Alle sind Schwestern und Brüder

Liebe Schwestern und Brüder! Schwester und Bruder - diese wunderbare Anrede ist die ganze Wahrheit. Du und ich, wir sind aus einem Holz geschnitzt. Die Wurzeln unseres Lebens stecken im selben Boden. Wir sind verwandt von Herkunft und Bestimmung. Wir können einander Blut spenden. Der eine Gott hat dich, hat mich gezeugt – geboren mit Hilfe der Eltern. Als Schwester und Bruder brauchen wir uns eigentlich nur noch erkennen – wiedererkennen und anerkennen.

Wie erkennen wir uns? Natürlich mit den Augen. Also, Augen auf! Ich sehe dich. Du siehst mich. Aber Achtung! Deine Augen spielen Dir gern einen Streich. Auf den ersten Blick siehst Du vielleicht nur alles das was anders ist und komisch und fremd.

Ein Mann mit schwarzem Mantel und Kreuz um den Hals auf dem Marktplatz... Das Mädchen mit Kopftuch... Im Rollstuhl der Junge, der ganz anders spricht - oder nicht weiß, dass heute Freitag ist... Hier zappelt einer herum, da muss eine geschoben werden..., hier redet einer zu viel, woanders spricht jemand gar nicht..., hier verdreht einer den Kopf, da stolpert jemand herum... Deine Augen sehen immer zuerst, was anders ist und komisch und fremd.

Da brauchen wir eine andere Brille. Hier in der Stadt und im ganzen Land. In der Schule und im Sportverein. In der Kirche und in den Kindergärten. In der Politik und in der Kneipe. Wir brauchen einen anderen Blick. Wir brauchen den Blick, mit dem wir erkennen: Es ist normal verschieden zu sein.

Gleich und gleich gesellt sich gern? Nein! Vielfalt macht stark! Neben dem kann ich nicht sitzen? Nein! Mit jedem kannst Du Dich ergänzen! Du kannst Dir allein die Welt erklären? Nein! Ich sehe was, was Du nicht siehst! Also, Augen auf! Aber lass Dir von Deinen Augen keinen Streich spielen. Das Andere, das Komische und das Fremde, alles Verschiedene ist das Normalste von der Welt. Lass Dir Lust machen zum Verknüpfen, zum Befreunden. Lass Dir Lust machen zur Lust am Nächsten.

Ein Bild aus Kindertagen ist noch frisch: Die anderen feiern Geburtstag, und ich bin nicht eingeladen. Die anderen spielen, und Du darfst nicht mitmachen. Die anderen haben ein Geheimnis, und Du darfst es nicht wissen. Jeder hat eine Ahnung davon, wie das ist, wenn man vergessen wird. Nicht beachtet. Wenn man nicht dazugehören darf. Das tut weh.

Eben haben wir von Isai und Samuel gehört/gesehen. Auch den beiden spielen die Augen erst mal einen Streich. Sie sehen nur, was vor Augen ist. Sie sehen die Starken und die Geschickten, sie sehen die mit der lauten Stimme und mit dem schlauen Kopf … Erst am Ende fällt ihnen David ein – der Kleine, der Träumer, der Stille... Ganz weit weg ist der. Irgendwo da draußen. Mit den Augen ist er gar nicht zu sehen. Aber mit dem Herzen sehen Isai und Samuel ihn dann doch. Gott, sei Dank. Auch wenn es lange gedauert hat.

Liebe Schwestern und Brüder. Auch bei uns hat es lange gedauert. Und es wird noch lange dauern bis wir an all die denken, denen wir bislang noch weh tun. Die wir noch nicht zum Mitmachen eingeladen haben. An die wir noch nicht denken. Die wir noch nicht vor Augen haben. Die wir erst noch erkennen müssen – wiedererkennen und anerkennen. Sie gehören doch dazu. Ihre Wurzeln stecken im selben Boden. Ihr Blut ist kein anderes.

Ein waches Auge werden wir dazu gebrauchen. Wache Augen für Treppen und Bordsteine, die noch im Wege sind. Augen für Gesetze und Barrieren, die gemeinsames Leben noch behindern. Gemeinsames Lernen und Arbeiten. Gemeinsames Busfahren und gemeinsames Beten. Lachen und Weinen. Mit allen Kräften wollen wir daran arbeiten.

Ein waches Auge brauchen wir aber auch da, wo wir Kräfte überfordern.
Lehrkräfte an den Schulen, wenn es zu wenige sind in einer Klasse für Schüler mit und ohne Behinderung. Erziehungskräfte in den Kindergärten, wenn Ihnen „Inklusion“ noch unheimlich ist. Auch da, wo wir die Kraft von Gesetzen vielleicht überfordern, weil nicht alles, was die Gemeinschaft von vielen Verschiedenen fördert, „kraft Gesetzes“ erreicht werden kann. Ein waches Auge auch dafür.

Aber noch mehr, noch viel mehr als wache Augen brauchen wir ein waches Herz. Ein Herz, das mehr sieht als vor Augen ist. Viele Menschenherzen, die dafür schlagen, dass uns die Augen keinen Streich mehr spielen. Und alles, was anders ist und komisch und fremd gehört dazu. Und dann wird es immer normaler werden, verschieden zu sein. Amen.

Landessuperintendent Dieter Rathing