Auf einmal sind wir "ganz anders"

Predigt von Landessuperintendent Dieter Rathing in der Christmette in der Lüneburger St. Johannis-Kirche am 24. Dezember 2018, 23 Uhr.

Liebe Gemeinde, jetzt in der Nacht können wir schon auf einen ersten Teil des Weihnachtsfestes zurückblicken. Haben Sie diesen Heiligen Abend auch „so wie immer“ verbracht? „Das haben wir immer schon so gemacht.“ Wenn ein Satz zu Weihnachten gehört, dann wohl dieser. Abweichungen sind eher verpönt. „Alles wie immer“ ist das weihnachtliche Ordnungsprinzip schlechthin. Die Abläufe dieses Tages, der Kreis der Menschen unterm Christbaum, das Weihnachtsessen sowieso. Wäre der Satz „Das haben wir immer schon so gemacht“ ein Weihnachtslied, würden ihn viele Menschen unter dem Weihnachtsbaum wohl voll Inbrunst anstimmen.

Und in der Kirche schließen wir daran an, in Wort und Tat und Gesang. „Es begab sich aber zu der Zeit, das ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …“, die Brot-für-die-Welt-Kollekte und „O du fröhliche“ sowieso. Vieles wird neu gedacht, selbst in der Kirche. Weihnachten eher nicht. Es ist ein heiliger Rest an Gewohnheit. Ich wünsche Ihnen, dass für Sie diese Tage mit dem Bedürfnis nach Vertrautheit gute Erfüllung finden. Und das, was Sie „immer schon so gemacht“ haben, möge ein Ruhepol sein in einer Welt voller Veränderungen.

Denn unser ruhiges, weihnachtliches Immer-so steht ja doch im Kontrast zu einem von dauerndem Wandel und steter Geschwindigkeit bestimmten sonstigen Jahr. „Das haben wir immer schon so gemacht.“ Wer kann sich diesen Satz abseits von Weihnachten noch leisten? In der Berufswelt schon mal gar nicht. Wer dort am Althergebrachten festhält, bekommt den Stempel „von gestern“ aufgedrückt. Um voranzukommen, braucht es die Bereitschaft, die Dinge gerade nicht „wie immer“ zu machen, sondern im Zweifel radikal anders. Und diese Anforderung gilt für alle Lebensbereiche. Die Veränderung ist es, die uns in Berufs- und Lebenswelten fortgesetzt begleitet und herausfordert. Unsere Bereitschaft, die Dinge gerade nicht „so wie immer“ zu machen, ist andauernd gefragt. Beim vorweihnachtlichen Einkauf in einem Lüneburger Baumarkt war ich in diesem Jahr zum ersten Mal vor die Herausforderung gestellt, durch eine Kasse zu kommen, die nicht mehr „wie immer“ mit Personal besetzt war, sondern mit Scannern und Kartenlesegeräten „ganz anders“. Nein, nein, vielen Dank für Ihr Mitleid, ich habe das schon geschafft, ich bin da schon durchgekommen …

Liebe Gemeinde, jetzt muss ich Ihnen aber sagen: „Das haben wir immer schon so gemacht“, so sehr dieser Satz für uns zu Weihnachten auch gehören mag, es ist nicht wirklich ein weihnachtlicher Satz. Denn mit ihrer Botschaft proklamiert die Christgeburt alles andere als die Bestätigung seliger Gewohnheitsmentalität. „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Diese Geburtsanzeige zeigt Veränderung an. Und was für eine! Das ist ja bei jeder Geburt eines Menschenkindes schon so. Kommt ein Kind auf die Welt, ist anschließend nichts mehr „so wie immer“. Da bleibt eher kein Stein auf dem anderen. Vom eigenen Nachtschlaf angefangen, über den Tag, der plötzlich zu wenig Stunden hat, bis dahin, dass es eigentlich immer jemanden gibt, der etwas von einem will. Und das hört auch so schnell nicht auf. Das geht bis dahin, dass die längst erwachsen gewordenen Kinder zu Weihnachten nach Haus kommen und wollen, dass sie es so vorfinden, wie wir es „schon immer“ gemacht haben“.

Auch diesen Kindern muss man sagen: „Das haben wir immer schon so gemacht“, so sehr dieser Satz zu Weihnachten in unsere Familien gehören mag, es ist nicht wirklich ein weihnachtlicher Satz. Denn für die Geburt des Gotteskindes müssen wir das erst recht sagen: Da ist anschließend gar nichts „wie immer“. Mit dieser Geburt soll kein Stein auf dem anderen bleiben. Soweit die äußere Ruhe einer Heiligen Nacht wie jetzt hier in St. Johannis den Gedanken erlaubt: Im Innern von Weihnachten feiern wir eine große Veränderung der Verhältnisse, feiern wir einen heiligen Umsturz von Gewohntem.

Das fängt schon vor Jesu Geburt an, bei Maria. Als sie ihrer Mutterschaft innewird, singt Maria davon, wir haben es vorhin gehört, wie Gott „die Gewaltigen vom Thron“ stürzt und „die Niedrigen“ erhebt. Sie selbst sieht sich in ihrer eigenen „Niedrigkeit“ von Gott „angesehen“. Man muss sich das vorstellen: Diese Frau kann nicht lesen und schreiben, darf nicht sprechen in Gottes Haus. Und sie singt das Lied von einem „Umsturz“. Sie ist keine, die alles „so wie immer“ mitmacht. Unerschrocken und leidenschaftlich kritisiert sie Unrecht und ungerechte Verhältnisse, redet vom Sturz der Gewalttäter. Sie hat den Mut der Frauen, die sich heute unter MeToo outen. Sie hat den Mut der 25-jährigen Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad, die in ihrer jesidischen Heimat von Extremisten entführt und gefoltert wurde und heute als Sonderbotschafterin der Vereinigten Nationen dafür kämpft, dass die Täter für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Maria hat den Mut jeder Frau, die sich das Wort nimmt, damit alles eben nicht „so wie immer“ weitergeht.

So fängt es vor der Geburt Jesu bei Maria an. Und es zieht sich hin bis zum Gesang der Engel auf den Feldern von Bethlehem. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Ja, wir geben Gott die Ehre durch unseren Gesang. Ja, wir geben Gott die Ehre durch alles, was wir ihm zur Ehre singen und sagen können. Hier in der Kirche, jetzt in dieser Nacht, an jedem Tag und zu jeder Stunde, wo wir Gottes Größe preisen und feiern. Aber wenn wir dem Gesang der Engel folgen, dann gehört jedes „Ehre sei Gott in der Höhe“ mit dem „Frieden auf Erden bei den Menschen“ zusammen.

Wer am Ende des Tages Gott im Himmel die Ehre zusprechen will, der muss allem Anfang von menschlichem Unfrieden auf der Erde widersprechen. Ehre geben wir Gott durch Widerworte gegen menschlichen Größenwahn. Von diesem menschlichen Größenwahn haben wir im vergangenen Jahr auch manchen „Gesang“ gehört. Da wird die Größe einer Nation wie als von „Gott gesetzt“ besungen. Da wird der absolute Anspruch einer Religion in den Himmel gehoben. Da wird mit einer Gen-Schere gefährlich Gott gespielt. Oder da wird allein allem Digitalen „die Zukunft“ zugesprochen. Nein, liebe Gemeinde, solchem menschlichen Größenwahn sind um der Ehre Gottes und um des Friedens auf Erden willen Widerworte zu geben. Und ich fürchte, das werden wir in den kommenden Jahren noch „ganz anders“ tun müssen.

Was uns dabei der Maßstab sein kann, das verbinde ich mit dem Gotteskind aus Bethlehem, dem wir heute zu Weihnachten wieder gegenüber treten. Jedes Kind auf dieser Welt ist ja immer schon so etwas wie ein gutes Gegenüber. Mit jedem Kind wird uns so etwas wie menschliche Besserungskraft beschert. Haben wir uns vorher auch um nichts einen Kopf gemacht, wenn aber Kinder in unseren Familien geboren werden, dann fangen wir an, uns um gesunde Ernährung zu sorgen. Oder wir fragen nach sauberer Luft. Wir sehen darauf, wie es um Bildungschancen für diese Kinder bestellt ist oder ganz allgemein um den Weltfrieden. Ich denke, wir Erwachsenen brauchen Kinder als Gegenüber, als gute Besserungskraft, um uns selbst besser zu erkennen und unsere Verhältnisse in bessere Ordnung zu bringen.

Als Menschen brauchen wir erst recht dieses in Bethlehems Nacht geborene Gegenüber, Jesus, den Christus. Denn ich darf das wohl von uns allen so sagen: Als Menschen neigen wir dazu, uns in unseren eigenen Möglichkeiten zu überschätzen. Oder wir unterschätzen uns. Nur selten trifft das Bild, was wir von uns zeichnen, ins Schwarze. Ein Gegenüber ist wichtig, um sich daran zu reiben und sich zu befragen. Ein Gegenüber, das mir eine Herausforderung setzt, wenn ich mal nicht mehr an mich glaube. Ein Gegenüber, das mich bremst, wenn ich es mit mir übertreibe.

Wir hören „Euch ist heute der Heiland geboren“. Und mit einem Mal sind wir da doch überhaupt nicht mehr „so wie immer“, sondern mit diesem Gegenüber auf einmal „ganz anders“.

Wir bereiten uns Geschenke, um einander zu bedeuten: Wir haben uns doch lieber als wir es das ganze Jahr über leben. Lass vergessen sein alle Nachlässigkeit!

Wir spenden etwas den Armen. Jede Spende ein Zeichen für das Wissen von der Unanständigkeit eigenen Prassens im Angesicht des Hungers.

Wir wünschen uns Frieden. Und kommen nicht herum um die Erinnerung, welchen Streit wir selber über Weihnachten mitschleppen oder gar frisch halten.

Wir besuchen und wir laden ein, wir suchen die Nähe. Auch das neue Smartphone stillt doch deinen Hauthunger nach einem anderen Menschen nicht.

Liebe Gemeinde, in allem „so wie immer“, das wir zu Weihnachten gern pflegen, weckt die Geburt Jesu in uns viel Geist und Phantasie, unser Menschsein noch einmal „ganz anders“ aufblühen zu lassen. Jeder weiß doch von sich: „Eigentlich bin ich auch ‚ganz anders‘, ich komme nur so selten dazu.“ Weihnachten ist die Gelegenheit. Gott kommt zum Menschen. Und der Mensch kommt zu sich. Du kommst zu dir.

Von welcher Unart will ich abkommen? Was in Sachen Liebe Neues anzetteln? Wen nicht mehr aus den Augen verlieren? Wem verlässlicher werden? Mit welcher Eselsgeduld soll mal Schluss sein?

Und wenn du dann merkst, du bist nicht nur ganz anders, sondern du kommst auch dazu, dann plötzlich wird gar nichts mehr „so wie immer sein“, sondern dann ist Weihnachten. Amen.

Ehre geben wir Gott durch Widerworte gegen menschlichen Größenwahn.

Dieter Rathing