Zufluchtsort für Trauer

Nach mehr als drei Jahren Planungs- und neunmonatiger Bauzeit wurde am 29. November 2015 die neue Kapelle in Ehmen (Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen) eingeweiht. Landessuperintendent Dieter Rathing hielt die Festpredigt.

Liebe Gemeinde, „Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!“ Ein Satz aus dem 36. Psalm. Er ist das Wort aus den Herrnhuter Losungen für den heutigen Tag.

Künftig werden viele Täuflinge hier in Ehmen diesen Spruch bei Ihrer Taufe aus nächster Nähe sehen. Auch wenn die allermeisten von ihnen noch gar nicht lesen können. „Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!“ – das ist die Gravur auf der Taufschale, die in der neuen Kapelle ihre Heimat haben wird. Stolze Mütter und gerührte Väter öffnen ihrem Kind eine Zuflucht bei Gott, vertrauen es dem Schatten seiner Flügel an.

Jede unserer Kirchen, alle unsere Kapellen sind Zufluchtsorte. Und waren es schon immer. Dem Beter des 36. Psalms spürt man heute noch den Atem eines verfolgten und schutzsuchenden Menschen ab. „Wie köstlich ist deine Güte Gott …“ – so spricht jemand, dem die Flucht vor seinen Widersachern in einen Tempel gelungen ist. Dort im geschützten Raum fühlt er sich geborgen. Wie ein eben noch gehetztes Küken unter den Flügeln seiner Mutterhenne. Und wir kennen das Bild der Cherubim, der Engel Gottes, die über einem Schutzsuchenden ihre Flügel ausbreiten, ihm Zuflucht bieten.

„Wie köstlich ist deine Güte, Gott …“ – so mögen Menschen dankbar beten, die heute unter uns eine Flucht hinter sich haben, die als Verfolgte unserer Tage einen sicheren Ort, ein sicheres Land finden. Zuflucht heißt „Asyl“. Wie köstlich ist deine Güte, Gott, wenn Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Asyl finden!

Weltweit sind 60 Millionen Menschen unterwegs. Verfolgte und gehetzte Menschenseelen mit Angst um Leib und Leben für sich und ihre Familien. Suchen nach Schutz und Schatten, nach menschenwarmen und menschenfreundlichen Flügeln. In großer Dankbarkeit sehe ich, mit wieviel Tatkraft Menschen hier bei uns in diesen Monaten ihre Hilfe-Flügel ausspannen. Ob in Ehra-Lessin, in Westhagen oder anderswo. Wer immer dort hilft spiegelt etwas von der kostbaren Güte Gottes wider, unter der wir als Menschen einander Zuflucht geben können.

Der Zuflucht und des Schutzes bedürftig, das sind wir Menschen. Und wir bleiben es. Auch wenn wir keine Geschichte von Flucht und Vertreibung hinter uns haben. Wohl keine Seele unter uns, die zu Zeiten nicht auch eine gehetzte wäre. Kein Herz unter uns, das sich nicht nach Geborgenheit sehnte. Kein Gemüt, welches ohne die wärmenden Flügel einer Heimat auskäme. Gerade in den kommenden Wochen der Advents- und Weihnachtszeit spüren wir das wieder sehr genau.

Und dann suchen wir besonders, was wir unter der Hetze des Jahres oft nicht finden. Stunden „unter Flügeln“, Räume des Innehaltens und der Besinnung. Orte, an denen Worte wie Barmherzigkeit und Gnade ihren Platz haben, an denen noch von Cherubim und Serafim die Rede ist. Orte, die Zeit und Ewigkeit verbinden. Mit Orgel und Glocken, mit Christmette und Chorgesang. Ort, an dem gesagt wird, wer verstorben ist aus der Gemeinde und wie alt er war. Es ist gut, das zu hören, auch wenn man den Verstorbenen nicht gekannt hat. Ort, zu dem wir unsere Kinder hinschicken können. Wo sie eingeführt werden in das Achtgeben auf die Menschen rechts und links, wo sie gelehrt werden im Erinnern an die Generationen vor uns. Wo sie mit ihrer Taufe auf eine gute Spur gebracht werden, hin zu Gebet und Segen, hin zur Adresse für Klage und Dank. Dorthin, wo viel menschliches Sehnen und Suchen Erfüllung findet.

Über 180.000 Menschen finden in unserer evangelischen Kirche jedes Jahr einen dieser Orte als ihren ersten Ort der Zuflucht, des Asyls bei Gott, indem sie sich taufen lassen. Der Zuflucht und des Schutzes bedürftig, das sind wir Menschen. Vom Anfang unseres Lebens an. Und wir bleiben es bis zum Ende. „Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!“

Und wie köstlich ist es, wenn wir heute hier in Ehmen erleben, dass wir solche Orte auch zu unserer Zeit noch hervorbringen können. Mit dem Neubau einer Kapelle, die mit ihrem Taufbecken als Mitte und den sie umgebenden Urnenplätzen hier vor Ort Zeit und Ewigkeit verbindet. Wie köstlich ist es, wenn wir mit der Schönheit von Raum und Material, wenn wir mit Lichtführung und Glasgestaltung dem Ausdruck geben können, das uns etwas wert ist. Wie köstlich ist es, wenn Menschen mit ihrem Namen als Stifter für das einstehen, was ihnen viel wert ist.

Die Schönheit eines Ortes, an dem wir unsere Toten bestatten, ist der gute Gradmesser unserer Wertschätzung des Lebens. Wenn wir lieben, machen wir uns schön. Was wir lieben, schmücken wir mit Schönheit. Es ist gut, wenn unsere Bestattungsplätze Orte von Schönheit sind. Wenn auch die Orte unserer Trauer uns so wichtig sind, wie das Leben in seinen schönsten Tagen.

Denn auch unsere Trauer braucht ihre Zuflucht, braucht ihren Ort, ihr Asyl. Zunächst unter uns Menschen. Das fängt schon bei der Trauerfeier an. Im ländlichen Raum ist es weithin noch selbstverständlich, Trauernde auf dem letzten Weg mit ihrem Verstorbenen zu begleiten. Im städtischen Umfeld gibt es dann schon immer mehr Beisetzungen „im engsten Familienkreis“. Wenn überhaupt eine Traueranzeige erscheint, dann häufig im Nachhinein mit dem Hinweis, die Beisetzung habe „in aller Stille“ stattgefunden. Nachbarn, Freunde und Bekannte sind oft nicht dabei. Aus einer Runde mit Bestattern im Landkreis Harburg höre ich: Ein gutes Viertel aller Verstorbenen kommt ganz ohne irgendeine Trauerfeier zu Grabe – und häufig an einem Ort, der anonym sein und unbekannt bleiben soll.

Beobachter sprechen von einem zunehmenden Urnen-Tourismus. Dann geht es darum - an welchem Ort auch immer - am Günstigsten einen Bestattungsplatz zu finden. Als Christen sollte uns daran gelegen sein, eine würdige Trauerkultur zu pflegen. Dazu gehört die Möglichkeit für eine orts- und heimatnahe Beisetzung. So wie die Verstorbenen im Leben zu uns dazugehört haben, gehören sie auch als Tote weiterhin zu uns. Und wir als Lebende gehören zu ihnen.

Ich ermutige Kirchengemeinden, ihren Beitrag dazu zu leisten. Nächstenliebe ist nicht nur eine Aufgabe an Lebenden. Und mit oft gut gefüllten Diakoniekassen können Zuflucht und Asyl von Toten mit einer Bestattung an ihrem Heimatort unterstützt werden. Müssen wir denn wirklich auch noch unsere Verstorbenen auf eine Flucht schicken? Wie köstlich ist es, wenn sie unter uns Zuflucht finden! Mit ihrem Namen, den wir sichtbar festhalten, mit unserem Gebet, in dem wir uns vor Gott zusammenschließen mit ihnen und mit denen, die um sie trauern. Und das ist nie nur „der engste Familienkreis“. Auch wer „in aller Stille“ beigesetzt wird hat Nachbarn, Kollegen, Freunde und Bekannte gehabt. Und es sind immer noch welche, die sich seiner erinnern, die mittrauern, die auch zusammen mit den Trauernden ein Vaterunser gebetet hätten.

In der Außenwand der neuen Kapelle und im Wall um sie herum finden nicht nur die Urnen der Verstorbenen Zuflucht. Auch unsere Trauer findet hier Asyl. Wie köstlich, dass beides im Schatten des Gotteshauses seinen Platz hat. Wie köstlich, dass wir hier Tote und Lebende unter den Flügeln von Gottes Güte geborgen wissen können.

Liebe Gemeinde, „Wie köstlich ist es …“ – so habe ich nun mehrfach die Psalmworte zitiert und habe dabei noch geschwiegen von der Kostbarkeit, die mit dem Marienkrönungsaltar wieder nach Ehmen einziehen, hier wieder in ihre Heimat zurückkommen wird. Ein Landesmuseum, zumal das in Hannover, ist mit seinem Magazin ganz sicher ein gutes Asyl für einen Altar, wenn eine Kirchengemeinde ihn nicht mehr haben will und ihn, wie 1908 geschehen, für 500 Mark verkauft. Aber besser als im Asyl ist es, in der Heimat zu sein. Da ist es mit einem Altar fast nicht anders wie bei Menschen. Und ein Altar hat erst dann seinen richtigen Ort, wenn er bei den Menschen ist.

In der neuen Kapelle ist der alte Ludgeri-Altar nun wieder bei den Menschen. Als Architekt beschreibt Wolfgang Pax die Gebäudehülle vergleichbar mit einem „Schatzkästchen …, das diesen Altar behütet, ihm angemessen Raum und Wirkung gibt.“ Unter dem Schatten einer modernen Architektur hat eine historische Kostbarkeit wieder Zuflucht gefunden.

Tauffamilien und Trauerfamilien, Menschen, die als Einzelne mit ihrem Gebet oder zusammen mit der Gemeinde auf diesen Altar schauen, wird dort ein ganz bestimmtes Bild vor Augen gestellt. Sie können mit ihrem Glauben Zuflucht zu ihm nehmen. Und wir können es auch.

Es ist ein Bild vor goldenem Hintergrund: Ein Mensch kommt in den Himmel. Hier ist es Maria. Andere waren es zu anderen Zeiten mit anderen Namen. Menschen, die vor uns gelebt haben, nach uns werden es welche sein. Wir selbst werden das einmal sein: Ein Mensch, der in den Himmel kommt.

Woher wissen wir das? Bei Maria auf dem Altar: Sie trägt eine Krone. Im Himmel wird ihr Leben von Gott gekrönt. Ob sie das zu Lebzeiten selbst mal geglaubt hat: Mein Leben wird gekrönt werden? Schwanger mit Jesus unterwegs. Unverheiratet. In der Nacht auf Suche nach Unterkunft. Später mit der Familie selbst als Flüchtling unterwegs. Ob Maria das selbst mal geglaubt hat: Mein Leben wird gekrönt? Als Zwölfjähriger lief Jesus ihr als Mutter weg, als Wanderprediger wollte er von seiner Mutter wenig wissen, als er 30 war, musste sie schon um ihn trauern. Dieses Leben soll einmal die Krone bekommen? Mein Leben soll das wert sein? Ich soll das wert sein?

Nein, liebe Gemeinde, ich glaube, Maria hat das selbst nicht geglaubt. So wie wir das für uns selbst oft auch nicht glauben können. Das mit dem Himmel. Und das mit unserem Leben. Dass es das wert sein soll, und dass wir es wert sein sollen. Wert für eine Krone. Und so wertvoll für Gott. Dass seine Güte so köstlich ist. Und dass wir Menschen bei ihm Zuflucht haben. Unter dem Schatten seiner Flügel. In Zeit und in Ewigkeit.

Deshalb müssen wir es immer wieder vor Augen kriegen. Vom Anfang bis zum Ende. Von der Taufe bis zum Tod. Dass wir dieses ja nur glauben können: „Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!“ Amen.

Landessuperintendent Dieter Rathing