Thementag Europa des DGB am 28. März 2014 - Rathing über den Beitrag der Kirchen
Wir sind auf dem Weg nach Europa, das spiegelt sich in der Einladung zu heute: „Europa – In Demokratie Frieden, gute Arbeit und Soziales sichern.“ Wir sind auf diesem Weg nach Europa seit einigen Jahrzehnten. Am 25. Mai wählen wir zum achten Mal für Europa. Wenn von einem Weg nach Europa gesprochen wird, hört sich das Ziel oft sehr weit an, so, als müsse ganz fremdes Neuland betreten, etwas ganz Neues ausgehandelt und entwickelt werden, und die Aufgabe wird groß und gigantisch beschrieben.
Ich möchte daran erinnern: Über Jahrhunderte hin ist Europa bereits eine Einheit gewesen. Man sprach und wir sprechen heute immer noch vom "christlichen Abendland". Dieses „christliche Abendland“ war die Verbindung von Europa mit dem Christentum. Über Jahrhunderte hinweg konnte man das gar nicht anders denken. Die Gesellschaft war christlich bestimmt. Natürlich gab es auch damals schon Ausprägungen unterschiedlicher Kulturen in verschiedenen Regionen. Aber sie wurden doch durch den gemeinsamen Glauben und - was nicht zu unterschätzen ist - durch eine gemeinsame Hochsprache, nämlich das Lateinische, zusammengehalten. Wer eine Kirche aufsuchte, nahm an der überall gleichen Messe teil. In Irland sah sie nicht anders aus als in Spanien oder in Süditalien. Und wer des Lateinischen mächtig war, konnte sich - auf den Spuren des römischen Reiches - in ganz Europa verständigen.
Ich rede jetzt nicht von den wirtschaftlichen Verbindungen, zum Beispiel durch die Hanse, oder von den politischen Fäden, die durch Heirat gezogen wurden, nicht von den kulturellen Verbindungen der Musik, der Architektur, der Literatur. Beim „christlichen Abendland“ denke ich an die gemeinsame „europäische Seele“, und die war christlich geprägt. Die Menschen des Mittelalters, aber auch der frühen Neuzeit waren mit diesem gemeinsamen christlichen Band in der inneren Verfasstheit vielleicht viel stärker europäisch, waren vielleicht viel mehr Europäer, als wir das zur Zeit sind.
Aber wir alle wissen, diese innere Einheit hat sich aufgelöst. Zum einen aus der Kirche selber heraus. Mit der Reformation kam es zu katholischen, evangelisch-lutherischen und evangelisch-reformierten Territorien. Anders als in solchen getrennten, geschlossen konfessionellen Gebilden meinte man, nicht leben und regieren zu können. Die Trennung der Kirche in Konfessionen hat zur inneren Trennung Europas ungewollt einen entscheidenden Beitrag geleistet.
Ein wichtiger zweiter Grund für die Auflösung der inneren Einheit Europas, war das Aufkommen des Nationalgedankens im 19. Jahrhundert. Nationalismus war die Parole, für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu kämpfen. Und der Nationalismus schuf ein Bewusstsein für die Bedeutung und den Wert der eigenen Nation. Wie leicht sich dieses Bewusstsein ins Übermaß pervertieren konnte, dafür gibt die deutsche Geschichte trauriges Anschauungsmaterial her.
Was kann der Beitrag der Kirche sein für eine Wiedergewinnung Europas? Ganz gewiss nicht ein neues „christliches Abendland.“ Aber drei Aspekte will ich nennen.
1. Ökumene und Interreligiöser Dialog
2004 hat Ministerpräsident Prodi als Präsident der Europäischen Kommission in Brüssel aus Anlass des Besuchs von europäischen Kirchenvertretern gesagt: „Bis zu einem gewissen Grade nehmen Sie in den Kirchen die Zukunft Europas vorweg. Denn die entscheidende Aufgabe Europas ist es, der Pluralität eine Gestalt zu geben, die Einheit in Verschiedenheit zu leben.“ Und er fuhr fort: „Die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen ist ein Modell für die Einheit in Verschiedenheit, die wir in Europa brauchen. Die Weise, in welcher die Religionen ihr Verhältnis untereinander klären und wie sie ihren Dialog gestalten, ist von enormer Bedeutung für die Frage, ob unsere Gesellschaft ihre Differenzen friedvoll klären kann oder nicht.“
Mit unseren ökumenischen Bestrebungen nehmen wir das auf. Ziel ist nicht eine Wiederherstellung der Einheit, die einmal das „christliche Abendland“ war, sondern vielmehr eine versöhnte Verschiedenheit unter den Kirchen. Kirchen und Religionsgemeinschaften werden zu Recht an ihren eigenen Maßstäben gemessen. Wer von Frieden und Versöhnung redet, muss selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Deswegen ist die Frage, wie das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen, aber vor allem auch der verschiedenen Religionen sich gestaltet, eine für die Glaubwürdigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften zentrale Frage. Und darum ist es wichtig, dass wir als Christen, als Juden, als Muslime, aber auch als Angehörige anderer Religionsgemeinschaften lernen, respektvoll und offen miteinander umzugehen. In der Sprache der kirchlichen Ökumene ausgedrückt geht es dann auch politisch um eine "versöhnte Verschiedenheit" Europas.
2. Beheimatung
Europa soll mehr sein und will mehr sein als nur die Möglichkeit des freien Geld- und Warenaustauschs. Der ehemalige Ratsvorsitzende Jacques Delors hat einmal gesagt: "Europa braucht eine Seele!" Was hat mein Gedanke von Beheimatung mit der Vorstellung einer Seele Europas zu tun? Mit Heimat und Europa scheinen erst einmal gegensätzliche Orientierungen verbunden zu sein. Aber etwas für die „Seele Europas“ tun, das fängt für mich im Kleinen an, nämlich bei der Vergewisserung, wer wir sind. Nur wer weiß, wo er zu Hause ist, kann sich leichter in die weite Welt begeben. Wer selbst ein Dach über dem Kopf hat, dem kann es leichter fallen, sich von der Not derer anrühren zu lassen, die das nicht haben. Wer selbst stabil ist, kann sich um die Instabilen kümmern. Das gilt für körperliche wie für seelische Stabilität. Es ist das Kennzeichen der beiden großen Kirchen in unserem Land, aber auch in anderen Teilen Europas, dass sie fest mit den Regionen verbunden sind, dass sie Menschen Heimat geben. Solche Beheimatung ist immer dann besonders wichtig, wenn etwas für uns unübersichtlich wird. Europa ist für viele Menschen unübersichtlich, diffus und gelegentlich auch mit Befürchtungen und mit Angst besetzt. Da braucht es Orte der eigenen Verankerung und Vergewisserung. Die Seele Europas wird gefüttert von Menschen, die wissen wo sie herkommen.
3. Ethische Orientierung
Ethische Orientierung ist der dritte Beitrag, den die christlichen Kirchen leisten können, damit Europa eine "Seele" bekommt. Selbstverständlich gehe ich davon aus, dass sich die Staaten der Europäischen Union als weltanschaulich neutral verstehen. Das ist auch bei uns in Deutschland so. Aber sie sind deshalb keineswegs wertfrei! Europäische Politik muss sich an Werten orientieren, die sie nicht selbst schaffen kann, die sich aber in der eigenen Geschichte finden lassen. Was findet sich in der eigenen Geschichte unserer Kirche? Zum Beispiel die Frage nach dem höchsten Gebot. Was soll an erster Stelle menschlichen Tuns stehen? Jesus antwortet auf diese Frage: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lukas 10,27). Und deinen Nächsten wie dich selbst! In diesem Satz steckt der Gedanke menschlicher Solidarität.
Ein Kennzeichen der letzten Jahre ist die alle Lebensbereiche umfassende Ökonomisierung. Marktkräfte bestimmen unser Leben. Aber je stärker nach Marktgesetzen, nach Konkurrenz, nach Effizienz gefragt wird, umso mehr wird auch danach gefragt, was diese Mechanismen eigentlich im Zaum hält. Wir spüren, dass ein Funktionieren nach Marktregeln unserem Leben keinen Halt gibt, dass wir nicht allein als Wirtschaftsfaktoren und Konsumenten im Blick sein wollen. Sondern dass da etwas sein muss, dass dem Leben Sinn, Halt und Tiefe gibt. Dort, wo Religionen, in meinem Fall das Christentum, Barmherzigkeit und Orientierung geben können, werden die Menschen in Europa diese Stimme aufmerksam hören. Diese Rolle gehört zu uns: Solidarität und Barmherzigkeit zu üben in einer ökonomisierten Welt, Orientierung zu bieten und Orte und Riten bereit zu halten, die auch jenseits der je eigenen Mitgliederschaft tragfähig sind.
Mit alledem ist nicht das Modell eines christlichen Abendlandes wiederbelebt. Vielmehr geht es darum, Hilfe zu geben, versöhnte Verschiedenheit zu leben, Beheimatung zu vermitteln und Angebote zur Orientierung zu machen. Das sehe ich als Beitrag der Kirchen zu einer "Seele" Europas.