25 Jahre Grenzöffnung

Grußwort zur Gedenkfeier des Landkreises Lüneburg am 9. November 2014 in Konau (Amt Neuhaus)

Sehr geehrter Herr Landrat Nahrstedt, herzlichen Dank für Ihre Einladung, mit einem Grußwort der Evangelischen Kirche hier heute teilzuhaben am Erinnern der Grenzöffnung vor 25 Jahren und damit auch an den Erfolg der friedlichen Revolution von 1989.

Der 9. November 1989 ist mit dankbarem Erinnern verbunden an alles, was damals geglückt ist. Dieses Datum verpflichtet aber auch zu einem wachen Aufmerken auf das, was uns als Aufgabe aus jenem Jahr noch immer bleibt. Beides möge gelingen.

Für die Evangelische Kirche hatte die Einheit in Freiheit vielfältige Auswirkungen. Christinnen und Christen arbeiteten engagiert an den Runden Tischen mit und bekleideten Ämter in den politischen Parteien, die in der ersten frei gewählten Volkskammer das politische Geschehen bestimmten. Die Einheit brachte den Zusammenschluss der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) mit sich. Hier im Amt Neuhaus wurden mit dem Jahr 1992 die Kirchengemeinden Neuhaus, Stapel und Tripkau wieder der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zugehörig und damit dem Kirchenkreis Bleckede.

Wesentlicher als die Folgen der Einheit war für die Evangelische Kirche ihr Anteil an den Entwicklungen, die zur friedlichen Revolution hingeführt haben. „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete“, so sagte es Horst Sindermann, der damalige Präsident der Volkskammer. Kerzen und Gebete…Politisch gesehen ist die DDR ganz sicher aus vielen verschiedenen Gründen in sich zusammengefallen - nicht zuletzt aus wirtschaftlichen. Am Ende aber ist sie gescheitert an den Kerzen der Demonstranten und den Gebeten in Leipzig und in anderen Orten. Kerzen und Gebete …

Ich gestehe, dass ich vorsichtig bin, wenn es darum geht, das Wirken Gottes in unserer Welt an dem „Erfolg“ von Gebeten oder an bestimmten Geschichtsereignissen festzumachen. Gerade der 9. November rät da zur Zurückhaltung. Die Pogromnacht vor 76 Jahren haben keine Gebete aufgehalten. Wir haben nie das eine ohne das andere. Und eine größere Spannung lässt sich nicht denken als die zwischen dem 9. November 1989 und dem 9. November 1938, dem Tag der Gewalt gegen jüdische Gotteshäuser, gegen jüdisches Eigentum, gegen jüdische Menschen. Nur mit Demut und Beschämung können wir heute daran erinnern.

Auf welche Weise Kerzen und Gebete das Wirken Gottes beeinflussen, das entzieht sich objektiver Feststellung, es ist nur in ganz persönlichen Bekenntnissen zu fassen. Aber wie ein Gebet, wie das Anzünden einer Kerze Menschen zu verändern vermag, das lässt sich ahnen und auch erfahren.Hätten die Demonstranten in Leipzig ihren Mut bewahren können? Wären die – durchaus unterschiedlichen – oppositionellen Kräfte zusammen zu halten gewesen? Hätte man den vollkommenen Gewaltverzicht durchgehalten ohne die Kerzen und ohne die Gebete, ohne die für alle offenen Friedensgebete in der Nicolai-Kirche? Seit September 1982 fanden sie statt und prägten mehr und mehr den Geist der friedlichen Revolution und das heißt eben auch den Geist und das Verhalten der Menschen. Zunächst waren es nur eine Handvoll - ohne dass einer ahnte, was daraus einmal werden würde. Am Ende waren es Tausende.Aus diesen Anfängen von Kerzen und Gebeten, lange vor dem Fall der Mauer, erwuchs das, was viele Akteure und noch mehr staunend Zuschauende das „Wunder“ der gewaltfreien Wiedervereinigung genannt haben. Was mit mutigen kleinen Alltagsprotesten von Bürgerinnen und Bürgern begann, sich über Umwelt- und Friedensgruppen fortsetzte, mit den Montagsgebeten und Montagsdemonstrationen eine öffentliche Form fand, führte schließlich zur Öffnung der Mauer. Mut, Zivilcourage, menschliche Größe von Einzelnen und, ja, auch durch Kerzen und Gebete gestärktes Gottvertrauen haben dazu beigetragen.

Die Einheit Deutschlands ist mittlerweile selbstverständlich geworden, zu selbstverständlich, will mir manchmal scheinen. Im Zusammenhang des Gedenkens an die deutsche Schuld gegenüber jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern während der nationalsozialistischen Diktatur wird oft das Wort eines jüdischen Geistlichen aus dem 17. Jahrhundert zitiert: „Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung.“ Dieser Satz gilt auch – unter gänzlich anderen Voraussetzungen – für die Erinnerung, die sich mit der Geschichte im geteilten Deutschland bis 1989 verbindet.Das Erinnern an einen Staat, in dem es zwar ein formales Recht gab, in dem aber in Wirklichkeit das Unrecht herrschte. Das Erinnern, dass es einen Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze gab, dass ein Bespitzelungssystem allergrößten Ausmaßes aufgebaut war, dass mit allen Kräften das kirchliche Leben aus der Öffentlichkeit verdrängt werden sollte und dass eine freie Meinungsäußerung oftmals bittere Folgen hatte. Und das Erinnern muss auch diejenigen einschließen, denen nach dem Mauerfall Unrecht geschah und die unter falschen Verdächtigungen zu leiden hatten.Nur durch Erinnerung erschließt sich die Bedeutung der Ereignisse. Ohne - auch solche -Erinnerung gerät das Gedenken zur schwachen Pose. Deshalb bleibt der 9. November für unsere Demokratie eine Verpflichtung. Einmalig in Deutschland gelang eine Revolution – ohne Blutvergießen. Gewaltlos gelang es, Deutschland zu einen. Die Mauer ist vom Osten her friedlich durchbrochen worden.

Der Leipziger Pfarrer Christian Führer – im Juni dieses Jahres verstorben – sagte rückblickend: „Dass Gott seine schützende Hand über uns alle – Christen wie Nichtchristen, Basisgruppenleute und Polizisten, Regimekritiker und Genossen, Ausreisewillige und Stasileute, die in den Panzern und die auf der Straße – gehalten hat und uns diese friedliche Revolution gelingen ließ nach so viel brutaler Gewalt, die in diesem 20. Jahrhundert von Deutschland ausging, besonders an dem Volk, aus dem Jesus geboren wurde, das kann ich nur mit dem Wort Gnade bezeichnen: Gnade an den Kirchen, an den Städten und Dörfern, an diesem ganzen Deutschland. Dieser beispiellose Vorgang in unserer Geschichte verdient es, erinnert und lebendig erhalten zu werden.“[1]

Ich füge hinzu: Die Erinnerung daran möge eine starke Kraftquelle für unser Land bleiben, und sie möge mit Hoffnung verbunden sein bei den Menschen, die dieser Tage in ihrem Land nach Frieden und Freiheit streben.

Vielen Dank für Ihr Zuhören!


[1] 20 Jahre friedliche Revolution, Materialien für Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen. Herausgegeben vom Kirchenamt der EKD, 2010, S. 12