Predigt zum 50-Jährigen Kirchenjubiläum der Paul-Gerhardt-Gemeinde Lüneburg am 10. März 2013
Liebe Gemeinde, wie geht es Ihnen jetzt im Moment hier in Ihrer Paul-Gerhardt-Kirche? Haben Sie „Ihren“ Platz gefunden? Können gut sitzen, sehen und hören? Kennen vielleicht die Nachbarn in der Bank? Fühlen Sie sich wohl in diesem Raum?
Und wie war es in den vergangenen Jahren oder sogar Jahrzehnten? Mit welchen Gedanken sind Sie schon durch das Portal hier hinein gegangen? Mit welcher Freude? In welcher Not? Und wie waren die Schritte dann wieder hinaus? Erinnern Sie sich? Vielleicht auch der besonderen Tage und Anlässe, die Sie hier mit Blick auf den Altar und das Mosaik schon erlebt haben?
Können Sie gut einstimmen in die Worte, die uns heute hier zum Jubiläums-Gottesdienst eingeladen haben? „Herr, Gott, ich liebe dein Haus, den Ort, an dem deine Würde wohnt.“ Vorhin haben wir gebetet „Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für Ihre Jungen“ (Ps. 84,4)
„Ein Nest finden …“ „Wie lieb sind mir deine Wohnungen …“ „Mein Leib und Seele freuen sich…“ „Wohl denen, die in deinem Hause wohnen …“ „Deine Altäre …“ „… und schauen den wahren Gott …“ Was für eine Sehnsucht steckt in diesen alten Worten! Wie mag das gewesen sein hier in Neuhagen vor 50 Jahren? Welche Sehnsucht nach einem Kirchraum! Was für ein kräftiger Wille, sie zu erfüllen! Sich unter einem Kirchendach geborgen fühlen. Die Gegenwart Gottes erfahren. Von seiner Kraft spüren. Freude auf den Gottesdienst in solch einem Raum. „Herr, Gott, ich liebe dein Haus, den Ort, an dem deine Würde wohnt.“ Wie viel von dieser Liebe mag am 10. März 1963 hier im Raum gewesen sein beim Weihegottesdienst?!
Wie können Menschen überhaupt solch eine Liebe entwickeln zu einem Haus, das doch nur aus Stein und nur ein Werk von Menschen ist? Als Evangelische haben wir ja so unsere Mühe mit dem Gedanken, dass es so etwas wie heilige Gegenstände, heilige Orte oder heilige Räume gäbe. Wir sagen „Gottes Wort ist der Schatz, der alle Dinge heilig macht“ und folgen darin Martin Luther, der meinte, sogar ein Saustall könne ein heiliger Ort werden, wenn darin recht gebetet werde.
Natürlich ist es theologisch richtig, dass vor Gott erst einmal alle Räume, Zeiten und Orte gleich sind. Da haben die Mauern hier an und für sich keinen Vorzug vor solchen, aus denen Ställe oder Fabriken gebaut werden. Aber es gibt theologische Richtigkeiten, die sind zugleich auch geistliche Dummheiten. Als geistliche Weisheit habe ich dagegen von einem jüdischen Rabbi einmal gelernt – er sagte das mit Blick auf seine Heilige Stadt Jerusalem: Selbstverständlich ist Gott überall gegenwärtig. Aber mit ihm ist es wie mit dem menschlichen Puls. Der ist auch überall, aber man fühlt ihn deutlicher an besonderen Stellen.
Man fühlt ihn deutlicher an besonderen Stellen … Und so greift unter uns Evangelischen die Erkenntnis Raum, dass wir als Menschen, als Geschöpfe Gottes solche Puls-Orte brauchen, an denen wir uns der Nähe Gottes in besonderer Weise vergewissern können. Unsere Kirchenräume, dieser Raum der Paul-Gerhardt-Kirche ist mehr und ist anderes als normale Räumlichkeit. Unser christlicher Glaube gründet nicht auf Äußerlichkeiten, aber ohne Äußerlichkeit kann er auch nicht gedeihen. Wir bauen unseren Glauben nicht nur von innen – vom Herzen, von der Seele – nach außen, sondern Herz, Seele und Glauben werden auch von außen her auferbaut.
Hier hast du mit Gott gerungen und ihn gelobt. Hier hinein hast du dein Kind zur Taufe gebracht. Hier hast du Treue geschworen. Eure Toten haben ihr hier beweint und Eure Konfirmanden unter Gottes Segen gestellt. Das Glück der Jubilare schwebt hier in diesem Raum und die Seufzer der Bedrückten tun es auch. Eine Not ist dir hier zu Herzen gegangen, und das eine Wort hast du hier gehört, das dir zum Trost geworden ist. Mit der Freude eines Liedes bist du hier heraus gegangen, und eure Kinder waren hier schon viele lebendige Feiern wert. Eure Großeltern haben hier ihr letztes Gebet gesprochen. Ein Händedruck, den du von hier mitgenahmst, war stärker als dein Zweifel, den du mitgebracht hattest. Ein Choral vermag hier heraus zur Lebensmelodie zu werden.
Gesungen haben wir es ja vorhin auch „Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht“. Hier finden Menschen ein Nest für ihren Glauben. Die einen, die mit ihrem Dank und ihrer Freude und im festen Gottvertrauen hier hereintreten. Und die anderen, die hier herausgehen vielleicht nur mit der Ahnung, dass sie in ihren Ängsten und Nöten nicht allein gelassen sind vom ewigen Gott. Die Bösen und die Guten. Die von Gott Ergriffenen und die, die ihn immer wieder gar nicht begreifen können.
Ja, auch die, die Gott immer wieder nicht begreifen können! Ja, auch dann, wenn wir das selber sind, der oder die Gott mal wieder nicht begreifen kann. Auch dann gehören wir zu dieser Kirche, gehören wir in diese Kirche hinein. Auch dann, wenn Gott uns wie eine einzige große Zumutung erscheint, sind und bleiben wir ein Teil der kirchlichen Gemeinde. Denn für einen allein ist der Glaube immer zu schwer.
Und weil für einen allein, der Glaube immer zu schwer ist, deshalb kommen wir und deshalb bringen wir uns in den Kirchengemeinden zusammen. Zusammen um Brot und Wein im Abendmahl. Zusammen aber auch schon vorher und neben den Gottesdiensten. Kirche ist nicht erst dann Kirche, wenn sie Gottesdienst feiert. Kirche ist da schon Kirche, wo sie Menschen zusammenbringt.
Kirche fängt damit an, Kirche zu sein, wenn sie Menschen verbindet. Vor gut 100 Jahren hat der Soziologe Emil Durkheim die Formen kirchlich und religiösen Lebens untersucht, und er ist zu dem Schluss gekommen: Ein wichtiger Sinn von Religion und Kirche ist es, den Kontakt zwischen den Menschen herzustellen, Orte und Gelegenheiten zu finden und zu gestalten, damit wir unsere größte Freude und unsere größte Trauer - und alles was dazwischen liegt - als Menschen miteinander teilen können. Für einen allein ist der Glaube immer zu schwer.
In einer kleinen Anekdote finde ich das schön aufgehoben: Da fragt der Sohn den Vater: „Wenn du, wie du sagst, gar nicht so hundertprozentig an Gott glaubst, wenn du gar nicht richtig fromm bist, warum gehst du dann regelmäßig zur Kirche?“ Der Vater antwortet: „Christen gehen aus mancherlei Gründen zur Kirche. Mein Freund Emil zum Beispiel geht, um Zwiesprache mit Gott zu halten. Und ich gehe hin, um Zwiesprache mit Emil zu halten.“
Diese Zwiesprache mit Emil, die wird hier im Paul-Gerhardt-Gemeindehaus mit vielen Dialekten gesprochen. Im Frauen- und im Frühstückstreff. Beim Handarbeiten und unter den Senioren. In den Chören und im Kleinen Keller Theater. Zwischen Nationen, Konfessionen und Generationen. In der Kindertagesstätte und bei der Kindertafel. Zwiesprache mit Emil - das ist „Gott praktisch“, das ist Nächstenliebe zum Anfassen, Glaube auf frischer Tat, Gott im Alltag von Paul-Gerhardt und im Stadtteil. Zwiesprache mit Emil - manchmal muss die erst einmal sein, bevor wir zur Zwiesprache mit Gott kommen. Und Zwiesprache mit Gott, die verstehen wir nur dann richtig, wenn sie auch zur Zwiesprache mit Emil wird.
Aber nun, wenn das alles mit Emil und Emilie, wenn das mit all den Verbindungen zwischen Menschen in einer Gemeinde gelingt, wenn aller Hunger und Wunsch nach Gemeinschaft erfüllt ist, ist dann auch zugleich schon der ganze Lebenshunger gestillt? Der christliche Glaube weiß auch noch von einer anderen Sorte Hunger und von einer anderen Art des Sattwerdens. Jesus hat Brot und Fische unter den Menschen verteilt, gegen den Hunger des Magens. Aber er hat auch gesprochen vom „Brot des Lebens“. Und nach solchem Brot knurrt dann nicht der Magen sondern die Seele.
Unser Glaube weiß etwas davon, dass mich gerade dann, wenn ich in der Menge von Leuten bin, eine große Leere einholen kann. Weiß etwas davon, dass gerade dann, wenn ich äußerlich zufrieden gestellt bin, die Ahnung in mir aufkeimt, dass das bisher Erlebte noch nicht alles gewesen sein kann. Dass menschlicher Lebenshunger gerade dann in aller Ernsthaftigkeit erwacht, wenn es um alles äußerliche Essen und Trinken gut bestellt ist.
Und dann suchen wir und dann kommen wir zu solchen Räumen und Orten wie den, in dem wir hier sind. Heilige Haltestellen der Seele hat unsere Kirchen einmal jemand genannt. Heilige Haltestelle der Seele. Das möge diese Paul-Gerhardt-Gemeinde und das möge diese Kirche heute sein – und bleiben in den Tagen die kommen. Amen.