Das Gold von Bethlehem

Predigt in der Christnacht 2012 in St. Johannis Lüneburg

Liebe Gemeinde in der Heiligen Nacht! Vor ein paar Stunden war überall in unseren Kirchen noch ganz Bethlehem. In den Krippenspielen waren sie alle versammelt: Maria und Josef, die Hirten, Engel, das Jesus-Kind in Bethlehems Stall. Und die Weisen aus dem Morgenland mit ihren Geschenken auch. In der Weihnachtsgeschichte, die wir eben gehört haben, kommen sie ja noch nicht vor. Als die Hirten bereits wieder umkehren, sind die Könige erst noch unterwegs. Aber wohl jeder von uns hat sie vor Augen, die drei mit ihren besonderen Geschenken, die sie zur Krippe tragen: Gold, Weihrauch und Myrrhe.
Als kindlicher Zuschauer von Krippenspielen habe ich mich immer wieder gefragt: Was ist eigentlich aus dem Gold geworden, das die Weisen aus dem Morgenland in den Stall von Bethlehem mitgebracht haben?

Was ist eigentlich aus dem Gold geworden? Eine nüchterne Frage. Sie passt in unsere Zeit. Vor ein paar Wochen konnte man in der Zeitung gelesen, dass der Bundesrechnungshof diese Frage auch gestellt hat. Unvorstellbare 3000 Tonnen Gold sind als „Reserveschatz“ im Besitz der Bundesbank. Gelagert wird dieser Schatz an vielen Orten, Teile davon sogar in Afrika - zeitweise gelagert im Kongo. Das wissen wir jetzt.

Aber das Gold von damals in Bethlehem? Wo ist das geblieben? Doch nicht im Kongo! Weihrauch; okay, damit hat Maria möglicherweise einen schönen, feierlichen Duft um die Krippe gelegt – neben Ochs und Esel war das vielleicht nötig. Und Myrrhe? Na ja, man darf sich vorstellen, Josef als praktischer Mensch wusste von ihrer Wirkung. Myrrhe-Kräuter wirken gegen Entzündungen (heute tun sie in unserer Zahnpasta ihr Gutes). Also, ich denke mir, Josef wird die Myrrhe aufbewahrt und zum Einsatz gebracht haben, als Jesus die ersten Zähne bekam.

Wo aber ist das Gold geblieben? Seitenlange Checklisten zur Baby-Erstausstattung, für die man es hätte verwenden können, gab es damals noch nicht. Und selbst dafür wäre so ein bonziges Geschenk doch viel zu groß. Vielleicht war das Gold ja schon bald nach der Geburt überlebenswichtig. Josef und Maria haben es gebraucht, um bei ihrer Flucht nach Ägypten die Grenzbeamten zu bestechen. Warum sollte es damals viel anders gewesen sein als heute? Über 15 Millionen Menschen sind zu unserer Zeit auf der Flucht. Jedem einzelnen würde ich wünschen, er hätte ein Stück Bestechungsgold, um Leib und Leben für sich und seine Familie zu retten.

Aber meine Lieblingserklärung ist folgende: Maria hat das Gold sorgsam aufbewahrt und es versteckt gehalten. Ab und zu hat sie es dann ihrem größer werdenden Sohn gezeigt und ihm damit erzählt von den besonderen Umständen seiner Geburt, von den Hirten, den Engeln der himmlischen Heerscharen und von seiner besonderen Aufgabe für die Menschen. Und dann hat sie es wieder behutsam in das Versteck gelegt.

Wenn Sie jetzt sagen „Nee, so war das bestimmt nicht …“. Dann sage ich Ihnen: Mütter tun so was! Die bewahren Dinge auf. Mütter haben so ein Gespür für Erinnerungsschätze. Goldstücke sind sie - solche Frauen. Und die kleinen Erinnerungsstücke, die sie aufbewahren, sind auch Goldschätze. Wir Männer und Väter – ich gehe mal von mir aus –, wir sind ihnen gegenüber wohl meistens eher die Wegschmeißer. Wir halten so etwas oft nur für Staubfänger und Gedöns, aber Frauen wissen es besser. Und sie haben Recht.

Solche Goldschätze, übrigens, gibt es in jeder Familie. Wenn es bei Ihnen zu Hause in den nächsten Tagen mal ruhige Stunden gibt, dann bitten Sie die Dame des Hauses doch einmal herauszurücken mit dieser Art von Gold. Und wenn Sie diese Dame selber sind, dann legen Sie es doch mal auf den Tisch. Und dann werden wir uns wieder wundern und staunen über dieses „Gold“. Was für ein Geschenk! Oft glänzt es gar nicht, man sieht ihm seinen Wert gar nicht an, bei eBay würde es nichts bringen - das Fotoalbum, ein Lesezeichen, der getrocknete Blütenstängel, das vergilbte Blatt mit der ungelenken Kinderzeichnung, die vielleicht etwas zu kitschig geratene Familienvase, der alte handgestrickte Schal, die Schachtel mit den ersten Zähnen der Kinder, oder, oder, oder …

Geschenke und Geschenktes, Materie und Materielles – das alles kann ein Behälter sein für unendlich Wertvolles! Für Erinnerungen und besondere Erlebnisse, für Liebe, ja manchmal sogar für das Überleben. Das lernt man von den Künstlern. Joseph Beuys – Sie erinnern sich: „Der mit diesem Hut“ – Josef Beuys hat sehr schlichte Kunstwerke geschaffen, aus Filz und Fett. Wenige wissen, dass Filz und Fett die Materialien waren, dank derer er die Kriegswinter in Russland überlebt hat. Filz und Fett - seine „Behälter“ für tiefe Erinnerungen.
Jetzt will ich nicht gleich sagen: Jedes Geschenk, das heute unter dem Christbaum gelegen hat, das sei schon ein Container von Emotionen. Oder alles, was wir auspacken, habe gleich herzerweichende Bedeutung.

Aber wir feiern ja Weihnachten. Gottes Geburt in dieser Welt. Gottes Geburt in die Materie hinein. Und alle weltlichen Dinge können mit einem Mal besonderen Wert bekommen. Der Weihrauch und die Myrrhe, der Stall, der Ochs und der Esel, Hirten und Engel, sie haben ihre besondere Bedeutung. Und auch die zahllosen Dinge heute um uns herum, die lebenswichtigen und die überflüssigen, die praktischen und die ärgerlichen, die billigen und die teuren. Dein liebevoll Gepflegtes und das achtlos Benutzte.

Vielleicht hat Jesus später an den kleinen Goldschatz, den er bei seiner Geburt erhielt, selbst oftmals gedacht. Und dann wusste er: Ich habe für die Menschen eine besondere Bedeutung. Und ich habe eine Aufgabe, es Ihnen zu zeigen: Jeder von Euch, jeder Mensch seine ganz besondere Bedeutung. Und jedes Eurer Gegenstände und Geschenke kann es auch haben. Jedes kann auf seine Weise sagen: Du lebst nicht von dem, was eine Bundesbank, Dir vorrechnet. Du lebst nicht von den harten Dingen, Du lebst nicht vom Brot allein. Du lebst nicht nur von deinen Händen, die „die Dinge“ bewegen und machen, sondern Du lebst auch:

- von den Worten, die einer Dir sagt und die Dein Herz berühren,
- von den Bildern, die jemand Dir malt und von den erzählten Träumen,
- von der Kerze, die Du entzündest und von dem Duft, der Dich umgibt.

Du lebst von Deinem Wissen um Gut und Böse, das Ordnung in dein Leben bringt. Du lebst von Vergebung deiner Schuld und von den Nächsten in der Familie, die Dir ein Opfer bringen. Und wenn Dir gar nichts mehr einfällt, wenn kein Brot Dich mehr satt macht und Du Durst nicht mehr spürst: Dann mag es ein Gebet sein – ein lautes oder ein stummes – von dem Du lebst.

Wem, liebe Gemeinde, das nun zu geistlich ist, der kann das ganze Jahr über in den weltlichen Zeitungen lesen, wie unter uns darüber gestritten wird, wovon wir leben wollen: Von Sonntagen, an denen wir einkaufen und arbeiten müssen oder davon, dass wir füreinander Zeit haben? Von noch einer Brücke mehr, die über die Elbe gebaut wird, oder davon, dass es belassene Landschaft gibt oder ein Erbe der Natur und der Kultur?

Jetzt feiern wir Weihnachten und die Erzählung, die wir vorhin wieder gehört haben, von Gott in der Krippe, wie er sich in diese Menschenwelt hinein schenkt, diese Geschichte ist selbst so etwas wie ein „Weltkulturerbe“. Deshalb leben wir auch von solchen Stunden wie dieser, jetzt hier in St. Johannis. Wir leben von Orgelpfeifen, die wir nicht knabbern können, von Liedern und Worten, die keinen Magen brauchen. Sie stillen einen Hunger und löschen einen Durst, sie bringen Geschmack ins Leben. Wer will, kann davon leben.

Wem, liebe Gemeinde, das zu fromm klingen sollte, dem erzähle ich aus einem Sozialbericht, in dem ich dieser Tage von einer Frau gelesen habe. Sie lebt mitten in diesem reichen Land mit seinen unvorstellbaren Goldschätzen der Bundesbank, sie lebt hier in Armut. Wenn sie etwas Geld verdient oder geschenkt bekommt, kauft sie sich davon Essen – Essen und einen Lippenstift. Sie weiß: Nur überleben ist kein Leben. Und damit weiß sie es besser als alle Politiker, der den Leuten im Fernsehen vorrechnen, von wie wenig Geld es sich auch leben lässt. Nein, ohne so etwas wie Lippenstift geht es nicht. Ohne so etwas wie rot im Kalender geschriebene Tage geht das Leben nicht. Ohne Worte, die von Glaube, Liebe und Hoffnung sprechen, ohne Lieder, die davon singen, gehen wir kaputt!
Wie arm müssen wir werden, wie arm im Geiste müssen wir sein, wenn besondere Zeiten und besondere Dinge uns nichts mehr sagen, uns nichts mehr bedeuten? Das scheinbar Überflüssige ist das Lebensnotwenige. Das von außen und nüchtern betrachtet Überflüssige ist das auf seine Art Überlebenswichtige!

Ganz notwendig für Euer Leben – so hat Gott zu Weihnachten gedacht und gehandelt – ganz lebensnotwendig ist es, dass ich Euch einen, dass ich Euch diesen einen Menschen schenke. Dieses Geschenk Jesus Christus in der Krippe soll Euch alles sagen, es soll Euch alles sein. Dieses Menschenkind

- soll Eure Herzen bewegen, dass ihr hoffen könnt,
- es soll Eure Hände öffnen, um das Leben und all sein Gutes zu teilen,
- es soll Euch zu Verstand gehen, damit Ihr Gerechtigkeit und Frieden findet.

Und wem, liebe Gemeinde, sich auch dieses zu groß und zu gewaltig anhört, dem sei von dem Mönch erzählt, zu dem in die Klosterzelle ein Besucher kommt mit der Frage: „Sag mir, was kann ich als einzelner, kleiner Mensch zum großen Frieden beitragen?“ Und der Mönch antwortet: „Wenn Du gleich das Zimmer verlässt, dann schlage die Tür nicht so laut zu.“

Schlage die Tür nicht so laut zu … - anders wird die Welt nicht anders als auf eine so leise und unscheinbare Art. So steckt in jeder nicht zugeschlagenen Tür ganzer Weihnachtsfriede. So stecken in unscheinbaren Erinnerungen Sehnsucht und Erfüllung von uns Menschen. Und so steckt in einem Kind Gottes ganze, Dir geschenkte, leise Liebe.

Ob Du wohl weißt, was für ein Goldstück Du da hast? Schau es an, Du kannst nicht grob mit ihm umgehen. Sei behutsam mit ihm. Unendlich wertvoll ist es. Steh staunend davor. Bete es andächtig an. Es schenke Dir – auch leise und unscheinbar –, es schenke Dir frohe und gesegnete Weihnacht. Amen.

Landessuperintendent Dieter Rathing