Der Herr ist mein Hirte

Predigt von Landessuperintendent Dieter Rathing zur 30-jährigen Kirchweih der Schafstallkirche Munster am 28. April 2019

Liebe Gemeinde, jetzt sitzen Sie in Ihrer Geburtstags-Schafstallkirche unter den Balken mit dem Psalm vom Guten Hirten. Aus dem Evangelium haben wir die Worte vom Guten Hirten gehört, gesungen haben wir vom Guten Hirten eben gerade auch. Und jetzt frage ich mich, ob Sie in diesen Worten wohl etwas wiedererkannt haben aus Ihrer Geschichte mit dieser Schafstallkirche, die mit dem Hirtennamen besonders verbunden ist.

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …“ Vor gut 30 Jahren, da muss es der (damals noch) Kirchengemeinde St. Martin ja wohl doch „gemangelt“ haben. „Wir haben keine Kirche“, das wurde als Mangel empfunden. Oder positiv mit den Worten des damaligen Pastors Martin Köhn aus einer Predigt von 1986 zitiert: „Liebe Gemeinde, die Zeit ist gekommen, dass wir eine Kirche bauen.“

Und das „Bauen“ der Kirche, das Umbauen dieses Schafstalls in eine Kirche, das wurde dann zügig zur Tat. Ich habe die ganze Tatkraft von damals aus der kleinen Chronik herausgelesen, die Pastor Köhn erstellt hat. Weil wir heute hier unter uns sind, darf ich das mal sagen: Ich lese aus gegebenem Anlass öfter mal solche Kirchbau-Aufzeichnungen, älterer oder auch jüngerer Kirchen. Und die haben unter uns gesagt meistens eine begrenzte Spannungskraft. Man quält sich da eher durch.

Diese 30 Seiten dagegen habe ich in einem Rutsch runtergelesen. Das war spannend wie ein Roman. Schlag auf Schlag die Ereignisse des Fortschritts zu dieser Kirche. 13., 20., 21., 22., 25. Februar 1989 nur zum Beispiel: Wer sich da mit wem trifft, welcher Handwerker welchem anderen die Klinke in die Hand gibt, wie da die Entscheidungen fallen und Leute (zum Teil ziemlich spontan) mit anpacken, losgehen und losfahren, Pläne besprochen und umgesetzt werden. Und zum Ende hin immer wieder Sägespäne fegen, Saubermachen, Sägespäne fegen. Es liest sich, als wären da vor 30 Jahren welche – viele! – wie in einem Rausch gewesen, diese Schafstallkirche zu Stand und Wesen zu bringen. Die Zeit war gekommen, eine Kirche zu bauen.

Ob damals auch darüber diskutiert wurde, warum wir eine Kirche brauchen? Der gute Hirte weidet doch auf einer „grünen Aue“ … Und St. Martin konnte damals zum West-Fest doch auch Gottesdienst unter freiem Himmel feiern. Der gute Hirte führt doch zum „frischen Wasser“ … Und vielerorts feiern wir doch auch Taufen an einem „Wasser“, an Seen und Flüssen. Der gute Hirte führt doch „auf rechter Straße“ … Und in den Gemeindesaal von St. Martin sind die Menschen doch auch hingeführt worden. Und auch hier in Munster wird es welche geben, die am Sonntagmorgen den lieben Gott draußen beim Spaziergang suchen. Brauchen wir denn hier eine Kirche?

Jetzt muss man denen allen erst einmal Recht geben, die so fragen. Ja, der Gute-Hirte-Gott, der ist auch in Gemeindesälen oder in der Heide oder beim Spaziergang an der Örtze mit dabei. Und wenn du deine sieben Sinne beieinander hast, dann kannst du gewahr werden, wie tief der Himmel auf die Erde hinabreicht: Aus dem Grashalm, in der Erdkrume und mit dem kleinsten Regentropfen kannst du Gott schmecken, fühlen und riechen.

Deshalb konnte Abraham mit Gott unterm Sternenhimmel sprechen, deshalb konnte der biblische Jakob Gott gewahr werden, als er eine Nacht in freier Natur schlief, deshalb konnte Mose Gott in einem Dornbusch begegnen. Alles, was an Wiese, Wasser, Grün und Aue da draußen ist, sind Gottes heilige Orte, ist seine heilige Schöpfung, in der man ihn finden kann. Das weiß die Bibel, das weiß man in Munster. Aber zusammen mit der Bibel weiß man in Munster das andere: Alles Heilige braucht auch ein Dach über dem Kopf. Deshalb baut Mose mitten in der Wüste ein Zelt, Jakob legt den Grundstein für ein Gotteshaus und Salomo baut einen Tempel. Und St. Martin baute eine Kirche.

Alles Heilige braucht ein Dach über dem Kopf. Und vielleicht sehen Sie sich jetzt mal um und gucken mal nach, wo denn wohl das Heilige in dieser Kirche zu finden ist. Die einen werden vielleicht dort zum Kreuz hinsehen, die anderen mit ihren Augen am Altartisch darunter hängen bleiben. Die dritten werden die St. Martin Figur zum Heiligen rechnen wollen oder die Krippe, wie sie hier dazugehört. Aber vergessen Sie das bitte. Vergessen Sie bitte den Gedanken, hier in dieser Kirche könnte ein Stück Geschnitztes, ein Balken Holz oder irgendeine Figur „heilig“ sein. Diese Kirche ist auch nicht heilig, weil sie am 9. April 1989, dem Sonntag vom guten Hirten, geweiht worden ist.

Diese Kirche ist erst heilig geworden. Sie ist heilig geworden durch die Menschen, die hier ein- und ausgegangen sind. Ihr habt diese Kirche in den vergangenen 30 Jahren erst heilig gemacht.

Hier hast du dein Gebet gesprochen, und hierher hast du dein Kind zur Taufe gebracht. Hier hast du Treue geschworen. Eure Toten habt Ihr hier beweint und Eure Konfirmanden unter Gottes Segen gestellt. Das Glück der Jubilare schwebt in diesem Raum, und die Seufzer der Bedrückten tun es auch. Eine Not ist dir hier zu Herzen gegangen, und das eine Wort hast du hier gehört, das dir zum Trost geworden ist. Mit der Melodie eines Liedes bist du hier heraus gegangen, das Lachen der Kinder war Euch hier schon viele lebendige Feiern wert. Dein Nachbar hat hier sein Schicksal geklagt. Eure Großeltern haben hier ihr letztes Gebet gesprochen. Ein Händedruck, den du von hier aus mitnahmst, war stärker als dein Zweifel, den du mitgebracht hattest. Die Gewissheit aller Glaubenden hat hier ihr Dach und deine Ahnung auch: Hier fällt meine Träne ins Gewicht, hier kann ein einziger Gedanke starke Kraft bekommen und meine Sehnsucht Flügel. Ein Choral kann hier zur Lebensmelodie werden und das Wort Jesu zum Licht in manchem Dunkel.

Als Kinder Gottes, als Schwestern und Brüder Jesu, als welche, die den Nächsten nicht übersehen und den Fernsten nicht vergessen, habt ihr diese Kirche heilig gemacht. Und die, die jetzt über 30 Jahre hinweg hier hereinkommen, um mit Gott zu ringen oder um ihn zu loben, finden ihr Dach, unter dem sie die Worte vom Guten Hirten nachsprechen können: Die Seele erquicken …, kein Unglück fürchten …, du bist bei mir …, dein Stecken und Stab …, Haus des Herrn immerdar.

Liebe Gemeinde, jetzt habe ich davon gesprochen, was an Gebet und an Gesang, an Glauben und Geistlichem in diesem Gebäude steckt. Der Gute Hirte steht nicht nur auf den Balken, der Gute Hirte tut damit wahrhaftig hier drinnen seinen Dienst. Er tut seinen Dienst hier drinnen aber noch auf eine andere Weise als durch den Glauben, durch Gesang und Gebet. Wenn Sie einmal genau auf die Worte vom Guten Hirten im 23. Psalm achten, dann ist da ausdrücklich und beim Namen genannt von Gott gar nicht durchgängig die Rede. Nur im ersten und im letzten Satz ist „der Herr“ genannt. Und dazwischen wird ganz viel davon gesprochen, was dieser „Herr“ alles für uns tut. Das Weiden und das Zum-frischen-Wasser-führen, das Salben, das Erquicken, das Tischdecken und das volle Einschenken. Man könnte denken, da ist gar nicht von Gott, sondern vielmehr von einem Gastwirt die Rede.

Und das ist auch gar nicht falsch. In einer alten Schweizer Bibel, habe ich gelesen, werden die Psalmworte so übersetzt „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde und schenkst mir schwibbeli-schwabbeli voll ein. „Schwibbeli-schwabbeli“ voll eingeschenkt …- so wie einen ganz und gar nicht geizigen Gastwirt, so sollen wir uns Gott offenbar auch vorstellen. Einer, der mit dem Herzen ganz dabei ist, wenn es uns gut geht und wir genießen können, wenn er uns einschenken kann.

Das ist nun eine Seite, die wir in unseren Kirchen, wie ich finde, ruhig öfter einmal laut aussprechen dürfen: Unser Glaube hat etwas mit Lebensfreude zu tun, mit der Freude am Essen und am Trinken, mit der Freude daran, sich zu bewegen und schöne Stunden zu erleben. Und vielleicht kann man gar nicht richtig an Gott glauben, wenn man nicht auch die Freuden dieser Welt genießen kann. Gott hindert uns jedenfalls nicht daran. Er ist kein missgünstiger Neider, der uns die Leckerbissen in den Mund zählt. Und er guckt nicht griesgrämig auf „irdische Freuden“.

Deshalb hat denn auch das Essen und das Trinken rund um diese Schafstallkirche seinen Platz und in einem Gottesdienst mit dem Abendmahl auch. Es muss uns tief durch alle Poren hindurchgehen, dass wir es in uns tragen und nie mehr vergessen: Der Gute Hirte, das ist der ganz und gar großzügige Gastwirt dieser Welt!

Und je tiefer wir alles Schöne und Freudige in unseren Glauben hineinkriegen, desto weniger werden wir die Orte vergessen, von denen der Psalm vom Guten Hirten dann auch spricht: Finstere Täler auf dieser Welt, durch die Menschengeschwister hindurch müssen. Mitmenschen, die Unglück fürchten. Männer, Frauen und Kinder, die gezwungen sind, im Angesicht von Feinden ihr Brot essen. Oder Christengeschwister, die ihre Kirche brennen sehen müssen, wie gerade erst in Paris. Wenn wir dankbar sind für das Dach über dem Kopf, das wir haben, beten wir für jene, die ihr Dach über dem Kopf verloren haben oder nie eines hatten. Wenn wir es uns gut gehen lassen können, dann geht das nur mit dem Geben für die, denen es nicht gut geht.

Mein letzter Gedanke ist dem Weg verbunden, den der Psalm vom Guten Hirten zeichnet. Sie erinnern sich: Am Anfang ist da von der weiten Natur die Rede, von der Wiese, vom Wasser, von Straßen und Tälern. Am Ende kommt der Psalmbeter mit seinen Gedanken aber in einem Haus an. Am Ende heißt es: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Der Psalm vom Guten Hirten ist so angelegt, dass er uns gewissermaßen von draußen nach drinnen zieht, vom einem weiten Horizont in feste vier Wände. Und darin steckt eine tiefe Wahrheit.

Denn bei aller Bewunderung, die wir für die „grüne Aue“ und das „frische Wasser“ haben können, die „schöne Natur“ trägt ja auch das Gegenteil in sich. Was wir eben noch idyllisch fanden, produziert schlimme Katastrophen. Dasselbe Wasser, das uns eben noch getragen hat, bringt Wellen, die beschädigen und töten. Und der „liebe Gott“ in der Natur kann mir ganz schön vergehen, wenn ich gewahr werde, dass ihm offenbar ein böses Bakterium, ein verrücktes Virus wichtiger zu sein scheint als der liebste Mensch an meiner Seite. Der Natur, die uns manchmal so wunderbar entgegen kommt, dieser Natur sind wir zu anderen Zeiten ziemlich egal. Es antwortet dir auf viele deiner Fragen kein noch so schöner Sonnenuntergang. Manchen Lebenssinn, den du brauchst, tut dir keine Wiesenblume kund. Wie wichtig und wert der Mensch neben dir ist, das singen dir nicht Amsel, Drossel, Fink und Star.

Dann kommt es darauf an, dass du den Weg von draußen nach drinnen findest. Dahin, wo die Flamme einer Kerze ihre Sprache sprechen kann. Dort, wo keine Stimme vom Winde verweht. Wo die leise menschliche Sprache zu Hause ist. Wo Gott zu dir spricht durch den Atem eines Menschen. Wo er spricht durch den Glanz der Augen, die dich ansehen, wo er dich berührt durch Zärtlichkeit der Hände, wo du hörst, was Gott dir nicht durch „grüne Aue“ und „frisches Wasser“ sagen kann: Geliebtes Kind. Einzigartiger Mensch. Wichtig und wertvoll, heute und morgen, bis in Ewigkeit. Die Stimme des Vaters, der durch den Sohn Jesus Christus zu seinen Kindern auf dieser Welt spricht.

Den Weg, ihn zu hören und seine Worte nie mehr zu vergessen, diesen Weg möge die Schafstallkirche vielen Menschen weisen. Amen.