vätern im fortgeschrittenen Alter hört und liest man das doch, wie sehr sie bei ihrem Kind und mit ihrem Kind und für ihr Kind da sein wollen. Und dann erst dieses Kind, Johannes mit Namen! „Prophet des Höchsten“ wird er heißen und „dem Herrn vorangehen, ihm seinen Weg zu bereiten.“ Sich mit der Zukunft dieses Kindes zu beschäftigen, seine vorhandenen Aktivitäten zu messen, zu überprüfen und an die künftigen Herausforderungen anzupassen, das sollte doch wohl bei Zacharias vornan stehen.

Aber nichts davon. Der Visitationsbericht des Zacharias enttäuscht. Der besteht – nebenbei gesagt – überhaupt nur aus zwei Sätzen. Lange Sätze sind das zwar, aber eben nur zwei. Und erst im zweiten Satz spricht er von seinem Kind Johannes. Der Visitationsbescheid des Landessuperintendenten würde festhalten: Wertschätzung des Verkündigungspersonals kommt nachrangig zur Sprache. Zuvorderst bei Zacharias: Benedictus Dominus. „Gelobet sei der Herr. Denn er hat besucht und erlöst sein Volk.“

Besucht und erlöst … Kennen Sie, liebe Schwestern und Brüder, Besuche, die eine Erlösung sind? So viele gibt‘s davon möglicherweise nicht. Vielleicht sind „erlösend“ am ehesten solche Besuche, die sich nicht um Haus und Hof und Garten drehen – mein Kind, dein Kind, unser Hund, euer Hund. Solche Besuche, die überhaupt nicht mich oder dich im Mittelpunkt haben, die nicht um’s Eigene, die nicht um uns selbst kreisen.

Bei Erlösung geht es um ein Loskommen. Jeder weiß, wie das Drehen um sich selbst einen Menschen gerade nicht von sich loskommen lässt. Wie aus einem Kreisen um eigene Befindlichkeiten, um die eigenen Gedanken, Worte und Werke, wie daraus ein richtiger Strudel entstehen kann. Und wie tief wir uns im Strudel unserer eigenen um uns selbst kreisenden Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes runterziehen können.

Auch in der Kirche gibt es das. Ich kenne solche runterziehenden Gesprächsstrudel aus Besuchen von Konventen, von Kirchen- und Kirchenkreisvorständen. Da war in dem Besuch dann keine Erlösung, kein Loskommen von uns selbst.

Zacharias kann in dieser Hinsicht von einem wirklich ganz anderen Besuch berichten. Der kommt auch nicht aus einer Super- oder Landessuperintendentur. Der kommt von ganz, von ganz, ganz woanders. Er kommt direkt aus dem Herzen Gottes. Da, wo es bei uns so oft halb oder ganz dunkel ist, da ist es bei Gott hell, ganz, ganz hell. Zacharias spricht von „herzlicher Barmherzigkeit“. Heller kann vom Innersten Gottes nicht gesprochen werden: Herzliche Barmherzigkeit!

Liebe Schwestern und Brüder, einer Welt, die – wie die unsere – so unbegabt ist zur Barmherzigkeit, der müssen wir doch davon berichten.
Den Menschen, die einander so unbarmherzig darauf festlegen können, was sie geleistet oder was sie verfehlt haben, denen müssen wir doch davon sagen. Dir, der du so wenig Erbarmen mit Dir selbst haben kannst, lass Dir doch von Gottes herzlicher Barmherzigkeit predigen. Jetzt – und nicht in der Zukunft. Hier – und nicht hinterm Horizont. Da geht’s ganz bestimmt einmal weiter damit. Hier aber will uns diese herzliche Barmherzigkeit schon besuchen. Ihre Geburt liegt noch voraus. Von unseren menschlichen Ereignissen sagen wir, dass sie ihre Schatten voraus werfen. Diese Geburt wirft voraus: ihr Licht. Amen. 

Predigttext Lukas 1,67-79

Und sein Vater Zacharias wurde vom Heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach:

Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David - wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten -, dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.

Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.