Predigt von Dieter Rathing am 1. Januar 2015 in Unterlüß aus Anlass der Fusion der Gemeinden Unterlüß und Hermannsburg
Liebe Gemeinde am Neujahrstag, wie sind Sie denn nun hineingekommen ins neue Jahr? Mit Sekt oder Selters? Vorm Fernseher oder im Freundeskreis? Sind Sie „Typ Laut“ oder „Leise“, „Typ Euphorisch“ oder „Pessimistisch“? Die Neujahrsnacht und der erste Tag im Jahr offenbaren ja schon einige Unterschiede, die uns untereinander ausmachen. Und wir wissen, dass die Unterschiede unter uns noch weit größer sind als die Art und Weise, wie wir den Jahreswechsel begehen. Diskussionen über den „richtigen“ Lebensstil zeigen uns als Verschiedene: Vegetarier? Veganer? Oder Hobbygriller? Überzeugte Fahrradfahrer und passionierte Motorsportfans. Befürworter der Flüchtlingspolitik in unserem Land und Kritiker dagegen. Unterschiede auch in der Kirche: Diejenigen, die die Kirchentüren offener machen wollen und die anderen, die mehr die kleine Gruppe suchen. Die einen kritisieren „Kirche ist nur noch ein Sozialverein“, die anderen sagen „Denen fällt nicht mehr ein als zu beten.“ Es gibt solche, die das politische Wort erwarten, und jene, die sagen „Kirche mischt sich zu viel ein.“
Wo man auch hinsieht ein Nebeneinander, manchmal Gegeneinander von Meinungen, Lebensstilen und Grundsätzen. Und über alledem steht nun für das neue Jahr ein Satz in unseren Kirchen als Jahreslosung, als Motto, als Orientierungshilfe: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ Wenn Sie, liebe Gemeinde, diesen Satz hören, dann ahnen Sie wahrscheinlich nicht, auf welche schlichten Probleme sich diese Ermahnung ursprünglich bezieht. Unter den Christen der Gemeinde in Rom gab es Streit zwischen Vegetariern und Fleischessern. Dahinter ging es dann aber doch um Weiteres, es ging um Rituale und Zeremonien, letztlich um die ganze Glaubensphilosophie. Hauptfrage: Wie muss die Kirche beschaffen sein, damit ich mit meinem Glauben darin aufgehoben sein kann, meine Heimat finde?
Die einen sagten: Es muss bestimmte Reinheitsgesetze geben, kein Fleisch, kein Alkohol, bestimmte „heilige Zeiten“ müssen eingehalten werden, sonst finde ich mich in der Christengemeinde nicht wieder. Die anderen: Als Christen sind wir frei von solchen Gesetzen. Nicht mit der Beachtung von Zeremonien und „heiligen Zeiten“, sondern allein mit unserem Gewissen stehen wir vor Gott. Heute können wir diesen alten Streit im Grunde als entschieden ansehen. Wir halten uns zugute, dass mit den Worten des II. Friedrichs von Preußen jeder nach seiner Fasson selig werden kann. Wir lassen uns mit solchen Fragen weitgehend in Ruhe. Aber soll das nun die Jahreslosung sein? „Lasst einander in Ruhe, wie Christus euch in Ruhe gelassen hat zu Gottes Lob“?
Nein, liebe Gemeinde, einander in Ruhe lassen, das kann nicht die Losung für uns Menschen sein. Das können wir voneinander nicht wollen, und das will wohl auch Christus nicht, dass wir einander in Ruhe lassen. Ein furchtbarer Gedanke ist das - wir lassen einander in Ruhe. Als Gesunde die Kranken einfach in Ruhe lassen? Als Reiche die Armen? Als Lehrer die Schüler? Das kann es doch nicht sein. Sollen Demokraten die mit den Nazi-Gedanken in Ruhe lassen? Dass Menschen unterdrückt und verfolgt, als Flüchtlinge durch die Welt gejagt werden, soll das einfach so auf sich beruhen? Die Jungen, die gebraucht werden wollen, und die Alten, die ein würdiges Auskommen suchen, die Frau mit der verletzten Seele, der Mann, der in seiner Arbeit verbrennt, und wir alle, die wir beachtet, angesehen, gewürdigt und anerkannt werden wollen, wir können uns doch nicht in Ruhe lassen.
Als Menschen sind wir doch aus einem Holz geschnitzt. Wir sind verwandt von Herkunft und Bestimmung. Wir können einander sogar Blut spenden. „Nehmt einander an“, das ist nichts Fremdes, das ruft auch nicht bloß zur Höflichkeit auf, sondern das ist der Schlüssel zu unseren Seelen. Das Bild aus Kindertagen ist noch frisch: Die anderen feiern Geburtstag, und ich bin nicht eingeladen. Die anderen spielen, und du darfst nicht mitmachen. Die anderen haben ein Geheimnis, und du bleibst ausgeschlossen. Oder die Eltern hielten zusammen, und du warst allein. Und immer war da laut oder leise auf den Lippen „Nehmt mich doch an.“ Bis irgendwann irgendwer uns erhörte.
Jeder weiß doch, wie böse Alleinlassen ist, wie es krank machen, ja wie es auch richtiggehend böse machen kann. Alleingelassen, in Ruhe gelassen, nicht angenommen zu sein, ganz verbittert und böse kann das Menschen machen. Erwachsen geworden kann ich den Spieß umdrehen, selbst auf andere zugehen, sie suchen und annehmen. Mit jedem kannst du dich ergänzen, hast etwas zu tauschen. Du hast, was er nicht hat und weiß, und umgekehrt. Wir sehen zu zweit, zu vielen, mehr, hören mehr, wissen mehr, können mehr. Ein Mensch allein kann doch sein Lebenshaus nicht bauen. Einer allein kann nicht seinen Glauben nur für sich haben. Die Anderen gehören doch dazu.
Wir haben hier heute einige unter uns, die etwas davon erzählen können, wie das mit dem Bauen einer Gemeinde ist, mit dem Bauen der Gemeinde Südheide, die aus den Kommunen Hermannsburg und Unterlüß mit dem heutigen Datum entsteht. Ich weiß nicht, wie schwer oder wie leicht es gewesen ist, bis die Gremien, die Gemeinderäte sich gegenseitig annehmen konnten. Sich annehmen konnten der Probleme der anderen, sich annehmen der Sorgen, der Befindlichkeiten der anderen. Sich annehmen auch der Erfolge und der Guttaten der anderen. Das ist ja manchmal genauso schwer, sich dessen anzunehmen, was andere besser und gelingender können als wir selbst.
Ich ahne aber, dass ein politisches Einander-in-Ruhe-lassen die schlechtere Variante gewesen wäre. Jeder ist sich selbst der Nächste, rette sich wer kann, Hauptsache ich, Hauptsache wir kommen klar, das ist ein schlechtes In-Ruhe-lassen der anderen. Gute Politik lässt nicht in Ruhe. Und gute Politiker sind solche, die etwas nicht in Ruhe lässt, die umgetrieben und angetrieben sind davon, sich der Welt, in der wir leben, anzunehmen. Mit ihren immer neuen Herausforderungen. Und auch, wenn das zunächst immer erst mit Sitzungen und Satzungen, mit Verwaltung und Verträgen zu tun haben scheint, ganz am Ende, ganz zu Ende gedacht heißt politisches Handeln immer: Sich der Menschen annehmen.
Sich der Menschen annehmen, liebe Gemeinde, das können wir auch hören als gute Zusammenfassung für das Handeln Jesu Christi in dieser Welt. Sich der Menschen annehmen in einer Tiefe, mit einem großen Verstehen und aus der festen Überzeugung heraus: Dieses Leben ist immer zu groß, als dass einer es mit sich selbst abmachen könnte. Im Guten wie im Bösen. Das Leben ist immer zu groß für einen allein.
Wenn du Glück und Freude im Herzen trägst, dann kannst du das doch nicht einschließen bei dir und geizig damit sein, dann musst du doch anderen davon erzählen. Wenn Tränen fließen, dann ist das doch so schwer für einen allein, diese Tränen zu trocknen. Und wenn dir der kurze Weg zum Nächsten so unendlich weit vorkommt, dann ist es gut, wenn dich einer auf Trab bringt. Und andersherum: Die, die immer auf Trab und im Trott sind, die brauchen einen, der sich mal ruhig an den Tisch setzt mit ihnen. Für einen allein ist dieses Leben immer zu schwer. Jesus hatte viel Verstehen und Verständnis dafür.
Das ganze Wunder, die ganze „Magie“ seiner Person hat wohl darin gelegen, dass er alles auf dieses Verstehen und auf ein verständnisvolles Annehmen der Menschen setzte. Und dieses Verstehen und solches Annehmen haben auf die Leute gewirkt. In seine Nähe trauten sich selbst die, die sonst um alles, was Kirche - oder damals noch Tempel - hieß, einen Riesenbogen machten. Aber sie fühlten: Mit dem Mann darf ich und kann ich sprechen, ja, mit dem muss ich sprechen, mit wem denn sonst? Nur er wird all das nicht sagen, was ich sonst zu hören bekomme: Du sollst! Du musst! Und du musst und du sollst! Er weiß, dass sich das Leben nur dann neu ordnen kann, wenn einer ihm Verstehen und Verständnis entgegenbringt. Er weiß, dass wir als Menschen erst dann aufleben, wenn wir Angehörte, Angesehene und Angenommene sind.
Es ist doch immer wieder dasselbe. Stellen Sie sich einen ausgewachsenen Rabauken vor, dumm und faul und frech, vielleicht gewalttätig, schlicht schlimm. Irgendwann sind Sie mit ihm fertig. Irgendwann sind alle mit ihm fertig. In der Familie, in der Schule, alle. Aber jeder von uns weiß: Es wäre „nur“ eine Frage der Geduld, es wäre „nur“ eine Frage des Raums, der Kraft und der Zeit, es wäre nur eine Frage des Verstehens und des Annehmens, bis sich unter dem ganzen Schalenkleid von Schmutz und Abstoßendem das ganz andere Bild eines Menschen herausschälen würde, ein ganz anderer Mensch hervorträte, oder derselbe in einem anderen Gewand. Und manchmal gelingt das ja auch. In guten Bedingungen einer Familie, einer Schule, im guten Zusammenwirken eines Vereins, einer Gemeinde.
Auch wenn wir nun keine solchen Rabauken sind - etwas von solcher Geduld miteinander, etwas von solchem Raum füreinander, eine gute Portion von solcher Kraft, solcher Zeit und solchem Verstehen hat jeder von uns nötig. Erst durch solches Annehmen kommen wir zum Leben, erst dann leben wir auf. Deshalb ist es gut, angenommen zu sein. Deshalb ist es gut, andere anzunehmen. Zu Gottes Lob. Amen.