Predigt von Landessuperintendent Dieter Rathing im Gottesdienst der Mitgliederversammlung des Evangelisch-lutherischen Missionswerks am 20. September 2018 in Hermannsburg
Liebe Schwestern und Brüder, manchmal berührt es mich, wie die festgefügte Ordnung unserer gottesdienstlichen Predigttexte Rücksicht nimmt auf unsere vielen wechselnden kirchlichen Anlässe. Heute ist es dieser Gottesdienst, dem der Predigttext des kommenden Sonntags rücksichtsvoll die passenden Stichworte gibt. Ich lese aus dem Buch des Propheten Jesaja im 49. Kapitel die Verse 1 bis 6, es ist das zweite „Gottesknechtslied“.
Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist. Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, – darum bin ich vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.
„Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne …“ Liebe Gemeinde, in Zeiten wie diesen tut allein das zu hören schon einmal gut. In Zeiten wie diesen, wo nach dem Willen von nicht Wenigen, das Zusammenleben von Menschen sich anfühlen soll wie in einer Schrebergarten-kolonie – klein, überschaubar und allem Fremden gegenüber strikt abgegrenzt –, da gleicht das Aufrufen der „Völker in der Ferne“ schon einer kleinen Befreiungstat. Einem „Zurück ans Stammesfeuer“ stellt der Prophet die globale Aufmerksamkeit gegenüber. „Merkt auf!“ Gottes Heilswille geht nicht auf „das Volk“ oder auf „ein Volk“, sondern auf die Völker. Gottes Heilswille geht nicht zurück auf etwas Verlorengegangenes, sondern er sieht nach vorn auf etwas, das allererst noch zusammen mit diesen Völkern zu gewinnen ist. Das zu hören, tut erst schon mal gut.
„Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne …“ Ihnen als Delegierten und Gästen der Mitgliederversammlung des EMW, jeder und jedem von Ihnen werden wahrscheinlich Inseln und Völker sofort vor Augen stehen, deren Aufmerken Sie mit Ihrer Arbeit verbinden können. Allerdings: Ein Aufmerksamkeit erheischendes „Hört mir zu!“ werden Sie, werden wir dabei heute kaum noch über die Lippen bringen. Das Verständnis einer „von uns“ in die Welt hinaus zu tragenden Mission hat sich zu einer „Reverse Mission“ gewandelt. Und wir dürfen davon ausgehen: Wenn in Indien, wenn in Äthiopien, in Tansania oder auch in Migrationsgemeinden hier bei uns über diese Worte Jesajas gepredigt wird, dass wir in den traditionellen Altkirchen ihnen vor Augen stehen als „die Inseln“, an deren Ufern die Verweltlichung nagt, als „die Völker“, die sich in ihrem Glauben entfernt haben.
Die Landkarte des Christentums hat sich verändert. Wir sind herausgefordert, von einem insbesondere „an den Rändern“ anwesenden Gott her zu denken, wobei sich die Rede von „Rändern“ natürlich sofort als missionstheologische Altperspektive eines zentralistisch denkenden Nordens entlarvt. Wir kommen damit kaum weiter. „Hört mir zu, ihr Inseln …“ - das wird nur dann fruchtbar, wenn wir uns im Norden wie im Süden wechselseitig vorstellen können, dass es da, in der Ferne, jenseits der eigenen Horizonte (in denen wir uns so selbstverständlich und oft so wenig kritisch bewegen), dass es da jenseits eigener Gewissheiten Menschen gibt, die noch anderes brauchen als das, was sie bisher zu hören bekommen haben. Und sei es in einem erst einmal ganz schlicht daherkommenden „Storytelling“. Solches Storytelling verliert dann aber ganz bald alle ihm zugeschriebene Schlichtheit, wenn das, was aus verschiedenen Ländern erzählt wird, sich schnell zu identischen Überschriften zusammenfindet: Zunehmende Nationalisierung oder offener Rassismus. Jedes Storytelling wird dann alsbald zu einem Auftrag zum Handeln.
Als ein solches Storytelling mit Handlungsauftrag dürfen wir auch die Worte des Gottesknechts bei Jesaja hören. Die ersttestamentliche Exegese hat die Frage ja immer noch nicht eindeutig beantworten können, um wen es sich bei diesem Gottesknecht eigentlich handelt. Ist es ein Einzelner? Der Prophet? Oder soll ein Kollektiv damit beschrieben sein? Israel? Die gelehrten Geister scheiden sich. Dabei setzt eine solche alternative Fragestellung schon eine gewisse Dummheit der biblischen Überlieferer voraus. Man geht von der schlichten Unfähigkeit der Tradenten aus, uns das Entweder-oder mit klaren Worten wissen zu lassen. Einzelner oder Kollektiv? Nun musst du dich entscheiden. Oder es als ungelöste Denksportaufgabe mit ins Grab nehmen und des Rätsels Auflösung vom Jüngsten Tag erwarten.
Was wäre, wenn diese Frage von Jesaja gar nicht eindeutig beantwortet werden soll? Ich denke, durch eine Vereindeutigung der changierenden Figur des Gottesknechts wäre sie einer wesentlichen Dimension beraubt. Das ganze Wirken des Gottesknechts zielt doch darauf, dass Israel wird so wie er. Und andersherum soll der Gottesknecht in einer Treue zu Gott stehen, wie Gott das auch von Israel erwartet. Der Knecht ist nicht entweder ein Einzelner oder das Volk, er ist beides. Und die biblischen Überlieferer sind so schlau, beides auch offenzuhalten.
Entscheidend ist es, dass Gott seinen Willen in menschliche Hände gibt, seien es die Hände des Kollektivs, seien es Hände eines Einzelnen. In kirchliche Kategorien heruntergebrochen wäre es doch auch ein ausgesprochen dummes Ansinnen, wenn ich die Treue zu Gott und seinen Auftrag alternativ denken würde – entweder in den Dienst von Ihnen, lieber Bruder Jan Janssen als langjährig verdienten Vorsitzenden des EMW oder in den Dienst der Mitgliedergemeinschaft. Das ist doch in beider menschlicher Hände – sowohl als auch. Und wie bei einem Wetterhäuschen kommt mal der Eine und kommen mal die Anderen nach vorn, aber beide stehen doch auf derselben Platte, demselben Fundament. Unterschied zum Wetterhäuschen: In christlicher Gesinnung sollten die Vortritte bei Hochs oder Tiefs auch mal wechseln.
Und deshalb der Dank an Sie, Bruder Janssen, wann immer Sie als einzelner Mensch der Mission Gottes unter uns in einem Wort oder in einer Tat Gestalt geben konnten, wo es das Kollektiv nicht oder noch nicht konnte. Und deshalb der Dank an die Gemeinschaft der Missionswerke, wo Sie im Kollektiv zu einem Wort oder zu einem Tun kamen, das von einem einzelnen nicht zu leisten gewesen wäre. Um es in Anlehnung an Ihr Schwerpunktthema „Von Pilgern und Prophetinnen“ zu sagen: Das ist das Kennzeichen von Pilgern, sie machen Schritte, die andere noch nicht oder vielleicht auch überhaupt nicht gehen können. Das ist das Kennzeichen von Prophetinnen, sie sprechen aus, wofür andere keine oder noch Worte haben oder was diese überhaupt noch nicht im Blick haben. Wir danken es Ihnen beiden, als Einzelnen und im Kollektiv.
Muss man zu einem Prophetentum pränatal bereitet sein? Die Worte des Propheten Jesaja legen ja ein Denken in zeitlichen Abfolgen nahe: „Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an …“, und später dann werden aus dieser Bestimmung heraus die Missionswerkzeuge aus dem Köcher geholt. Ist das so?
Lieber Bruder Dietmar Arends, ich kenne Ihre pränatale Vorstellungswelt nicht. Ob Sie etwas anfangen können mit dem Gedanken, der Herr habe Sie, als Sie noch im Schoß Ihrer Mutter waren, insgeheim schon zum Vorsitzenden des EMW-Vorstands berufen. Wenn es so sein sollte, ich will es Ihnen nicht ausreden.
„Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an …“, das meint vielleicht jedoch weniger ein zeitliches Verhältnis, es meint weniger, ein Mensch sei überhaupt nur zur Welt gekommen, um Träger einer bestimmten Aufgabe zu sein. Der „Anfang“ in dieser Art der Ausdrucksweise ist eher so viel wie: grundsätzlich und wesentlich. Mit einem Missionsauftrag unterwegs zu sein ist nicht anders möglich, als dass ein Mensch in seinem ganzen Dasein grundsätzlich sich umgriffen fühlt. Es gibt darin wesentlich nichts, was nebensächlich wäre und sich abspalten ließe von der Hauptsache. Hier im Hermannsburger Missionswerk kenne ich eine ganze Reihe solcher Frauen und Männer, von denen ich sagen würde, denen ist ihre Mission wesentlich, sie sind ganz umgriffen von ihr, und das geht dann über zeitliche Dimensionen, auch über Ruhestandseintritte, hinaus. Für Ihren neuen Auftrag im Evangelischen Missionswerk, liebe Bruder Arends, seien Ihnen solche Frauen und Männer an die Seite gewünscht und den Mitarbeitenden ein solcher Vorsitzender. Gott befohlen!
Gott befohlen auch dann, Gott befohlen gerade dann, wenn Sie, wenn einer von Ihnen sich zu eigen machen muss die anderen Gedanken Jesajas: „Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz“. Keiner von uns wird sagen, dieser Satz rufe nicht auch eigene Erfahrungen ab. Niemand wird uns vorhalten können, dass zu wenig gearbeitet würde. Jeder von uns verzehrt viel Kraft und objektiv – nicht nur dem subjektiven Gefühl nach – und ganz objektiv ist davon manches und manchmal vieles richtig gekennzeichnet mit „vergeblich“, mit „umsonst“ und „unnütz“.
Jesaja führt die Klage über solchen geistlichen Grundkummer rasch produktiv weiter. Er erinnert sich selbst daran, dass er ja schließlich nicht für Menschen arbeite, sondern für Gott. Insofern ist nicht sein Erfolg das Kriterium, sondern allein Gott, der ihn ins Recht setzen wird und er darin dann seinen Lohn finde. Ja, liebe Schwestern und Brüder, ja, das stimmt, das stimmt alles. Ich kann das predigen. Und ich kann das auch glauben. Aber ich kann das nicht allein. Und weil ich es nicht allein kann, deshalb lasse ich mich gern noch einmal erinnern an das changierende Bild des Gottesknechts – mal der einzelne Prophet und mal das Kollektiv, die Gemeinschaft mit den anderen. In beiden hat Gottes Heilswille sein Zuhause, von beiden geht er aus in die Welt. Gottes Heilswille geht auch aus in die Welt von Vergeblichkeit und Misserfolg!
Dazu müssen wir uns gemeinsam dann nur des Gottesknechts erinnern, der über Jesaja hinausgeht und den wir in Jesus Christus erkennen und glauben. Auch er einer mit Erfahrung von Vergeblichkeit und Misserfolg. Die Bilanz seines irdischen Lebens ist eher deprimierend. Am Ende starb er den Verbrechertod am Kreuz. In seiner Gemeinschaft finden wir uns wieder. Kann das ein Trost sein? Immerhin muss man wohl sagen: Es gibt keine intensivere Gemeinschaft als die Gemeinsamkeit des Misserfolgs. Wer diese Gemeinsamkeit aushält, bei dem ist man in guter Gemeinschaft. Das gilt für jede weltliche Gemeinschaft, das gilt erst recht für jede geistliche. Christus hält diese Gemeinsamkeit aus. Deshalb sind wir in guter Gemeinschaft bei ihm.
Und deshalb können wir jenseits von Erfolg oder Misserfolg Gottes „Heil bis an die Enden der Erde“ verkündigen. Als einzelne Propheten und Prophetinnen oder als Gruppe von Pilgerinnen und Pilgern. Und wir werden immer beides tun: Wir werden die Gemeinschaft suchen der Menschen auf den Inseln und der Völker in der Ferne. Und wir werden miteinander die Gemeinschaft suchen, die uns Heil zusagt - unter Christi Wort oder wie gleich unter Brot und Kelch in seinem Mahl. Amen.