Glockenweihe in St. Johannis Lüneburg

Predigt von Dieter Rathing im Gottesdienst zur Glockenweihe am 22. Juni 2014 in St. Johannis Lüneburg

 

Liebe Gemeinde, jetzt sind wir vorhin (nach der Glockenweihe auf dem Platz „Am Sande“) so in die Kirche eingezogen, wie es die Prominenz der kleinen Gemeinde Störmthal bei Leipzig im Jahr 1723 auch getan haben mag. Und wenn Sie noch die ersten Takte der Kantate („Höchsterwünschtes Freudenfest“ BWV 194) im Ohr haben – gleich nach dem Einzug, noch ganz ohne Chor –, dann mögen Sie sich vielleicht an eine Ouvertüre erinnert haben, das Wecken einer Erwartung, der man entgegengeht. Das Portal tut sich auf, und gravitätisch schreitet man rhythmisch-getragenen Schrittes in den Festsaal hinein. Von Jesaja haben wir – passend dazu – in der Lesung gehört „Gehet ein, gehet ein durch die Tore. Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker.“ (Jes. 62,10)

1723 war dieses „Zeichen“, war dieser „Festsaal“, zu dem man einging, die frisch renovierte Störmthaler Kirche mit ihrer neu erbauten Orgel, zu deren Weihe Johann Sebastian Bach diese Kantate zum ersten Mal aufgeführt hat. Vor lauter Glocken soll nicht untergehen, dass auch wir hier heute eine neu erbaute Orgel in den Dienst nehmen. Die neue Truhenorgel, deren Pfeifen heute zum ersten Mal in der Kantate zum Klingen kommen.

Nachdem die Einziehenden in Störmthal dann unter den ersten Takten ihre Plätze eingenommen hatten, gab ihnen und der ganzen Gemeinde dann der Chor die ersten Worte aller Freunde und allen Dankes, die man im Herzen trug
„Höchsterwünschtes Freudenfest, das der Herr zu seinem Ruhme
im erbauten Heiligtume uns vergnügt begehen lässt.“

Ob man dann vor lauter Vergnügen zwischendurch noch einmal zum Tanzen aufgestanden ist – im Gottesdienst? – das will ich wohl bezweifeln. Aber die beiden Arien, die wir gehört haben und die zwei, die wir noch hören werden, diese Arien haben schon etwas sehr Tänzerisches an sich, und ich kann mir vor Freunde hüpfende höfische Tanzwesen gut dabei vorstellen. Und tatsächlich bringt Johann Sebastian Bach mit dieser Kantate eine ursprünglich zu einem ganz weltlichen Glückwunschfest komponierte Musik in die Kirche hinein. Gott, der Herr, kommt „zu seinem Ruhme“ erst durch den geistlichen Text, der das „erbaute Heiligtume“ besingt.

Was für ein wunderbares Zusammenspiel! Ganz weltliche „Tanz“-Musik kommt in die Kirche hinein und macht die geistlichen Gedanken schön und die Werke, die im religiösen Dienst stehen auch – eine Orgel, Glocken, ein ganzes Kirchengebäude. Weltliches klingt in die Kirche herein und macht sie schön. Ob das andersherum auch funktioniert? Aus der Kirche klingt etwas hinaus, das die Welt schön macht? Die Glocken vom St.-Johannis-Kirchturm zum Beispiel, machen sie die Welt schön? Oder sind sie der Welt wenigstens dienlich, hilfreich, nützlich? Verstehen Menschen noch die Sprache der Glocken? Weiß man noch, was sie in die Stadt und in das Land hinein läuten? Oder hat vielleicht schon eine religiöse Schwerhörigkeit eingesetzt, die taub ist gegenüber kirchlichem Läuten? Ein christlicher Analphabetismus, der nicht mehr entziffern kann die Zeichen und Laute, die aus dem erbauten Heiligtume nach draußen dringen? Was läuten denn die Glocken in die Welt hinein?

Zuerst einmal läuten sie in der Welt, dass christlicher Glaube immer öffentlicher Glaube ist. Ein Glaube, der sichtbar und hörbar, der laut werden will. So verschämt und privat, so hinterm Berg und im kleinen Kreis wie wir oft die Religion und den persönlichen Glauben auch pflegen – es gehört ganz klar zu ihm, dass er auch laut wird, es gehört deutlich zu diesem Glauben, dass er anderen Menschen zu Gehör kommt, so weit weg von ihm sie auch sein mögen. Die Glocken läuten das in diese Welt hinein.

Auch wenn gerade dieses unter uns immer wieder kontrovers diskutiert wird. Öffentliche religiöse Symbole sind umstritten – Kopftuch, Ordenstracht und Kruzifix. Und es ist immer wieder einmal Gegenstand von Gerichtsurteilen, ob überhaupt und dann zu welchen Zeiten Kirchenglocken läuten dürfen. Zwar drückt das Glockengeläut vom Kirchturm keine vordergründige religiöse Botschaft aus, wie der Muezzinruf vom Minarett es tut, doch jede Glocke schlägt ganz eindeutig für eine öffentliche Kirche und ein öffentliches Christentum.
In unserem Land darf der christliche Glaube öffentlich sein. Glocken dürfen läuten. Gott sei Dank! Jetzt stellt sich eine ganz andere Frage. Ist diese Öffentlichkeit des Glaubens eigentlich noch gedeckt mit einem Glauben, den wir im Herzen tragen, den wir unter der Woche zu Hause bei uns haben? Ist der Glaube noch verwurzelt in den Lebensgeschickten von Menschen, in den Familien, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Paaren und Freundeskreisen? Tischgebet und Abendgebet? Glaubensdebatte zwischen Alt und Jung, unter Kollegen oder am Küchentisch? Gibt es das noch?

In der Kantate gibt es das. Da werden wir nachher Zeuge einer solchen „Glaubensdebatte“ zwischen Bass und Sopran im Duett. Wunderbar! Für alle, die nicht mehr wissen, wie so was geht. Der Bass singt die Rolle des zweifelnden, seines Glaubens unsicheren Menschen
„Kann wohl ein Mensch zu Gott im Himmel steigen?“
Nicht so wie du denkst, antwortet der Sopran, aber
„Der Glaube kann den Schöpfer zu ihm neigen.“
Bass: „Ist der Glaube dazu nicht zu schwach?“
Antwort: „Des Höchsten Kraft wird mächtig in den Schwachen.“

Der Sopran gibt dem Bass-Skeptiker immer wieder ein Gegenüber und steht für den Glauben an Gottes Huld und Kraft. Wissen wir noch etwas von einem solchen persönlichen Stehen und Gehen für den Glauben? Oder haben wir die Diskussion über den Glauben schon abgegeben? An die Geistlichen auf der Kanzel oder an die Talkshows im Fernsehen, an die kirchlichen Denkschriften oder die Presseerklärungen aus der Bischofskanzlei? Lassen wir lieber in den Zeitungen darüber diskutieren, ob wir einen Gott brauchen um zu glauben (Titelgeschickte des SPIEGEL in der vergangenen Woche), ob wir unsere Kinder vom Pastor taufen lassen oder sie vom neuen Beruf des Ritualdesigners ins Leben hinein gefeiert wissen wollen (darüber wurde in der ZEIT zu Pfingsten debattiert).

Von dem, was sich glaubensmäßig im Kleinen formt und was sich unter unseren Dächern zu Hause abspielt, von dem, was jeder von uns persönlich an christlicher Tradition pflegt, von dem lebt ja der öffentliche Anspruch unserer Kirche. Wenn wir als Einzelne im Privaten nicht mehr von unserem Glauben sprechen, nicht mehr individuell sichtbar unsere Zeichen und Symbole pflegen, dann wird der öffentliche Anspruch mit dem wir die Glocken läuten lassen, dann wird das von innen heraus kahl und schal werden. Die weithin hörbaren Glocken haben nur dann ihr Recht, wenn wir als einzelne Christen in unserem Christsein nicht undeutlich werden. Das öffentliche Läuten hat nur dann Überzeugungskraft, wenn wir persönlich mit unserem Glauben nicht verstummen, wenn wir keine Leisetreter unseres Glaubens sind oder es werden.

In der Kantate ist ganz durchgehend vorausgesetzt, dass es diesen Zusammenhang zwischen öffentlich und privat geben muss. Ja, das Heiligtum wird kräftig besungen, der große Glanz, das heilige Feuer und das helle Licht des dem großen Gott geweihten herrlichen Hauses. Aber darin und dazwischen hören wir immer wieder die Aufforderung „zum Gebete deiner Knechte“, die Erinnerung daran, dass dem Einzelnen aus seiner – auch „geweihten“ – Brust heraus etwas über die Lippen kommen möge, und sei es, wie wir es gerade vor der Predigt gehört haben, und sei es das kleine „Fünklein“ des Glaubens, das Gott „aufblasen“ möge.

Das kleine Fünklein mag es nötig haben. Auch hier und heute unter uns. Denn so vergnügt wie wir das „höchsterwünschte Freudenfest“ heute feiern – mit Festgottesdienst, mit Kirch- und Orgelweihkantate, mit Dank- und Lobreden, mit allem, „was des Höchsten Glanz erfüllt“ unter dem vollen Geläut aller Glocken – es mag auch hier oder da jemand unter uns sein, in dessen Ohr das so groß und so gewaltig, so tönend laut, so überlaut ankommt, dass die eigene Kehle, die eigene Glaubensstimme, das eigene vielleicht gerade kleine Fünklein Gottvertrauen da nicht mitkommt.

Ja, es ist schön, das große volle Geläut zu hören. Acht Glocken! Was für ein Klang! Und oft kann ich wohl mit ganzem Herzen darin einschwingen, mit Dank und Freude und mit einem sich selbst gewissen Glauben. Zu anderen Zeiten bin ich von Zögern bestimmt. Zu anderen Zeiten höre ich lieber ein leiseres Klingen, höre ich gern den verhaltenen Schlag, habe lieb den Ton einer einzelnen Glocke. Der verschwebende Klang ist mir und meinem manchmal auch kleinem Glaubensmut dann etwas näher.

Vorhin im Erwarten des ersten Klangs der einzelnen Glocken habe ich genau hingehört. Ich liebe diesen Moment, wo ich ahne, wo ich weiß, die Glocken schwingen sich ein, sie holen aus und erwerben sich Kraft. Und der Klöppel schlägt erst ganz leise an und ist noch ganz zögerlich. Als hätte er noch keinen richtigen Mut, als trüge er noch ein Zögern in sich, als hätte er noch Zweifel, ob er wirklich zum kräftigen Läuten tauge. Als sei in ihm noch nicht mehr als die Sehnsucht danach, einmal mächtig und groß zu schlagen.

In solchem leisen Anschlag der Glocken, in ihrem sachten Einklingen, im verschwebenden Ausklingen, da hat auch das kleine Fünklein des Glaubens seinen Platz. Da nehmen die Glocken auch die noch zweifelnde Seele und alle ihre Sehnsucht nach Glauben mit in ihr Läuten hinein. Die mutlose Seele soll unter ihrem Klang Kraft kriegen. Dein zögernder Schritt soll darunter fest werden. Und wo deine Hoffnung klein und du nur voller Sehnsucht nach Glauben bist, da höre unter dem Klingen der St.-Johannis-Glocken das Herz deines Gottes für dich schlagen. Amen.