Mit Kain verwandt

Predigt von Dieter Rathing am 26. August 2018 in St. Johannis, Lüneburg

Predigttext: 1. Mose 4, 1-16a

Am Anfang, liebe Gemeinde, stehen die großen Fragen. Wo kommt das her, was ist, und wie ist geworden, was wir um uns haben? Und die Bibel antwortet am Anfang und erzählt von der Schöpfung. Und was ist es mit dem Menschen, mit Mann und mit Frau, was sollen sie wissen von sich und von Gott? Und die Bibel erzählt auf den ersten Seiten weiter vom Paradies. Und warum sind wir in einer so ganz vom Paradies unterschiedenen Welt, leidbeladen und Leid produzierend, fern uns selbst und fern von Gott? Und die Bibel erzählt vom sogenannten Sündenfall. Und was wird aus dem Menschen, der aus dem Paradies vertrieben ist und sich wiederfindet auf einem verfluchten Boden inmitten eines verfluchten Daseins? Und die Bibel erzählt, wie wir es in der Lesung gehört haben von den zwei Brüdern.

Mit Bildern des Glücks und der Freude setzt sie ein: „Eva gebar den Kain, danach gebar sie Abel, seinen Bruder.“ Nüchtern erzahlt sie weiter: „Abel wurde ein Schäfer. Kain aber wurde ein Ackermann.“ Und endet als Geschichte des ersten Mordes: „Da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“ So geht’s jenseits des Paradieses weiter: Mit Mord und Totschlag. Menschheitsgeschichte wird zur Mordgeschichte. Bis auf den heutigen Tag ist Menschheitsgeschichte immer Mordgeschichte geblieben. Nicht einmal die Kirchengeschichte macht da die Ausnahme, bis auf den heutigen Tag. Warum? Warum ist das so?

Liegt’s daran, dass wir, dass die Menschen kulturell zu verschieden sind? Abel der Schäfer und Kain der Ackermann, steckt das noch in uns drin? Der Kontrast zwischen Wanderschaft und Sesshaftigkeit? Zwischen Wüste und Kulturland, zwischen den Bewohnern der Steppe und den Dorfgemeinschaften? Der Schäfer, der sagt: Die Erde gehört allen Menschen, es gibt keinen Eigentumsanspruch auf das Land. Ganz anders der Ackerbauer. Er wird das abgezirkelte Stück Land, das er unter seinen Pflug nimmt, als sein Eigentum beanspruchen. Er kann nicht jedem Dahergelaufenen zugestehen, seinen Acker zu verwüsten. Zwei gänzlich verschiedene Kulturen, die Welt zu sehen, zu formen. Wie soll‘s da anders kommen: Nimmst du mir mein Weideland, dann lege ich deine Obstbäume um.

Kain und Abel, will die Bibel mit ihnen exemplarisch die gesellschaftliche Differenzierung erklären, die verschiedenen Prägestöcke, die uns aufpressen, was wir als unsere Interessen zu verfolgen haben? Sozial, kulturell, wirtschaftlich, zwischen den Ländern, den Kulturen, dass das immer wieder zu Konkurrenz, zu Feindschaft und Krieg führt, ja mit einiger Zwangsläufigkeit führen muss? Gewiss stecken in der biblischen Erzählung auch diese Beobachtungen zur „Gesellschaftskunde“. Aber was sie eigentlich erzählen möchte, spielt sich wohl weit tiefer, tiefer im Menschen selbst ab.

Kain opfert. Abel opfert. Der eine Früchte. Der andere Tiere. Sie haben Religion. Sie machen Religion. Jeder nach seiner Façon, an zwei Altären, offenbar aber im Blick auf denselben Gott. Eine ganz harmlose und unverdächtige Szene. Wir sind ja vertraut mit dem Gedanken, dass Religion - zumal auf dieser Entwicklungsstufe, aber auch noch bis in unsere Tage hinein - etwas mit dem Darbringen von Opfer zu tun hat. Messopfer, Dankopfer, Opferstock, das alles ist ja nicht nur in der Sprache präsent, sondern auch mehr oder weniger auch in unserem religiösen Pflichten-Katalog.

Aber: Was geht in Menschen vor, wenn sie glauben, Gott Opfer darbringen zu müssen? Zu müssen! Ist es denn möglich, dass ein Mann eine Frau, um es unter Menschen auszudrücken, von Herzen lieb hätte, und die beiden wären glücklich im Zusammensein, und es käme der eine auf die Idee, er müsste dem anderen etwas opfern, um womöglich von diesem noch ein bisschen mehr geliebt zu werden? Erst wenn wir so fragen, begreifen wir das Schreckliche, das unter der Maske des Harmlosen eingetreten ist. Wir haben Menschen vor uns, die nachdem sie aus dem Paradies vertrieben sind, nur noch glauben können, von Gott geliebt und „gut angesehen“ zu sein, wenn sie Opfer darbringen, und zwar das Beste, das sie haben. Kain und Abel sind mit ihrem Opfer dahinter her, von Gott, so heißt es da wörtlich, „gnädig angesehen“ zu werden.

Dem An-sehen hinter her, das sind wir: Menschen, die es nicht für möglich halten, dass so, wie sie sind und einfach weil sie sind, so etwas wie Liebe ihr Leben begleite. Es ist, als seien wir von Menschengedenken an imprägniert mit der Idee, wir müssten mit Fleiß, mit Tüchtigkeit, mit Anstrengung, mit Verzicht, mit irgendeiner Art von Opfer uns das Wohlwollen eines Herrn im Himmel verdienen, der sich dadurch dann bewegen ließe, uns Wohlwollen, Zuwendung, Anerkennung und An-Sehen zurückzugeben.

Rainer Werner Fassbinder, der verstorbene Filmregisseur, hat in einem seiner Filme, die Kain-und-Abel-Geschichte in gewissem Sinn verdeutlicht. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der zum Mörder wird, weil er auf verzweifelte Weise die Liebe seiner Freundin erringen möchte. Er tut alles, was er nur kann, nur zu viel davon. Die Blumensträuße, die er bringt sind riesig, die Briefe, die er schreibt, endlos, die Worte, die er findet plump und grob, und so wird das Übermaß seiner Sehnsucht für die Partnerin seiner Suche wie eine drohende Gefahr. Sie meidet ihn, er ist ihr unheimlich, und schon ist der Kreislauf vollkommen. „Ich möchte doch nur, dass ihr mich liebt“ ist die Schlüsselaussage des ganzen Films.

Reden Sie mit Gefängnisseelsorgern und ihren Erfahrungen mit Straffälliggewordenen, oft genug Mördern, so haben sie durch die Bank kaum etwas anderes zu berichten als die Geschichten einer verlorenen und bis ins Verzweifelte wiedergesuchten Liebe, die es nie gab, aber dringend hätte geben müssen, und für die man alles getan hätte und notfalls sogar getan hat. Schlimmstenfalls hat man den Menschen an seiner Seite aus dem Weg geräumt, der dieses Ziel, geliebt zu werden, hinderte. Sicherlich, das ist das Extrem. Aber Kain und Abel erzählen genau dieses Extrem. Und alles beginnt damit, dass der Mensch glaubt opfern zu müssen. Das ist, wenn Sie so wollen, unser erstes und uns am tiefsten bestimmendes nachparadiesisches Grundproblem. Ihres und meines. Keiner von uns glaubt wirklich von Grund auf, dass Gott uns einfach so tragen könnte, dass er uns einfach gelten ließe. Und so strampeln wir uns vor Gott und vor der Welt nach An-Sehen ab. Verbreiten permanent Fettdampf und Wohlgeruch, auf dass man uns nur ja gut riechen kann.

Abel opfert. Kain opfert. Jeder mit dem, was er hat. Zum Verwechseln ähnlich. Mit keinem Wort gibt die Erzählung einen Anhalt dafür, dass einer von beiden der bessere Mensch mit dem Gott wohlgefälligeren Leben, das wertvollere Opfer gebracht hätte. Nichts davon. Aber: Der Opferrauch des einen steigt gleich und gerade auf zum Himmel. Des anderen Opferrauch findet diesen Weg nicht, kriecht stattdessen nur knapp über den Boden. So haben Maler diese Szene immer wieder ins Bild gesetzt, um zu bedeuten: Der eine steht gut da und mit An-Sehen, der andere ist im Hintertreffen, benachteiligt. Das ist nüchtern gesprochen. Wer gut gelaunte poetische Bilder sucht, mag in „Pechvögel“ und „Sonntagskinder“ unterteilen. Liebhaber eines zynisch-kämpferischen Tons singen mit dem Schlusschoral der Dreigroschenoper „Denn die einen sind im Dunkel, und die anderen sind im Licht“.

Wer auch nur im Entferntesten ahnt, was hier erzählt ist, wird verstummen. Weil es einem eigentlich nur die Sprache verschlagen kann, dass das so ist. Dass das so ist, wie es hier erzählt wird, und wie wir es erleben. Warum sieht Gott das eine Opfer gnädig an und das andere nicht? Und da ja nichts von einem Qualitätsunterschied der Opfergaben berichtet ist, die Frage gleich unmittelbar: Warum sieht Gott das eine Leben gnädig an und das andere nicht? Warum beim einen Segen, Anerkennung, Erfolg und Glück? Lebenstage satt und erfüllt. Und dicht daneben, wie verflucht, kommen das Leben und alles, was in ihm wachsen könnte, nicht vom Boden hoch. In tausend Variationen lastet, was überhaupt nur lasten kann auf ihm, und oft genug vor jedem Anfang schon der Tod. Warum?

Theologen haben darüber theologisiert, zumeist mit dem Ergebnis der „Souveränität Gottes“, dass Gott eben frei ist, dass er tun kann, was er will, dass er eben Abel zu seinem Liebling erklärt und auf Kain einen „Pik“ hat? Haben sie damit das „Warum“ aus der Welt geschafft?

Moralisten haben darüber moralisiert, oft mit dem Ergebnis, dass es der menschliche Neid sei, der den Segen, der über dem anderen Leben liegt, nicht annehmen könne. Haben sie damit das „Warum“ gelöscht?

Philosophen haben darüber philosophiert, nicht selten mit dem Ergebnis, dass aus Vernunftgründen Gottes Existenz zu leugnen sei. Ja nicht einmal damit, dass ich Gott austilge, ist das „Warum“ aus der Welt.

Mit dem Kopf und mit dem Herzen werden wir immer gegen die Mauer dieses Lebensrätsels rennen. Und oft genug mit dem Glauben auch. Der Grimm gegen dieses Rätsel, liebe Gemeinde, wird uns lebenslang begleiten. Der Grimm, dass wir nicht dahinter kommen, nicht mit Theologie, nicht mit Moral, nicht mit aller unserer Vernunft. Und dieser Grimm, dass wir Gott nicht verstehen, dass wir dieses Lebensrätsel nicht lösen, dieser Grimm des Kain den wir in uns tragen, dieser Grimm wird auch immer wieder den Kain in uns produzieren. Dazu müssen wir gar nicht einmal etwas tun. Dazu müssen wir keinen Mord begehen, keinen Totschlag verüben. Den Kain in uns zu sehen, dazu reicht es, dass wir einander schlicht von den Lippen lesen. Wie da Dutzend Mal bei jedem von uns auf den Lippen die Frage zu stehen kommt, ob wir denn wohl, ob ich denn wohl der Hüter meines Bruders sein soll. Dazu muss ich ihm nichts getan haben.

Gerade das Nichts-Tun, liebe Gemeinde! Gerade das Versäumte kann viel schwerer wiegen als jede Tat. Das nicht gesprochene Wort schlimmer sein als jede Beleidigung. Und das Übersehen! Das Übersehen ist möglicherweise die verbreitetste Form des Übeltuns. Wohl dem, der um seine Verwandtschaft mit Kain, dem Mörder, weiß. Im Tun oder im Unterlassen. Gerade im Unterlassen, kann man sich mit einigem Entsetzen ja immer wieder nur an den Kopf fassen, wenn einem mal wieder aufgegangen ist, welche Tatsachen, vielleicht sogar ungewollte Tatsachen aus dem Nichts-Tun erwachsen.

Aber jeder, der sich so an den Kopf fasst, mag sich auch noch auf andere Art seiner Kains-Verwandtschaft vergewissern. „Der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge!“ Wir können gewiss sein, dieses Kains-Mal ist noch da. Seien Sie gewiss: Es schützt uns, schützt uns immer noch. Wir hätten einander sonst längst auf offener Straße erschlagen. Und wer ganz genau hinfasst, und ganz sorgfältig hinfühlt, der wird noch der Spuren eines ganz anderen Zeichens gewahr, das an uns befestigt ist. Das Zeichen des Wassers der Taufe. Und dieses Zeichen, wir können es nie verlieren. Es steht gewissermaßen als „Wasserzeichen“ auf dem Hintergrund von allen Kalenderblättern, auf die wir unsere Lebenstage schreiben. Auch die schwarzen, auch die, an denen unser eigenes Tun oder unser eigenes Unterlassen uns an den Kopf fassen lässt, erst recht an den Tagen, wo wir wieder einmal gegen die Mauer des Lebensrätsels rennen.

Dann müssen wir unser Wasser-Zeichen der Taufe Gott vorhalten: „Ich bin getauft auf deinen Namen … Du hast zu deinem Kind und Erben, mein lieber Vater, mich erklärt ... Du willst in aller Not und Pein, o guter Geist, mein Tröster sein“. So sei das nun! Amen.