Rathing: "Alles auf Anfang mit diesem Kind"
Predigt von Landessuperintendent Dieter Rathing in der Christmette am 24. Dezember 2019 in St. Johannis, Lüneburg
Liebe Gemeinde der Heiligen Nacht, für mich ist das alle Jahre wieder: Ganz großes Kino. Der alte Lukas ist einfach ein hervorragender Drehbuchschreiber. Das macht ihm in Hollywood keiner so schnell nach. Eine Geschichte, die seit Jahrhunderten läuft und einfach nicht abgesetzt wird.
Am Anfang im Weitwinkel die globale Perspektive: Kaiser Augustus, ein Gebot geht von ihm aus, dass alle Welt geschätzt würde. Dann der Zoom auf Nazareth: Da macht sich auf auch Josef, unverheiratet mit Maria, sie ist schwanger. Eine Frau und ein Mann: Komplizierte Beziehung, prekäre Verhältnisse; es kommt die Zeit, dass sie gebären soll. Dramatisch: Kein Raum in der Herberge. Dann Szenenwechsel: Dunkel über den Feldern. Blendendes Licht. Wer nicht weiß, wie die Sache ausgeht, könnte meinen, das ist das Ende. Dann die erlösende Stimme aus dem „off“: „Fürchtet euch nicht!“ Wenn Sie mich fragen: Ganz großes Kino ist das.
Jedes Weihnachten diese starken Szenenfolgen. Jedes Jahr dieselben Worte und doch jedes Jahr wieder neu. Neu wohl auch, weil wir, die diese Worte hören, weil wir selbst jedes Jahr Veränderte sind. Wir sind ja andere geworden. Wie war das noch vor einem Jahr? Hat sich eine Hoffnung zerschlagen? Oder eine neue Liebe ist aufgetaucht? Welche Kratzer hat’s gegeben? Musstest du von einem Menschen Abschied nehmen? Oder hast du einen Rhythmus, den guten Gleichklang gefunden?
Wir sind jedes Weihnachten Veränderte. Und die Welt, in der wir diese Geschichte von Jesu Geburt hören, ist eine veränderte. Ich habe mir vor einem Jahr nicht vorstellen können, mit welchem Hass ein Einzelner mit inszenierter Live-Übertragung andere Menschen des Glaubens umbringen kann – in zwei Moscheen in Christchurch im März. Welchen Angriffen und Tötungsabsichten Menschen in unserem Land ausgesetzt sind, die den jüdischen Glauben des Juden Jesus teilen – nicht nur in Halle im Oktober. Wie weit politische Machtgedanken über die Stränge schlagen – eines Politikers auf Ibiza oder bei einem amerikanischen Präsidenten. Und welche gespenstischen Prognosen für diese Erde sind in den vergangenen zwölf Monaten gewachsen! Und aus der jungen Generation demonstrieren sie mit Wut auf uns Ältere.
Es war ja in diesem Jahr mehr als einmal so, als hätten wir zusammen gerade mal wieder in einem ganz schlechten Film gesessen. Der Brand von Notre Dame, Überschwemmung in Venedig, Fluten in England, die Buschfeuer in Australien, und überall die Menschen wie hilflose Statisten ohne Einfluss auf die Regie. Und mancher mag das heute Nacht auch ganz persönlich für sich so sagen können, so sagen müssen: „Statist in einem schlechten Film“, Getriebener in einer Szenenfolge, die man sich nicht ausgesucht hat, Mitspieler in einem Stück Leben, bei dem du eigentlich gar nicht dabei sein willst.
So möge es Mut machen und tröstlich sein, dass in all den Veränderungen, die wir erleben, diese Bethlehemgeschichte aus dem Evangelium uns ganz unverändert und zuverlässig über die Jahre hin begleitet. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …“ Es ist Weihnachten!
Wie tief uns dieses Fest ganz persönlich begleitet, das merken wir an den Erinnerungen, die es jedes Jahr wieder in uns auslöst, an die eigene Kinderzeit, an das Kind, das man einmal war. Die ganze Fülle von Erwachsenenjahren kann das nicht verdecken. Du wickelst die Krippenfiguren aus dem Papier, du steckst die Kerzen an den Baum, oder dir begegnet ein ganz bestimmter Duft, du hörst „Stille Nacht“, oder du singst „O du fröhliche“. Und über alles hinweg, was sich um dich herum verändert hat: Der ganze Film ist wieder da, die vertrauten Szenen, dasselbe Gefühl. Der Anflug von Freude, diese Sehnsucht nach Gutsein, stolperndes Herz, dünne Haut für eine Not, Sympathie für dieses Kind, ergriffenes Staunen vor der großen Botschaft: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“
Es war und es bleibt etwas ganz Großes, dieses Kind aus der Krippe zu feiern, seine Geburt zu besingen, seine Worte zu hören, sein Tun zu besehen und sein Sterben zu bedenken. Auch mit all dem, was du davon immer wieder nicht verstehst. Vielleicht „noch nicht“ verstehst, weil du das Gefühl hast, dein Glaube steckt irgendwie immer noch in seinen kleinen Kinderschuhen. Oder vielleicht „nicht mehr“ verstehst, weil dein Kinderglaube mit all den großen erwachsenen Fragen nicht fertig geworden ist.
Alles „noch nicht“ und alles „nicht mehr“, jedes Weihnachten steigt es auf, fängt wieder neu in uns an. Weihnachten geht alles „auf Anfang“. „Alles auf Anfang“, in der Filmsprache meint das den Neubeginn einer Szene, die schon mehrfach gedreht wurde. Mit „Alles auf Anfang“ sagt der Regisseur allen Beteiligten, sie sollen bereit sein zum nochmaligen Neubeginn. Weihnachten setzt Gott „alles auf Anfang“. Er tut das mit einem Kind.
Wie könnte etwas besser anfangen als mit einem Kind? Wie könnten wir besser anfangen als mit einem Kind? Wir können groß werden mit ihm. Vertrauen kann groß werden mit einem Kind. Glaube, Liebe und Hoffnung können groß werden mit einem Kind. Mit wem denn sonst? Mit diesem Kind, das aus der Krippe heranwächst. Mit welchem denn sonst?
Wer sonst hat größeres Vertrauen in uns Menschen als er, der uns selig spricht, wo wir zum Frieden beitragen. Ja, das können wir. Das kann jede und jeder von uns: Zum Frieden beitragen. Wer anderes als er hatte einen schöneren Glauben als den, der so schlicht beten kann: „Vater unser im Himmel …“ Das kann jede und jeder von uns: „Vater unser im Himmel …“ Keiner doch mit größerer Liebe als er, der auch den anders Denkenden, der auch den anders Tuenden, der auch einen „Feind“ noch mit in diese Liebe hineindenken kann. Keiner doch mit einer größeren Hoffnung als der, der uns sagt: Hey, es gibt nicht nur den Himmel, aus dem dir der Regen auf dem Kopf fällt. Es gibt auch den Himmel noch, in dem alle deine Tränen getrocknet werden, wo keine Klage, kein Leid, kein Geschrei mehr sein wird.
Und jetzt könnte es von unserer Seite her doch gar nichts Besseres und doch gar nichts Schöneres geben, als diesen einen Menschen mit seinen Worten und Taten groß werden zu lassen und groß zu machen. Ganz groß von ihm zu denken und ganz groß von ihm zu reden. Und was tun wir? Wir nuscheln eher rum, statt klar von ihm zu sprechen. Wir verkrümeln uns lieber, als mit ihm ins Bild zu kommen. Wir drucksen uns weg, wo wir in seinem Licht stehen könnten. Alles in allem geben wir in dem großartigen Film seines Lebens eher die tollpatschigen Statisten ab, die nicht recht wissen, mit wem sie da eigentlich zusammenspielen.
Und wenn ich „wir“ sage, dann schließe ich mich damit ein, dann schließe ich auch „unsere Kirche“ damit ein. Ich habe mich in diesem ausgehenden Jahr mehr als einmal gefragt, wo ich als „Kirchenmensch“, wo „wir“ als Christen in diesem Land, die sich ja nach diesem Christus nennen, seinem Glauben, seiner Liebe und seiner Hoffnung mehr im Wege gestanden haben als diesen Glaube, als diese Liebe und diese Hoffnung zum Leuchten zu bringen.
War es wieder mal das Überborden von bürokratischem Gehabe? War es, wo ich betreten geschwiegen oder da, wo ich belanglos gequatscht habe? Zu wenig gebetet und zu viel getan? Oder zu viel gebetet und zu wenig getan? Oder war es diese unselige Diskussion, ob wir als Kirche wirklich mithelfen, Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten? Geht das: Mit diesem Jesuskind aus Bethelehems Krippe groß werden wollen und Menschen ertrinken sehen und ihnen nicht helfen wollen? Den Kindern und Jugendlichen auf Lesbos? Der Blick auf das Kind in der Krippe stiftet doch zu solchen Fragen an!
Und wer jetzt meint, liebe Gemeinde, solche Fragen seien vielleicht etwas groß für die Heilige Nacht, der kann kleiner anfangen. Es muss ja nicht dieses Kind Jesus sein. Wir können auch mit unseren Kindern anfangen und uns dasselbe fragen. Können wir das mit unseren Kindern? Noch mal groß werden mit ihnen? Das ganze Jahr über haben sie uns ja mit großen Augen angesehen und uns das gefragt: „Könnt ihr noch mal großwerden mit uns?“ Könnt ihr noch mal mit den Augen von Kindern und Jugendlichen diese Erde sehen. Diese Erde, wie sie aussehen wird in 30, in 50 oder 80 Jahren? Mit den Temperaturen dann und den Wasserständen der Meere? Mit den dann noch verbliebenen Arten und Ressourcen? Könnt ihr noch mal großwerden mit uns?
Großwerden mit unseren Kindern, liebe Gemeinde, das heißt, ihrem Vertrauen in die Zukunft unserer Erde nicht im Wege zu stehen. Mit dem Glauben, den wir ihnen weitergeben, mit der Liebe, die wir ihnen schenken, mit der Hoffnung, die wir ihnen nicht rauben. Und wenn uns auch nur etwas davon gelingt, wenn wir auch nur einen kleinen Dreh dahin kriegen, dann werden aus tollpatschigen Statisten mit einem Mal großartige Akteure. Und ganz Hollywood wird neidisch auf uns sehen. Denn wir machen’s ja nicht zur bloßen Unterhaltung. Wir machen’s auch nicht für Geld, nicht für Instagram oder Twitter.
Wir machen’s, weil wir vom alten Lukas nicht loskommen. Wir setzen seine Geschichte, die seit Jahrhunderten läuft, heute und morgen ganz unbeirrt weiter fort. Das Drehbuch ist schon geschrieben. Für die einen und für die anderen. Doppelrollen nicht ausgeschlossen. Und die einen werden dann gut sein für alles, was im Weitwinkel liegt. Sie werden die globalen Perspektiven im Blick haben, aufmerksam sein für das, was für diese Erde geboten ist und in Zukunft vielleicht auch nicht mehr geboten sein wird. Die anderen werden die komplizierten Beziehungen und prekären Verhältnisse unter uns nicht scheuen – in Partnerschaften und Familien, zwischen Einheimischen und Fremden. Und wo’s dramatisch werden sollte – „Keinen Raum in der Herberge“ –, da werden die Dritten nötig sein. Die alte „Herberge zur Heimat“ in Lüneburg braucht auch neuen Raum.
Und wenn es dann hier oder da in einer Szene mal „dunkel über den Feldern“ werden sollte und du nicht weißt, wie die Sache ausgeht, und wir alle das nicht wissen, dann mögen wir uns erinnern der erlösenden Stimme vom Himmel aus dem „off“: „Fürchtet euch nicht!“, denn euch ist heute ein Kind geboren. Und dann: „Alles auf Anfang“ mit diesem Kind. Mit wem denn sonst?! Für unsere Kinder. Für wen denn sonst?! Amen.