Predigt im ökumenischen Gottesdienst am 10. Juli 2015 in der St. Christophoruskirche Wolfsburg aus Anlass der Gründung des Netzwerks "Christen bei Volkswagen"
Predigttext: Markus 2,1-1
Die Heilung eines Gelähmten und der Glaube seiner Freunde
Und nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.
Liebe ökumenische Schwestern und Brüder, gleich zu Beginn will ich sagen, was mir an dem Evangelium, das wir eben als Lesung gehört haben, auf der Seite der Menschen besonders gefällt (Ich erlaube mir heute Abend, meine Gedanken auf das zu beschränken, was in Markus 2,1-12 auf Seiten der Menschen getan wird). Mir gefällt dieser tatkräftige und zupackende Geist derer, die da für einen, der nicht laufen kann, sorgen. Schleppen ihn zu Jesus hin, decken das Dach auf, machen ein Loch in die Decke, lassen die Trage hinunter. Kein Zweifel, da verstehen welche ihr Handwerk. Sie packen an und packen zu. Und in diesem Zupacken sorgen sie mit dafür, dass am Ende wieder einer selbst mobil sein kann. „Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen.“ Selbst mobil. Die Übersetzung dafür: Auto mobil.
Wenn man also - zugegeben etwas übermütig - die Verbindung herstellen will, dann kann man sagen: Die Leute, die in der biblischen Erzählung für Mobilität sorgen, und Sie als „Christen bei Volkswagen“ sind Geschwister im Geiste. Menschen, die ihr Handwerk für Mobilität verstehen, anpacken und zupacken und mit dafür sorgen, dass andere mobil sein können. Das gefällt mir.Jetzt bringt Sie als „Christen bei Volkswagen“ in Wolfsburg und Hannover aber ja nicht nur das Autobauen zusammen. Sie treffen sich nicht nur in den Büros oder am Band, sondern sie kommen auch zum Gebet zusammen. Einmal in der Woche, in der Mittagspause, an verschiedenen Orten. Sie beten füreinander, für Herausforderungen bei der Arbeit, für Kolleginnen und Kollegen. Und das ist bemerkenswert. Denn wer an die Arbeit in der Automobilindustrie denkt, der denkt wahrscheinlich überhaupt nicht ans Beten.
Wie war das noch mal bei Ihren Geschwistern im Geiste, die für ihren gelähmten Freund sich mühen? Auch da bemerkenswert, vom Beten ist auch da gar nicht die Rede. Es ist nichts davon erwähnt, dass die Helfer des Gelähmten ihre Hände gefaltet hätten. Die haben sie für etwas anderes gebraucht. Nicht ein Gebet, sondern das Anpacken bringt den Kranken außen nach oben auf das Dach und dann im Innern wieder nach unten.
Dass bei Volkswagen kein Auto durch ein Gebet auf das Band kommt und am Ende von dort wieder herunter, muss ich Ihnen nicht sagen. Dafür werden – trotz Maschinen und Automatisierung – viele Hände gebraucht. Und für ein Beten wird bei VW niemand bezahlt. Dennoch möchte ich behaupten: Bei der Arbeit wird gebetet. Genauso übrigens wie bei der Arbeit geflucht wird, aber das ist heute nicht Thema.„Gott, ist der schwer ...“ – „Dass der bloß heil auf dem Dach ankommt …!“ – „Himmel, wie soll das mit der Trage gehen …?“ So vielleicht das Beten damals in Kapernaum. Und wie heute? Wer kann das schon wissen. Ich vermute aber: Das Beten ist lebendiger als die Kirchen, die es lehren. Es ist deswegen lebendiger, weil man kirchliche Lehren dazu nicht braucht. Es gibt keinen Ort, zu dem hin man das Gebet wegsperren könnte. Es gibt keine Zeit, für die das Beten reserviert sein könnte. Kein Thema, kein Anliegen gibt es, das für ein Gebet nicht taugte. Beim Beten gibt es nichts, was man nicht sagen dürfte. „Mensch“, „Gott“, „Himmel“, „Warum?“, „Wie lange?“, „Wie lange noch?“ Wie oft besteht ein Gebet nur aus solchen ein, zwei, drei Wörtern? Aus den ein, zwei, drei Wörtern und aus den Splittern von Gedanken, die dir einfach nicht aus dem Kopf gehen und die da unbedingt raus müssen. Wann auch immer, wo auch immer. Man legt sich keine Zensuren auf im Gebet.
Frage: Hat solches Beten noch etwas mit Glauben zu tun? Antwort: Das ist nicht wichtig. Man kann auch ungläubig beten. Und es wird auch ungläubig gebetet werden bei Volkswagen. Keiner kann ja das, was zu Hause war, und keiner kann das, was in der Welt ist, oder was einem morgen bevorsteht, einfach wie Hemd und Hose in den Spind hängen. Du trägst ja dein Glück und dein Unglück immer bei dir, hast deine Wünsche und deine Grenzen in den Knochen, hast deine Lieben im Herzen.
Wie oft scheint es bei einer Sache keinen Ausweg mehr zu geben, und manchmal gibt es wirklich keinen mehr. Wie oft scheint ein Mensch verloren, und manchmal ist er es wirklich. Was können Krankheit und Katastrophen auf dieser Welt nicht alles anrichten? Liebe und Lust genauso. Was richten wir nicht alles an unter uns? Und dann schlägt dir von solchen Gedanken einer ein wie ein Blitz, oder schleicht sich an wie ein Dieb. Und wie von selbst bewegen sich stumm die Lippen. Mehr als du glaubst.Liebe Schwestern und Brüder, jetzt habe ich erst einmal vor einem ganz weiten Horizont geredet: Von Leuten, die ihr Handwerk verstehen, von Gedanken, die einen bis in die Arbeit hinein nachgehen und beschäftigen, von stummen Gebeten. Nun ist noch einmal genauer hinzuschauen auf das Beten und auch auf Sie als Christen bei Volkswagen. Denn Ihr Zusammenkommen und Ihre Gebete sind ja nicht irgendwann, nicht irgendwo und nicht irgendwie. Sie haben ja eine Form und eine Gestalt und ein Ziel.So wie in der biblischen Erzählung von Kapernaum die Freunde auch nicht irgendwann mal etwas mit ihrem Freund auf der Trage irgendwie auf irgendeinem Dach machen wollen. Sondern sie haben ein ganz festes Ziel. Jesus Christus. Die Begegnung des Gelähmten mit ihm, das ist ihr Ziel. Er soll zu IHM hin. Die Freunde machen sein Anliegen zu ihrem Anliegen. Sie bringen ihn vor Jesus, sie tragen ihn Jesus vor.
Was anderes machen wir, wenn wir beten? Wir tragen Menschen Jesus vor. Wir bringen ein eigenes Anliegen vor ihn. Oder wir machen ein fremdes Anlegen zu unserem eigenen. Wir tun das nicht mit den Händen, sondern mit unseren Mündern, nicht als Handwerk, sondern als Mundwerk. Auch wenn wir dieses Mundwerk ähnlich wie ein Handwerk verstehen können: Als Menschen können wir es lernen, so wie wir die Handgriffe beim Zusammenbauen von Autos lernen können. Und noch etwas ist ähnlich: Es gehören Regelmäßigkeit und Ausdauer dazu. Manchmal mag das Beten wie das Arbeiten auch mühselig sein, zu Zeiten vielleicht sogar langweilig, und man ist froh, wenn es vorbei ist.Was man wohl immer braucht sind Aufmerksamkeit und eine Grundleidenschaft. Wenn ich bete, muss ich etwas wirklich wollen. So wirklich wollen, wie die Freunde ihren gelähmten Freund wirklich zu Jesus bringen wollen, auch mit Anstrengung, auch über’s Dach. Man kann beten, wenn man weiß, wofür man beten soll. Für Menschen natürlich. Aber für welche? Wer hat es gerade nötig? Was hat er gerade nötig? Wo fehlt ihm etwas? Wo fehlt uns etwas? An Respekt, an Wertschätzung, Aufrichtigkeit? Was soll mich, was soll uns leiten? Woran will ich mich, woran wollen wir uns im Unternehmen – vielleicht noch mehr – orientieren? Als „Christen bei Volkswagen“?
Und wer, wie Pastor Schladebusch es einmal gesagt hat, seinen Glauben nicht am Werkstor abgibt, der ahnt wieviel an Verantwortung gegenüber Gott und wieviel Verantwortung gegenüber den Menschen er in seiner Arbeitswelt wahrnehmen kann. Das geschieht in einem Werk wie VW in ganz unterschiedlicher Weise: Im Kümmern um Arbeitsschutz, oder indem einer sich den Kopf um CO2-Reduzierung macht, man kann die Produktsicherheit steigern oder Verantwortung im Betriebsrat übernehmen. Man kann aber eben auch (außerhalb der Arbeitszeit) in der Arbeitswelt und für die Arbeitswelt beten. Und damit nimmt man dann in ganz besonderer Weise Verantwortung wahr.
Und das geht – manchmal vielleicht, aber eben nicht immer – das geht nicht einfach mittendrin oder einfach so nebenher bei der Arbeit. Warum das nicht geht, warum es gut ist, für das Beten eine eigene Zeit zu haben, kann man schön bei Martin Luther nachlesen. Luther schreibt 1535 an den guten „Freund Peter“, seinen Barbier für’s Haareschneiden und Rasieren. Er schreibt ihm über das Beten und darüber, dass dieses Beten, auch einer gewissen Konzentration bedarf. Luther sagt, das Gebet wolle den Menschen „ganz haben“.„Denn in einem rechten Gebet gedenkt man gar fein aller Worte und Gedanken vom Anfang bis zum Ende des Gebets. So auch ein guter, fleißiger Barbier: Er muss seine Gedanken, Sinne und Augen gar genau auf das Messer und auf die Haare richten und nicht vergessen, woran er sei, am Rasieren oder am Schneiden. Wenn er aber zugleich viel will plaudern und anderswohin denken oder gucken, würde er einem wohl Maul und Nase, die Kehle dazu abschneiden. So will auch jedes Ding, wenn es gut gemacht werden soll, den Menschen ganz haben mit allen Sinnen und Gliedern …“ (aus: M. Luther, Eine einfältige Weise zu beten)
Ich will die damit angesprochene Konzentration bei der Arbeit jetzt nicht auf den Einbau von Bremsschläuchen und Airbags bei Volkswagen übertragen. Aber jeder versteht: Nicht nur damals beim Barbier in Wittenberg, sondern auch heute in Wolfsburg kommt es der menschlichen Unversehrtheit sehr entgegen, wenn das Beten sein eigene Zeit, seinen eigenen Ort, seine eigene Konzentration, wenn es den Menschen ganz hat.Ich freue mich, dass mit dem nun offiziell gegründeten Netzwerk von „Christen bei Volkswagen“ sich hier in Wolfsburg die Geschichte von Christen in der Arbeitswelt auf schöne Weise fortsetzt. 1951 wurde hier in der Stadt mit der Christuskirche eine der ersten Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg neu gebaut, unterstützt durch einen Zuschuss des Volkswagenwerks. In den 1950er Jahren gab es auch schon erste Bestrebungen, im Zusammenhang mit dem Volkswagenwerk Wolfsburg ein Industriepfarramt einzurichten. Im November 1960 entstand zunächst in einer Baracke und 1972 mit einem Neubau in der Kleiststraße eine industriediakonische Einrichtung: „Die Arche“. Bald danach begann der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt unter anderem mit Bildungsurlauben für italienische Mitarbeiter.
Mittlerweile vermissen wir schmerzlich, was dann in den Folgejahren an Begegnungen und gemeinsamen Aktionen von Kirche und Werk geleistet wurde, was auch an Gottesdiensten und Gebeten von Christen in Verbindung mit der Arbeitswelt möglich war. Als verlässliches Bindeglied für Wirtschaft und Arbeitswelt steht heute aus der Evangelischen Kirche heraus im Hauptamt Pastor Schladebusch ziemlich allein da. Im Blick auf die kirchlich bezahlte Arbeit ist das so.
Aber jeder von uns weiß, wieviel Arbeit aus christlicher Verantwortung heraus unbezahlbar ist. Viele von Ihnen heute hier haben daran Anteil mit Ihrem Einsatz und Engagement. Und auch mit Ihren Gebeten. Jedes einzelne dieser Gebete ist ganz und gar unbezahlbar. Auch und erst Recht jedes Gebet in der Arbeitswelt und für die Arbeitswelt. Herr, erhöre uns. Amen.