"Es ist vollbracht"

Predigt von Landessuperintendent Dieter Rathing über Johannes 19,16-30 am Karfreitag, 3. April 2015, in der Lüneburger St. Johanniskirche.

Liebe Gemeinde, was ist am Karfreitag geschehen? Kann man, was dort geschehen ist, begreifen? Ich möchte heute Morgen den drei Worten hinterherdenken, die am Ende des Sterbeberichts Jesu stehen, den wir vorhin aus dem Evangelium gehört haben. Ob sich darin etwas findet, dass uns mehr verstehen lässt?

„Es ist vollbracht!“ In diesen drei Worten kommt die Passion, ja, kommt das ganze Leben Jesu zum Ende und zum Ziel. „Es ist vollbracht!“ Und das heißt wohl zuerst wirklich: Es kommt zum Ende, und es ist zu Ende. Und – so wird man sagen dürfen – es ist gut, dass es zu Ende ist. Zu Ende: Das Spiel und der Spott der Soldaten. Zu Ende: Die Schläge der Peitsche. Heute noch kann man auf dem Pflaster stehen, auf dem dies geschehen ist. Der Weg der Schmerzen - via dolorosa - heute ist er in Jerusalem erfüllt vom bunten Geschäft der Basare. Und draußen auf Golgatha der Kampf mit dem Tod, das Ringen um Atem, der Durst. Es ist gut, dass dies alles zu Ende ist. Und ganz leise mag ein jeder von uns diesen Ton auch für sich mitnehmen: Es ist gut, dass dies alles in dieser Welt - auch in einer schweren Stunde - bei uns einmal ein Ende nehmen wird.

Es ist zu Ende. Auf Golgatha ist damit übrigens eine auffallend kleine Geschichte zu Ende gegangen. Kein großes Drama. Ein paar Menschen noch dort, die Mutter, der Jünger. Eine kurze Zeit des Leidens auch, Donnerstagnacht bis Freitagnachmittag, keine 24 Stunden. Eine kurze Zeit des Wirkens, ein paar Monate, vielleicht ein Jahr. Ein kleiner Kreis des Wirkens: Heute fährt man mit dem Auto an zwei Tagen fast alle wichtigen Straßen vom Norden bis zum Süden. Der See Genezareth ist so weit weg nicht von Jerusalem, und ein paar Kilometer sind’s nur bis Jericho, Nazareth, Bethlehem. Und ein paar Schritte nur hinunter und hinüber zu den Ölbäumen des Gartens Gethsemane.

Eine kleine Geschichte geht zu Ende. 30 Jahre alt ist der Mann, viele starben vor ihm und nach ihm, auch unter Unrecht. Und wer heute im Volk Israel wohnt, geht, wenn er der Helden gedenkt, nicht nach Golgatha, sondern nach Massada, der Wüstenfestung des Herodes, wo sie drei Jahre lang den Römern standgehalten haben. Und dann am letzten Morgen, vor dem letzten Sturm, einer dem anderen den Tod gegeben hat, 1000 Männer und Frauen und Kinder, das ist die Geschichte. Auf Golgatha ist es ein kleines Geschichtlein nur. Und wiederum mag leise jeder für sich behalten, dass seine kleine Geschichte auch zu Ende gehen wird, wie die große.

„Es ist vollbracht!“ Damit geht nun aber nicht nur ein Leben zu Ende, sondern damit kommt auch ein Leben zum Ziel, sein Leben tut es und unser Leben auch. Denn mit einem „Es ist vollbracht!“ verbinden wir ja auch ein „Fertigwerden“, ein „Ans-Ziel-kommen“ und „Vollenden“. Was ist das, womit Jesus am Kreuz „fertig“ wird? Was kommt mit ihm „ans Ziel“? Und was „vollendet“ sich?

Sein Kreuz richtet Menschen auf

Drei Hinweise finde ich.

Zuerst – so widersinnig es zunächst klingt – das Kreuz, sein Kreuz richtet Menschen auf. Pilatus überantwortete Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn…

Der Weg zum Kreuz ist ein Weg des Leides. Jesus geht diesen Weg. Allein. Er trägt sein Kreuz. Allein. Hilfe gibt es nicht. Aber er hat die Kraft, das Kreuz auf sich zu nehmen. Auf den schwersten Wegen des Lebens, dort, wo kein Hoffnungsschimmer mehr zu sehen ist, wo das Ende greifbar nahe ist, dort – gerade dort! – sind Menschen in der Lage, die Last des Kreuzes zu tragen. Sicher haben viele von uns schon einmal diese Erfahrung gemacht. In Zeiten der Krise oder Katastrophe sind die am schlimmsten Betroffenen oft gerade die Stärksten. Kinder wischen ihren Eltern die Tränen ab. Der Kranke tröstet die Gesunden. Sterbende sprechen ihrer Familie Hoffnung zu. Im Leiden sind die Betroffenen stark. Gebe Gott, dass dieses wahr ist und wahr wird dieser Tage in den französischen Alpen unter den Familien und Freunden der Absturzopfer vom 24. März. Dass auch dort das Kreuz Menschen aufrichte, und dass auch dort Menschen sich am Kreuz aufrichten mögen.

Vom Kreuz geht die Botschaft zur Fürsorge aus

Und dann das Zweite: Vom Kreuz geht die Botschaft zur Fürsorge aus. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn. Und danach spricht er zu dem Jünger. Siehe, das ist deine Mutter. Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Was für eine Botschaft des Kreuzes! Fast beiläufig. Dort, wo weithin sichtbar das Leben gewaltsam zu Ende gebracht werden soll, an dem Ort, da die Grausamkeit des Menschen kaum noch zu überbieten ist, dort – gerade dort! – bilden sich neue Beziehungen. Menschen werden aneinander gewiesen, finden zueinander, werden verantwortlich füreinander.

Die Kirche sieht darin das Geheimnis der Geschichte der Gemeinde vorgebildet. Im Tod liegt der Keim der Auferstehung: Die erste Gemeinde. Indem der Freund Jesu und Maria sich gegenseitig annehmen, sind „zwei versammelt“ – und Jesus, der Gekreuzigte, ist mitten unter ihnen. Sie können nun – sich gegenseitig stützend – den Weg aus der Trauer heraus antreten. Mit neuen Aufgaben versehen kehren sie zurück ins Leben. Die anderen Jünger – vor dem Kreuz geflohen – sind derweil noch voll Todesangst gefesselt in ihren Verstecken. So beginnt Auferstehung am Karfreitag, Ostern schon an der Schädelstätte – mit der Sorge füreinander.

Über Generationen und Geschlechter hinweg. Männer wie Frauen tragen Verantwortung füreinander. Kinder sind in die Verantwortung gegenüber ihren Eltern gerufen, Junge in die Fürsorge gegenüber den Alten gestellt. Und es ist ja oft so, dass gerade dort, wo Menschen am schlimmsten leiden, dort, wo die Not am Größten ist, dass dort am tiefsten geglaubt wird und die innigste Gemeinschaft ist. Menschen stehen füreinander ein wie eine Mutter für ihr Kind, wie ein Sohn für seine Mutter. Vom Kreuz geht der Ruf zu gegenseitiger Annahme aus.

Vom Kreuz geht die Botschaft zum Beistand aus

Einen dritten Wegweiser richtet das Evangelium auf. Auch er ist der Begegnung Jesu mit der Familie und den Freunden unter dem Kreuz zu entnehmen. Er heißt: Vom Kreuz geht die Botschaft zum Beistand aus. Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Im Leiden und Sterben sieht Jesus, wer bei ihm ist, wer zu ihm gekommen ist. Es sind die Frauen und der Jünger. Sie geben Jesus, was vielen Sterbenden oft verwehrt bleibt – Beistand. Jedes Sterben braucht diesen Beistand. Sterbende nehmen wahr, wer bei ihnen ist. Gerade wenn es ein Sterben im Leiden ist.

Ich bin dankbar, dass unter uns die Empfindsamkeit dafür wieder steigt. In Krankenhäusern und in Pflegeheimen, in den Hospizgruppen und in den Diakoniestationen, privat und öffentlich: Das Sterben braucht den Beistand – es darf nicht aus dem Leben ausgegrenzt werden, und es darf nicht in die Hände derer gegeben werden, die es aktiv – mit Sterbehilfe – beenden wollen. Aus Leidtragenden werden unter dem Kreuz Zusammengeführte, aneinander Gewiesene.

100.000 Frauen und Männer arbeiten in Deutschland in Hospizen für Sterbenskranke und mit Sterbenskranken. Freunde und Angehörige machen es vor, wie auch in schwierigsten Fällen Pflege- und Sterbebegleitung in den eigenen vier Wänden möglich werden kann. Für nahezu alle ernsthaften Erkrankungen gibt es Selbsthilfegruppen: Zusammengeführte Menschen, die sich beistehen, als Betroffene, als Angehörige. Es entstehen generationsübergreifende Siedlungen mit Menschen, die sich das gegenseitige Versprechen geben in Krankheit, Behinderung oder anderen Nöten einander zu helfen. Menschen mit einem Kreuz und Menschen unter dem Kreuz finden sich, werden zusammengeführt. Das Kreuz verbindet.

"Es ist vollbracht."

„Es ist vollbracht.“ So ist damit mehr gesagt als „Es ist zu Ende“. Ja, Jesus verliert sein Leben. Aber: Er verliert es, damit Menschen ihr Leben, damit wir unser Leben finden. Damit wir uns finden. Damit wir uns als Menschen wiederfinden. Als welche, die sich nicht abwenden, wo andere ihr Kreuz tragen. Als welche, die sich zusammen führen, sich zueinander weisen lassen. Als welche, die sich in der Gemeinschaft von Lebenden und Sterbenden den Beistand geben, den wir nötig haben.

 

Ganz so weit sind wir noch nicht. Wir haben uns noch nicht gefunden. Wir haben das Leben, das vom Kreuz ausgeht, noch nicht gefunden. Er hat es vollbracht, wir noch nicht. Deshalb gibt es für Jesus auch kein „Ruhe in Frieden“. Er wird noch gebraucht. Wir brauchen ihn noch. Brauchen ihn als den Lebendigen, damit wir unser Leben finden. Und so bitten wir um das Wunder, dass sein Tod nicht der Tod sei, sondern der Weg zum Leben. Amen.