Predigt von Dieter Rathing über Lukas 5,1-10 am 12. Oktober 2014 in St. Johannis, Lüneburg
Eröffnung einer Predigtreihe des Bischofsrates zum EKD-Themenjahr "Reformation und Politik"
Und Jesus sprach zu ihnen: Wenn jemand unter euch einen Freund hat und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf. Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. (Lukas 11, 5 – 10)
Liebe Gemeinde, in diesen Worten hören wir von einem Ruhestörer. Mitten in der Nacht klopft er an der Haustür. Der Hausherr fragt durch die geschlossene Tür, wer denn da sei. Es ist der Nachbar, ein Freund. Dringend braucht er Hilfe, denn er hat überraschenden Besuch bekommen. Es fehlt ihm an Brot, um seinen Gast zu bewirten. „Mach keine Unruhe, meine Familie schläft, es ist spät. Kannst Du nicht morgen kommen?“ versucht sich der Hausherr aus der Lage zu winden. Man kann sich das leicht vorstellen, so wichtig scheint die Sache nicht zu sein. Jesus aber schließt die Erzählung mit einer ganz anderen Feststellung: Der Hausherr wird dem Bittsteller das Brot geben. Einmal, weil er ein Freund und Nachbar ist. Und zum anderen, weil er so unverschämt drängt. „Klopfet an, so wird euch aufgetan“ – mit diesem großen Wort schließt die Erzählung. Gemeint ist damit Gott, an den wir uns wenden können. Gemeint sind damit wir als Gottes Ebenbilder, an die man sich wenden kann.
Knapp 110.000 Menschen haben sich im vergangenen Jahr in Deutschland an uns „gewandt, haben „angeklopft“, einen Asylantrag gestellt. Einem Viertel von Ihnen wurde „aufgetan.“[1] Zu viel? Zu wenig? Schätzungen zufolge waren Ende 2012 weltweit rund 45 Millionen Menschen auf der Flucht.[2] In zwei Wochen richtet die Bundesregierung eine Konferenz aus zum Umgang mit syrischen Bürgerkriegs-flüchtlingen. Rund 30.000 Syrer sind seit Beginn der Gewalt nach Deutschland gekommen. Es gibt weitere Aufnahmeprogramme.[3] Zu viel? Zu wenig? „Im Libanon leben derzeit mehr als eine Million Flüchtlinge. Das ist gerechnet auf die Bevölkerung, als wären unter uns in Deutschland 20 Millionen Flüchtlinge anwesend.“[4]
„Klopfet an, so wird euch aufgetan.“ Liebe Gemeinde, man kann aus einer biblischen Erzählung ganz gewiss keine ganze Flüchtlingspolitik ableiten. So wie man mit der Bergpredigt auch nicht die Welt regieren kann. (Helmut Schmidt) Aber man kann mit der Bergpredigt die Herzen der Menschen erreichen. Und so erreichte Herzen regieren die Welt anders. Und so kann man mit einer biblischen Erzählung darüber nachdenken, an welchen Maßstäben wir uns messen lassen wollen, wenn wir über Flüchtlinge reden, in welcher Haltung wir ihnen begegnen und welche Ziele uns leiten, wenn wir über ein Asyl von Flüchtlingen bei uns reden.
Als erstes nehme ich aus der biblischen Erzählung wahr: Die Frage der guten Ordnung tritt zurück hinter die gute Beziehung. Die Frage der Nachtruhe wird zweitrangig, wenn ein Nachbar klopft. Eine Störung von Ruhe und Ordnung ist zu akzeptieren, wenn ein Mensch in Not ist, so Jesus.
Als eine „Störung von Ruhe und Ordnung“ wird das immer wieder umstrittene Asyl wahrgenommen, das Kirchengemeinden Flüchtlingen gewähren. Mitte August dieses Jahres gab es in Deutschland 135 Kirchenasyle mit rund 250 Personen.[5] Kirchenasyle beruhen auf der Gewissensentscheidung Einzelner. Die Kirche ermutigt nicht zu einer solchen Gewissenentscheidung, aber sie respektiert und schützt sie. Das Kirchenasyl ist ein Beistand für Flüchtlinge und Verfolgte, die sich durch eine bevorstehende Abschiebung in ihrem Heimatland bedroht sehen. Es geht darum, Zeit zu gewinnen, damit alle Rechtsmittel ausgeschöpft werden können. In den weitaus meisten Fällen von Kirchenasyl hatte die „Störung von Ruhe und Ordnung“ übrigens Erfolg, es wurde zumindest eine Duldung für die Flüchtlinge hier „aufgetan“.[6]
Für Christen sind die Erfahrungen von Menschen, die ihre Heimat verlassen und in die Fremde gehen, immer wieder ein wichtiges Thema. Denn die Bibel ist voll von Geschichten solcher Menschen. Abraham hört es als einen göttlichen Auftrag auszuwandern „in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (1. Mose 12,1ff.) Im Buch Ruth ist die Familiengeschichte von Wirtschaftsflüchtlingen erzählt, wegen einer Hungersnot verlassen sie ihre Heimat. Maria und Josef brechen mit Jesus nach Ägypten auf, um das nackte Leben vor Verfolgung zu retten. (Matthäus 2,13ff.) Auswandern, Hunger, Flucht vor Verfolgung, damals wie heute sind es dieselben Gründe.
Die Bibel unterscheidet nicht zwischen guten und schlechten Fremden, solchen, die aufgenommen werden oder nicht. Alle sollen gut behandelt werden, wie Einheimische. Die biblische Begründung dafür ist interessant. Denn: Die Fremden sollen nicht aufgenommen werden aus Mitleid, oder weil man reich genug ist um zu teilen, oder weil man vielleicht selber von den Fremden profitieren könnte. Das sind Gründe, die wir heutzutage anführen - „Mitleid“ oder „Wir sind doch ein reiches Land“ oder „Für unsere Wirtschaft kann ein gewisser Zuzug von Menschen nützlich sein“. Nein, das alles nicht. Wenn die Bibel einen Grund nennt, weshalb Fremde aufgenommen werden sollen, dann heißt es nur immer wieder: „… denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“ (3. Mose 19, 34 u. ö.) Ihr seid selbst Fremdlinge gewesen … Da ist die Exilgeschichte eines ganzen, des eigenen ganzen Volkes erinnert.
In unserem eigenen Land haben viele Ältere noch erlebt, wie ganz Europa ein Kontinent von Flüchtlingen und Vertriebenen war. Hat das Folgen? Hat das eine Verpflichtung, wenn Deutschland selbst eine ganz eigene Geschichte von Exil, von Flucht und Vertreibung hat? „Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen …“ Mit solch einer Erinnerung wird nicht von außen „an die Haustür geklopft“, sondern damit soll von innen heraus bei den Menschen etwas aufgetan werden. Und es kann einem das Jesus-Wort einfallen „Ich habe auch keinen Ort gehabt, wo ich mein Haupt hinlegen konnte.“ (vgl. Lukas 9,58) oder „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matthäus 25,35)
Nicht die Zahlen überzeugen, nicht Statistiken nehmen für Menschen ein. Es ist die Not, die wir den Augen eines Menschen entnehmen, es ist das Gesicht eines Menschen, der wir sein könnten, es sind die Geschichten von welchen, die unsere Geschichten sein könnten. Und vielleicht ist dies der Ort, wo dem viel gescholtenen Fernsehen, Journalisten und Bildreportern einmal Dank auszusprechen ist. Die Augen, die Gesichter, die Geschichten von Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen, erzählen sie, transportieren sie und bringen sie uns nahe. Die Boote vor der Küste Sizilien, die Bilder der Särge am Flughafen von Lampedusa, die kletternden Menschen an Stacheldrahtzäunen in Nordafrika. Die Augen, die Gesichter, die Geschichten von Menschen machen es, dass viele Menschen in unserem Land heute nachdenklicher, aufgeschlossener und hilfsbereiter auf Asylbewerber zugehen als noch vor 20 Jahren. Anfang der 90er Jahre gab es auch schon einmal heftig steigende Antragszahlen auf Asyl. Aufgeschlossen und hilfsbereit ist in Lüneburg die „Willkommensinitiative“ („Erste Schritte in Lüneburg“, Deutschunterricht). Für den Landkreis Lüneburg gibt es eine Flüchtlingssozialarbeiterin im Diakonischen Werk. In der Paulus-Gemeinde bereitet man sich auf die „Arbeit mit Flüchtlingen am Ochtmisser Kirchsteig vor“, wo demnächst 100 Flüchtlinge erwartet werden.
Es gibt eine zweite Einsicht, die ich der Erzählung vom nächtlich bittenden Freund entnehme. Die Hartnäckigkeit des bittenden Klopfens an der Tür des Nachbarn ist nach Jesu Worten nicht nur akzeptabel, wenn ein Mensch in Not ist, sondern diesem Stören und Klopfen ist sogar Erfolg versprochen. „Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, soviel er bedarf.“ Hartnäckig und nachhaltig muss gebeten werden. Auch von denen, die stellvertretend ihre Stimme den Flüchtlingen leihen. Der Hausherr fürchtet um das Wohlbefinden seiner Familie, aber – so erzählt Jesus – er hilft. Gegen seine erste Neigung. Aber er hilft. Der unverschämte Bitter bekommt sein Brot in der Nacht.
Unsere erste Neigung mag davon bestimmt sein, dass wir nicht die Probleme von Armuts- und Demokratieprobleme aller Länder hier bei uns lösen können. Das ist richtig. Mit einer zweiten Neigung werden wir dann aber von der Frage bestimmt sein, die Bundespräsident Joachim Gauck immer wieder stellt „Tun wir wirklich alles, was wir tun könnten?“ Blicken wir auf uns selbst, dann neigen wir nicht selten zur Selbstgerechtigkeit. Ja, wir tun eine Menge. Blicken wir aber auch darauf, dass meistens die ärmsten Länder für die Flüchtlinge aus ihrer Nachbarschaft aufkommen, dann müssen wir wohl demütiger werden. Die größten Aufnahmeländer für Flüchtlinge sind Pakistan, Äthiopien und Kenia.[7]
Tun wir wirklich allen, was wir tun könnten? Politische Ohren werden das hören für alle guten Überlegungen dazu, wie Zugangswege in unser Land neben dem Asyl geregelt werden können, wie Asylverfahren schneller geprüft werden können und lange Ungewissheit von Menschen genommen werden kann, wie Arbeitsverbote für Flüchtlinge gelockert werden können.
„Tun wir wirklich alles, was wir tun könnten?“ Wir werden das aber auch hören mit dem großen Zutrauen, das Jesus in die Hilfsbereitschaft des nächtlich gestörten Nachbarn hatte.
Da steckt so viel Kraft in dir, anderen Menschen gut zu sein.
Ihr habt so viel Dach über dem Kopf, dass ihr Türen öffnen könnt.
Ihr habt so viel Brot im Haus, dass ihr euch Nachbarn gegenüber nicht taub stellen müsst.
Euer Herz ist so groß, dass es keine Scheu haben muss vor allem, was fremd ist.
Eure Seele kann so eng verbunden sein einer Not und Beschwernis, die ein anderer trägt.
In dieser Weise muss Jesus gedacht, in dieser Weise muss er vertraut haben. Mit diesem Denken und Vertrauen möge er uns erreichen. Amen.
[1] Nach Stiftung Pro Asyl
[2] Nach Stiftung Pro Asyl unter Verweis auf den UNHCR-Bericht „GlobalTrends“
[3] Nach Bundespräsident Joachim Gauck in einer Rede beim 14. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz, 30.6.-1.7.2014
[4] Bundespräsident Joachim Gauck, ebd.
[5] Nach „Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“
[6] Nach Stiftung Pro Asyl war im Jahr 2013 in 45 beendeten Kirchenasylen ein positiver Ausgang (d.h. mindestens mit einer Duldung) in 43 Fällen zu verzeichnen.
[7] Nach einer Statistik der UNO-Flüchtlingshilfe, die die Zahl der Flüchtlinge in das Verhältnis zur Wirtschaftskraft eines Landes setzt.