Toleranz im Spiegel der Kirchengemeinden

Vortrag von Akademie-Direktor Dr. Stephan Schaede (Loccum) beim Generalkonevnt des Sprengels Lüneburg am 25. September 2013 in der Lobetalarbeit Celle

 

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir drei Vorbemerkungen:
1. In Celle über Toleranz vorzutragen ist delikat. Denn dieser Ort steht ja für Vieles, aber nicht für eine ausgebaute Toleranz. Ich sage nur: Stadtgefängnis statt Universität. Beamtenmentalität – stolz darauf, Welfendynastien zum Aufstieg verholfen zu haben, die nun auch nicht als Ausbund an Toleranz in die Geschäftsbücher eingingen. Was also soll aus Celle Tolerantes kommen?

2. Mein Thema lautet: Toleranz im Spiegel der Gemeinden – was aber sehen wir da, was sehen Sie da? Mit Spiegeln ist das so eine Sache. Gerade dann, wenn ein Mensch stark verwurzelt ist in einem Kontext. Was sieht er da noch? Und mit welchen Augen schaut er drauf. Mit müden feuchten Augen langjähriger pastoraler Liebe, die lauter abgestumpfte Toleranzecken produziert. Ich räume ein, die geistlich matten Spiegel die ordnet unserer Landeskirche eher den Südniedersachsen zu. Die Erweckungsbewegung wurde jedenfalls erfolgreich den Solling- und Harzabhang wieder hinuntergeprügelt. Hingegen in den sanften Endmoränen m die Lüneburger Heide herum. Da spiegelt sich noch viel Glauben – glitzernd geradezu, voller glänzender Andacht. Wie tolerant diese Spiegelungen sind, das wissen sie allerdings besser als ich.

Das blöd schwierige an Spiegelungen ist aber auch, dass es sehr auf den Winkel ankommt, mit dem sie in den Blick genommen werden. Mit etwas Pech gibt’s geradezu bei einem steilen thematischen Zugang gar nichts zu sehen. Auf die Schwierigkeiten des Spiegelns hat einst ein Galgenlied aufmerksam gemacht. Und Galgenlieder passen hervorragend in die Stadt des wichtigsten niedersächsischen Oberlandesgerichtes. Dieses Galgenlied geht wie folgt:

Ein blonder Korke spiegelt sich in einem Lacktablett.
Allein er säh sich dennoch nicht, selbst wenn er Augen hätt.

Sie sehen, da ist wenig zu spüren von Toleranz gegenüber nachhaltig zu behandelnder Natur. Kein Recylingverschluss. Nein ein kostbarer Korke wurde offenbar für eine Flasche vergeudet, um sich in einem spätbourgiosen Einrichtungsgegenstand zu spiegeln, einem Lacktablett. Könnte gerade aus dem zweiten Stockwerk des Celler Schlosses kommen. Bevor wir übermütig werden und behaupten, in Celle sähen selbst sehende Korken nichts, widmen wir uns lieber dem analytischen Teil des Galgenliedes.

Das macht, dieweil er senkrecht steigt hinan zu seinem Spiegelbild.
Wenn man ihn freilich etwas neigt, zerfällt was oben gilt.

Das macht – also der Umstand, dass der Korke nichts sieht, wenngleich er Augen hätt, ist ein einer senkrecht viereckigen, man könnte sagen, stramm lutherischen Perspektive begründet. Die machen offenbar nicht sehend.

Aufklärungsbewusst fährt das Galgenlied fort, dass Neigungswinkel hilfreich sind. Es muss ja nicht gleich eine incurvatio in se ipso sein. Aber ein bisschen Neigung kann dem Christenmenschen nicht schaden, denn sie sorgt dafür, dass
„zerfällt, was oben gilt“ und lässt etwas sehen.

Anschrägen der Perspektive macht sehend. – Also wenn wir das Toleranzthema wirklich über langweilige Klischees hinaus führen wollen, also über einen Austausch über interreligiöse Gemeindenachmittage mit Backlabaessen mitten unter verschleierten türksichen Damen, Zirtaktitanzen im Chorraum, Popmessenlust und verrapte Psalemn hinaus, dann brauchen wir gewisse ungewohnte Neigungswinkel der Betrachtung. Denn das Galgenlied endet:

Oh Mensch gesetzt Du spiegelst Dich, im sagen wir im All, und senkrecht, wärest Du dann nicht ganz in demselben Fall?

Der schöne Sprengelgeneralkonvent von Lüneburg, dieses All an Frömmigkeitsperspektiven, wie bekommen wir da Sichtneigungen rein?

Das führt mich zur dritten Vorbemerkung:
Ich hatte am Epiphaniastag das Vergnügen in Lüneburg einen Toleranzvortrag zu halten. Da behauptete ich der Rücken der Toleranz sei schmal und die Kunst sei es, das Toleranzpferd zu reiten. Ein Bild, was schön zur Celler Hengstparade passen würde. Diese herrlichen Toleranzvierspänner, die sicher in der Kutsche sitzend empfehlen, im multikulturellen Geist postsäkularer Zeiten eine religionsplurale Ausfahrt zu machen ... Damit ließe sich etwas zeigen. Das spiegelt schon etwas. Aber ich würde die Lüneburger zu Tode langweilen. Also schluss mit springenden Gäulen. Ein anderes Tier muss her, eines, das nach Niedersachsen passt – mit seinem Jagd und Entdeckerfieber. Und das ist ja wohl
der Hund.
Ich möchte mit Ihnen deshalb in der kommenden guten halben Stunde darüber nachdenken, welche Toleranzmaulkörbe der Protestantismus verpasst, und von welchen er befreit. Kurz: Toleranz und Tabus im Spiegel der Kirchengemeinde. Ich hoffe, dass diese nicht eben pietismusverdächtigen Anschrägungen des Toleranzthemas etwas sehen lassen.

Und so gehe ich mitten rein in das Thema und freue mich am ersten Eintrag bei Google zu Maulkörbe, der da lautet: „Maulkörbe – Jetzt online bei Fressnapf kaufen“! Ein Spötter könnte dazu sagen: Wenn es doch so etwas für Protestanten auch gäbe. Bei aller Neigung zu kollegialer Nächstenliebe hier im Raum, manchmal käme diebische Freude auf, gäbe es einen Maulkorb für liebe Mitmenschen und Kollegen, so ein Luxusmodell mit Lutherrosen an den Seiten, das sie aber still werden lässt, Störungen vermeidet und nur noch ein leises fast liebevolles Knurren oder zärtliches Jaulen über die Grenzen der Nachbargemeinde hinwegschicken lässt. - Nun habe ich weiter recherchiert: Immerhin gibt es die Firma „Zooplus“. Plus bedeutet jedoch, wie ich feststellen musste, nicht: Der Zoo plus jene, die nicht mehr zur Zoologie zählen und also in den Einzugsbereich der Anthropologie gehören.

Nun ist es freilich so, dass es sie in unseren Reihen durchaus gibt, die Maulkörbe. Nicht aus Leder, Draht oder Nylon gemacht. Diese Maulkörbe bestehen aus anderen überaus robusten Materialien: dem Material Angst, dem Material professionelle Nächstenliebe, dem Material der political correctness. Und Ihnen werden andere Materialien einfallen, mit denen wir uns dies und jenseits unserer Kirchengemeinde in bester Absicht oftmals Maulkörbe verpassen und uns den Zugang zu evangelischer Freiheit in aller Öffentlichkeit verstellen.

Noch einmal: Tabu und Toleranz- welche Maulkörbe verpasst, und von welchen befreit der Protestantismus heute? Ich werde im folgenden so vorgehen, dass ich eine kleine Maulkorbkunde vorwegschicke. Es folgt eine kurze Markierung, was ich unter Tabu verstehe. Und dann gehe ich auf das zentrale dialektische Gegenüber ein, die Toleranz. Damit komme ich zum Zentrum meiner Überlegungen. In vier Punkten werde ich zunächst fragen, was Toleranz überhaupt mit dem Protestantismus zu schaffen hat, zweitens skizzieren, was für Toleranz konstitutiv ist, drittens die Pointe eines protestantischen Toleranzverständnisses ausleuchten, um viertens einige Punkte anzusprechen, in denen in meinen Augen im Protestantismus Maulkörbe verhängt und von denen befreit wird.


I. Eine kleine Maulkorbkunde

Zunächst die Maulkorbkunde. Ich lege die so an, dass ich den Nutzen dieser kurzen zunächst Tierhaltungsfragen betreffenden Kunde für unsere Fragestellung anreiße.

1. Maulkörbe sind dazu da, um das Beißen zu verhindern. Sie werden also da verhängt, wo Aggressivität lauert, wo aus allerinnerster Motivation heraus zugebissen würde. Also zu behaupten, Maulkörbe gibt es nicht: oder: Maulkörbe brauchen wir nicht, das leugnet den Umstand, dass es in einer Kirche Aggressivität geben kann. Ich meine, es ist deshalb gut diese Körbe oder ihre Notwendigkeit vielleicht sogar beim Namen zu nennen.
Maulkörbe haben eine nur äußerliche Einhegungsfunktion. Sie stehen für unbearbeitete Aggressivitätsunterdrückung. Sie sind Instrumente wirksamer Verdrängung. Sie gehen metaphorisch verstanden mit Rede- und Sprechverboten einher. Wir Protestanten, wir kirchlichen Mitarbeiter sind natürlich nicht aggressiv. Der Maulkorb der Nächstenliebe löst da einen wahren Schauer voll wechselseitigen Respekts und Toleranz aus: Wir achten uns. Wir wertschätzen uns. Wir lieben uns. Die Hauptamtlichen freuen sich an der Schar der Ehrenamtlichen. Und die Ehrenamtlichen sind den Hauptamtlichen zutiefst dankbar, dass es sie gibt. - Es wäre spannend, wenn uns nachher gelänge, hier offen miteinander zu reden und zu werden.
2. Maulkörbe sind so geformt, dass Trinken immer möglich ist. Das mit Maulkörben gesegnete Tier muss also nicht verdursten, auch wenn es keinen Biß hat. Sören Kiergekaard hat in seiner Einübung ins Christentum diesen Zustand des Luthertums scharf kritisiert. Es gebe reichlich zu trinken, durch die naturwüchsigen Lederriemen des lutherischen Maulkorbes hindurch. Und so komme es zu einer Art gesegnetem Wohlstand voller Beißhemmungen. –– Wie aktuell ist diese Beobachtung heute: Treten wir so mit unseren Institutionen in der Öffentlichkeit auf? Sind wir klar, oder haben wir vielleicht, und hier käme der Maulkorb der Angst ins Spiel, Sorge, dass bei zu großer Klarheit uns Kirchenaustritte blühen oder wir bei Institutionen des öffentlichen Lebens in Ungnade fallen, deren Gunst wir aber meinen dringend zu brauchen?
3. Es gilt: Je schwerer der Hund und je höher das Schultermaß, desto eher und früher muss ein Maulkorb angelegt werden. – Hier sage ich nur: Keine schöne Nachricht für die Kirchenleitung! Je herausgehobener die Stellung, desto mehr muss links und rechts geschaut werden und wird der Maulkorb der political correctness fester gezurrt: Ich behaupte: Im Zweifelsfall ist es für einen Landesbischof oder einen EKD-Ratsvorsitzenden sehr viel schwerer als für eine Pastorin oder Pastor aus seinem auch schon einmal mit guten Gründen intoleranten Herzen keine Mördergrube zu machen. –Wenn Sie andere Erfahrungen gemacht haben, bin ich auf ihren Widerspruch in diesem Punkt umso neugieriger.
Mit dem 4. Punkt komme ich auf unsere Region zu sprechen:
4. Bei niedersächsischen Diensthunden wird ein verstärkter Maulkorb eingesetzt. Vielleicht wird das noch einmal interessant für das Verhältnis von Haupt- und Ehrenamtlichen. Ich füge schon gleich hinzu: Der dienstliche Maulkorb wird nur deshalb verbunden, damit die Diensthunde einen Täter „mittels Angriffen auf den Brust- oder Rückenbereich“ überwältigen können. Der Maulkorb macht also, das ist die entscheidende Nachricht an die Hauptamtlichen keineswegs wehrlos.
5. Ein Maulkorb muss durch Fachleute ordentlich angepasst werden. Wer ist - das frage ich hier sogleich – das Subjekt, das im Raum des Protestantismus Maulkörbe anpasst? Haben wir heimliche oder offizielle Experten dafür? Im Falle der katholischen Kirche wäre diese Frage vielleicht einfacher zu beantworten. Da gibt es das Lehramt. Da werden Entscheidungen, die an der Basis getroffen werden, auch schon einmal kassiert. – Wie ist das bei uns? Hier lohnt es aber auch die gesellschaftspolitischen Verhältnisse insgesamt anzuschauen: Schopenhauer urteilte, der Staat müsse den „Raubtieren“ einen „Maulkorb“ umhängen, um sie „unschädlich wie ein grasfressendes Tier“ zu machen. Rüdiger Safranski hat dieses Diktum neulich auf die Finanzkrise bezogen. Es könnte ja sein, dass der Protestantismus aufgrund seiner Kompetenz an manchen Stellen zu Recht Mächten, die aggressiv nur auf das Ihre schauen, Maulkörbe umhängt, um Raubtiere unschädlich zu machen. Welche Mächte sind das? Und welche Maulkörbe stehen zur Verfügung? Nutzen wir sie in unserer Arbeit in der Gemeinde?
6. Es gibt tolerantere Maulkörbe, die Hecheln erlauben. Und es gibt Maulkörbe, die das Hecheln des Hundes durch eine Maulschlaufe verhindern. Maulkörbe, die das Hecheln behindern, führen zur Überhitzung. Hier ist die Frage: Laufen wir Gefahr, in bestimmten Themenzusammenhängen zu überhitzen, weil wir uns nicht einmal mehr erlauben, intern Luft zu machen?
7. Der Hund, dem man einen Maulkorb anlegt, bellt mit dem Hintern, urteilt Heinrich Heine in seinen Aphorismen und Fragmenten. Dieses Bild zeigt. Maulkörbe sind Unterdrückungsinstrumente. – Die unterdrückte Aggression tobt sich an anderer, keineswegs vornehmerer Stelle aus. Es kommt dann zu Stellvertreterauseinandersetzungen – und die Herausforderung, die eigentlich bearbeitet werden sollte, bleibt unerledigt. – Wo sehen Sie in ihren Gemeinden solche Kompensationskonfikte?
8. „Die meisten Maulkorbträger sind davon überzeugt, sie trügen Visire“, schrieb der polnische Literat Stanislaw Jerzy Lec. Das ist eine Lektion an unsere Selbstwahrnehmung: Merken wir überhaupt noch, wo wir Maulkörbe tragen? Machen wir uns was vor, und meinen mit Visier geschützt streit- und konfliktlustig zu sein? Und der Streit und der Konflikt, die Kontroverse ist nun einmal ein zentrales Moment reformatorischer Frömmigkeit, die in der Öffentlichkeit für mehr Wahrheit, für mehr Verlässlichkeit und Gradlinigkeit sorgen möchte.
9. „Wer dem Volk aufs Maul schaut, nimmt vielleicht nur Maß für den Maulkorb“, sagt der Sänger Kurt Böhme. Eine echte reformatorische Zitatohrfeige ist das. Wo antichambrieren wir mit dem Ton unserer Umgebung, um gesellschaftliche Strömungen oder das Kirchenvolk handzahm zu machen und den Verstand durch kluge Rede systematisch zu verhängen?
10. „Moral ist ein Maulkorb für den Willen, Logik ein Steigriemen für den Geist“, meinte Franz Grillparzer. Hier kommen wir eindeutig auf jene Maulkörbe, die der Protestantismus der Öffentlichkeit verpasst, im Namen evangelischer Ethik. Worüber soll geschwiegen werden, was soll gar nicht erst gewollt werden? Ich markiere hier nur: Überall da, wo in kirchlichen Stellungnahmen vom Dammbruch die Rede ist, der durch ein bestimmtes Gesetzesvorhaben ausgelöst werde, ist der Maulkorb des Willens nicht fern. – Konkret in Niedersachsen: Wäre die Devise: In Gorleben wird es kein Endlager geben dürfen und können, ein politischer Maulkorb? Auch in der öffentlichen Kommentierung der Massentierhaltung in Niedersachsen sind wohl eine ganze Reihe Maulkörbe unterwegs ...
Damit komme ich zum Tabu.


II. Tabu

Tabu, das Spiel Tabu kennen Sie alle. Es umschifft einen zentralen Ausdruck, der auf keinen Fall verwendet werden darf. Er wird aber durch Erklärungen umkreist, eingekreist und in seinem Geheimnis präzisiert. Tabu, diesen Ausdruck hat James Cook aus Polynesien mitgebracht. Er hat sich rasch im Englischen etabliert. Tabu – das ist mehr als dies, dass etwas verboten ist. Die illegitime Entnahme von Geld aus der pfarramtlichen Handkasse durch einen Pastor ist eine erstklassige Dummheit, die nicht toleriert werden kann, aber kein Tabubruch. Tabu, das ist etwas, worüber nicht gesprochen werden darf, weil darüber zu sprechen gefährlich wäre. Kirchensteuerreform ... Da wird Heiliges angerührt, und zwar so, dass es diese Berührung die Existenz der Institution oder Person bedroht. So war die Tatsache von NS-Mitarbeiter im Auswärtigen Amt in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit ein Tabu. Tabu kann auch etwas Geheimnisvolles meinen, etwas, das seine Macht und Kraft entfachen würde, wenn es seiner Verborgenheit entrissen würde und dadurch unkalkulierbar gefährlich werden könnte. Die Rede über seit Jahren unangesprochene persönliche oder sachliche Konflikte in einer Institution, in einem Amt, in einem Kirchenkreis. Auch die Missbrauchsskandale der Kirchen waren gewiss so ein über Jahre hinweg totgeschwiegenes Phänomen. Oftmals bestehen Tabus durch stillschweigende Übereinkunft. Diejenigen, die das Tabu akzeptieren, werden dadurch zum Komplizen des Tabus. Zum Tabubruch kann es dadurch kommen, dass ein Außenstehender in eine Situation hineinrempelt, die er gar nicht einschätzen kann. Lautstarkes Gequatsche von Taufgästen während des Eingangsgebetes wäre so ein Fall. Es kann aber auch von einem derer, die um das Tabu wissen, gebrochen werden. Das kann befreiend wirken. Es könnte sein, dass Margot Käßmann die Offenlegung ihrer Scheidung ein Tabu gebrochen hat. Das war für jene, die den bisherigen Umgang mit Scheidungen von Amtsträgern zu verantworten hatten, gewiss vor schwierige Herausforderungen gestellt. Es ist jedenfalls verblüffend, in welch atemberaubender Geschwindigkeit dieser Vorgang die Haltung der Landeskirche zu solchen Lebensereignissen verändert hat. Anzumerken ist hier allerdings, dass die Landeskirche bereits einige Jahre zu vor die Regelungen änderte. Aber psychologisch hat noch einmal viel in Bewegung gebracht, dass eine Bischöfin eine Scheidung durchstehen musste. Bemerkenswert an diesem Vorgang ist für uns heute zweierlei: Erstens kann deutlich werden: Es gibt einen Zusammenhang von Tabubruch und Toleranz. Ein wirkungsvoller Tabubruch kann zu seinem Toleranzschub führen. Zweitens: Es kommt sehr darauf an, wer den Tabubruch vollzieht. Ohne jeden Einfluss und Macht dürfte er von bescheidener und wahrscheinlich negativer Wirkung für den Betroffenen sein. Hat die betroffene Person aber hohen Einfluss, kann das die Institution umwälzen. Nicht die Ablassdiskussion überhaupt, die gab es schon in intellektuellen humanisitischen Kreisen vor Luthers Aktivität, sondern die Art, wie Luther diese Ablassdiskussion angezettelt und durchgeführt hat, das war ein Tabubruch, der ein ganzes katholisches Kirchentum auf den Kopf gestellt hat.


III. Toleranz

1. Was hat Toleranz eigentlich mit uns Protestanten zu schaffen?
Was hat die Toleranz eigentlich mit uns Protestanten zu schaffen? Das ist eine echte Frage.

Wenn sie historisch informiert sind, werden Sie sagen; na ja, es geht so. Sie denken an brennende Ketzer, an Michael Servet, den Antitrinitarier in Genf, hingerichtet durch den Rat der Stadt, veranlasst durch den Reformator Calvin. Es wurden im Namen der Reformatoren Menschen getötet, weil sie anders dachten, weil sie Querdenker und religiöse Querulanten waren. Das ist bedrückend inkonsequent gewesen, hatte sich doch Luther vor dem Wormser Reichstag selbst auf sein Gewissen berufen. Das war zweifelsohne sein Appell an die Toleranz andersdenkender römisch-katholischer Reichsstände. Ausgerechnet er aber ignorierte den Gewissensruf der Täufer, ertrug nicht, dass sie anderes dachten und unterstützte, dass sie durch die weltliche Obrigkeit ersäuft, gefedert und geteert wurden.
Verschweigen sollten wir in der Tat nicht, dass es finstere Kapitel der Intoleranz gab, darunter die Haltung der Reformatoren zum Judentum. Dass das nicht nur zeitbedingt war, lässt sich daran ablesen, wie Martin Luther in seinen Anfangsjahren inspiriert durch sein Amt als Professor für Altes Testament und seinen humanistischen Lehrer Reuchlin ein Judenfreund war im fortgeschrittenen Alter jedoch unsäglich antisemitistisches zu Papier.

So hat die EKD für dieses Jahr der Reformation und Toleranz ein extrem selbstkritisches Heft herausgegeben und sicher auch ihnen geschenkt. Diese Ambition ist ohne jede Ironie berechtigt. Aber die Durchführung, meine Damen und Herren. Dieses Heft hört auf den Titel „Schatten der Reformation. Der lange Weg zur Toleranz“ hört. Auf dem Titelblatt ist eine schöne junge durchaus evangelisch aussehende Frau abgebildet, die bedrückt und nachdenklich nach vorne gebeugt ihr Kinn auf die rechte Hand aufstützt. Ihr Schlagschatten fällt auf eines großen im Hintergrund zu sehenden Crucifixus. Aber auch sie durchzieht der Schatten des Kreuzesbalkens. Ich dachte mir, als ich das sah. Willkommen bei der evangelischen Kirche: Mirjam, die empathische Pfarrerstochter, so könnte man vermuten, die über ihre kruden religiösen Vorväter tüchtig Kummer schiebt.

Nun will die Evangelische Kirche natürlich toleranzkritisch in die Gesellschaft und den Staat einwirken. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben: Jedenfalls kam an au die sieben Städte in Deutschland auszuwählen und ihn den verwegenen Ehrentitel „Stadt der Intoleranz“ an zu tragen. Der Entwurf für ein bestechendes Ortseingangsschild lag schon vor. Der Heidelberger Oberbürgermeister hat auf das entsprechende Ansinnen des EKD-Vertreters einigermaßen unmusikalisch reagiert. Er hat ihn aus seinem Büro wieder hinausgelächelt. Das war das Ende dieser Idee. Das ist vielleicht auch besser so. Was lernen wir daraus: Es kommt selten gut an, wenn wir auf Betroffene mit unseren Maulkörben zugehen und sie ihnen freundlich als Auszeichnungen anbieten.

Zu den ungeschickten Arten, eigene Intoleranz zu bewältigen gehört auch ein Verfahren, über den Modus einer Erinnerungskultur über einen tiefen Schatten in ungeschickter Weise betroffenes Licht auszuschütten. Ein Beispiel stammt aus dem Sprengel Hannover. Ich bin darüber erst neulich durch einen Hinweis in einem für tote Jagdspinnen überaus toleranten Schaukasten unweit des Hauses Kirchlicher Dienste gestoßen. Dort stand geschrieben: Sie befinden sich am Anfang der Straße der Toleranz. Es wurde auch gleich erklärt, weshalb: In Hannover durften bis in das 19. Jahrhundert hinein Katholiken, Reformierte und Juden nur auf der Neustädter Seite Wohnung nehmen konnten. Entsprechend lagen die Reformierte Kirche, die Clemenskirche und die Synagoge nahezu auf einer Linie in der Calenberger Neustadt. Diesen hochnotpeinlichen Umstand religiöser Intoleranz hat man nun kurzerhand eine positive Gedenknote abgewonnen. Diese Linie ist einfach in eine Straße der Toleranz umgewidmet worden. Dieser Straße der Toleranz entlang kann den zerbombten Kirchen und der niedergebrannten Synagoge - nur an ihrer Stelle steht ein Mahnmal - gedacht werden. Straße prekärere Intoleranz müsste diese Straße heißen.

Der christliche Glaube, so, wie die Reformatoren ihn neu zu fassen versuchten, ist ein erklärter Gegner von Diskriminierungen jeder Art. Er ist eine Kraft, die Maulkörbe nicht liebt und Tabus mit schrägen Seitenblick betrachtet. Er kann zu einem genialen Spiegel der Toleranzkultur in einer Kirchengemeinde werden.

Deshalb hier drei leitende Fragen und meine Kernthese:

Und dies sind meine drei leitenden Fragen:
Erste Leitfrage: Gibt es etwas, wo wir sagen können: Ja das ist was, das hat der Protestantismus zur Toleranzdebatte auch heute beizutragen?

Zweitens, und das geht Sie alle unmittelbar an:
Wie stehen Sie für ihre Überzeugungen ein?
Sprechen Sie Überzeugungen an, auch wenn es Tabus berührt?
Und was für ein Toleranztyp sind Sie eigentlich: Denken Sie mal drüber nach? Ticken Sie wie ein Dackel oder wie ein Scotch Terrier oder halten Sie es mit den Zwergpudeln?
Sind sie Leisetreter und betreten die Kanzel gar nicht ohne Maulkorb oder sind sie Lautsprecher und reißen in ihren Predigten regelmäßig einen Maulkorb nach dem anderen auch von den staunenden Mündern ihrer Zuhörer?
Was riskieren Sie für ihre Überzeugungen? Was tun Sie dafür, um diesen merkwürdigen Maulkorb religiöser Indifferenz, der den Kirchen immer wieder von außen angelegt wird, in die lasche Tonne der Beliebigkeit zu treten? Was kann Ihnen helfen, ein verbales Contra zu riskieren, Spott zu ertragen, Scham auszuhalten, wie soll Sie Ihrer Kirche darin unterstützen? Darüber müssen wir dringend reden. Glauben ist Gottes Sendung in die Welt ... Wir sind doch keine Versammlung von gut durchgebildeten lutherischen Schoßhunden hier.

Die dritte Frage geht auf unsere Institution evangelische Kirche. Wie steht die Kirche als Institution für ihre Überzeugungen ein? Wie schlägt sich das in der Gemeindearbeit nieder? Wie schlägt sich das nieder ohne evangelikale Missionsambitionen, die ständig von Jesus Christus sprechen ohne links und rechts zu gucken? Wie geht das ohne fundamentale religiöse Besserwisserei? – in Respekt anderer religiöser Überzeugungen? Ist die evangelische Kirche im Namen des Gottes Jesu Christi in der Lage sich für die vitalen Lebensinteressen von Menschen einzusetzen?

Meine These ist:
Der Entscheidende Beitrag des Protestantismus ist dies. Er unterstützt folgende Haltung: Ich trete für meine eigenen religiösen Überzeugungen und eine klare entsprechende Lebenspraxis beherzt ein und vertrete sie. Zugleich mache ich mich dabei für eine Toleranzkultur in aller Öffentlichkeit stark.

Das entscheidende an dieser Toleranzkultur ist, dass sie chronisch öffentlich ist. Ohne Öffentlichkeit ist der Protestantismus tot. Die Reformatoren schon haben ihre Auseinandersetzung mit Vorliebe als offene Kontroversen geführt. Nur ja keine geschlossenen Zirkel im Verborgenen! Das tut weder Gott noch der Sache der Religion gut.

Ich kann es knapp negativ auch so sagen: Ohne klar artikulierte Überzeugungen fehlt die Sensibilität, tolerant zu sein. Eine Welt voller Tabus, die nichts anspricht und alles unausgesprochen lässt, auch das was stört und befremdet, ist keine tolerante Welt. Mich hat, um von einem anderen Land zu sprechen, sehr bewegt, wie ein syrischer Priester sagte: wir haben über Jahrhunderte hinweg mit Menschen anderer Religionszugehörigkeit gelebt. Das ist aber nur deshalb gut gegangen, weil wir religiöse Fragen im Alltag niemals angesprochen haben. Religiös haben wir aneinander vorbei gelebt. Eine Fülle von Tabus. Und jetzt, jetzt kommen wir nicht mehr zurecht, weil wir nie miteinander darüber gesprochen haben. Hätten wir es getan, dann wäre es nicht so einfach unsere Religionen für Konflikte zu instrumentalisieren.
Ich frage Sie: Wie weit sind wir entfernt von einer Kultur des Schweigens, in der Unterschiede nur deshalb vorgeblich toleriert wird, weil über sie tunlichst nicht gesprochen wird?

Und nun an die Arbeit: Dabei begreife ich die Toleranz als eine Art Hund, der, wie wir noch sehen werden, gut kultiviert und erzogen werden muss, um weder in bissige Intoleranz noch in schoßhündchenartige zahnloser überfetteter Überzeungsagonie zu verfallen.


Erster Punkt: Kurze Einübung in den kultivierten Rassetoleranzhund

Haben Sie schon einmal einen Hund groß gezogen und ausgeführt? Wer will nicht gleich mit ihm Gassi gehen und ihn stolz ausführen. Aber: Das Vieh geht weder Beifuss noch macht es Anstalten, den erstbesten Spaziergänger, der vorbei kommt nicht anzuspringen. Deshalb muss der Hund in die Hundeschule, so wie die Toleranz sich nicht naturwüchsig ist, sondern kultiviert werden muss.
In einer solchen Hundeschule braucht es erstens ein Subjekt der Toleranz, einen Hundeführer, der den Hund der Toleranz kultivieren möchte. Das kann eine Person sein wie Peer Steinbrück, dem wir einen Doberman als Toleranzhund zutrauen oder Nikolaus Schneider, bei dem wir eher an einen Berner Sennenhund denken, oder ist er nicht doch eher ein Cockerspaniel, dieses warme tolerante Rostbraun. Ihrer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt: Die Hannoversche Landeskirche als niedersächsischer Vorsteherhund und dann Oldenburg als Zwergpudel, Braunschweig als Pikinese und dazwischen herumwuselnd, fast schon kein Subjekt mehr der Rehpinscher Schaumburg. Ich weiß, Toleranz und Konföderation das ist ein richtig spannendes Thema.
Zweitens braucht es in einer solchen Toleranzschule ein Gegenüber. Es muss dem Hundeführer der Toleranz ein anderer Hundeführer einer unter Umständen andersartigen Toleranz begegnen. Mit wem begegnen sie also mit ihrem Toleranzhund, so dass dieser herausgefordert ist, nun nicht loszubeißen oder zu bellen, sondern Beifuss zu gehen? Sie sind immer jemanden oder etwas gegenüber tolerant. Bei blau gefärbten Haaren ist es ein erheblicher Unterschied, ob ihr eigenes Kind oder der Sohn des Nachbars die Haare blau färbt oder Gesichtsorgane und edle Teile mit Piercingringen versieht. Einige würden mit dem Nachbarskind durchaus noch eine heitere Runde verbringen, hingegen das eigene Kind geradewegs von der Toleranzwiese scheuchen. Wie aber ist es mit religiösen Institutionen, mit Glockengeläut und Muhezzinrufen, ethisch wirksamen Urteilsbildungen, die Humangenetikern die Arbeit schwer machen? Sind wir hier nicht in Gedanken alsbald dabei, dem um Tolerierung bittenden Toleranzhund des anderen als moralische Obrigkeit des Landes oder der Gemeinde einen Maulkorb zu verordnen?
Drittens muss klar sein, was Gegenstand der Toleranz ist. Worum geht es? Was ist hier die Dressurnummer? Steht mein eigener Glaube zur Disposition und wird zum Thema von Toleranz? Das ist nicht trivial. In Ägypten standen vor zwei Wochen über 40 Kirchen in Flammen. Geht es um eine bestimmte religiöse Haltung wie „Spätabtreibung ist prinzipiell unzulässig“? Oder geht es um eine bestimmte religiöse Praktik und Symbolik wie das Tragen eines Kopftuches, das Kreuz am Revers eines Jackets, das Verteilen von Bibeln oder Koranen in der Fußgängerzonen?

Zur Toleranz gehört elementar viertens ein Ablehnungsmoment. Das wird am allerliebsten verdrängt und totgeschwiegen und ist ein echtes Tabu. Toleranz ist positioniert. Sie ist niemals indifferent oder bejaht uneingeschränkt den Tolerierten, oder das, was toleriert wird. Womit ich rückhaltlos einverstanden bin, das muss ich nicht tolerieren. Ich toleriere etwas oder jemand, weil ich mich über ihn ärgere, mit ihm in einer bestimmten Sache gerade nicht einig bin und uneinig bleibe. Ich toleriere z.B. Träger von Kolarhemden in unseren Reihen. Aber ich würde lügen, wenn ich verschwiege: Ich ärgere mich darüber. Es gäbe andere Formen, adäquat gekleidet zu sein. – Wichtig ist: Toleranz, die diesen Namen verdient, verlangt nach guten Gründen der Ablehnung. Ich kann nicht einfach einen Mitbruder anrempeln: Du, das trägst Du doch nur, um pfarrherrlichem Gehabe freien Lauf zu geben. Das trägst Du, um Deine schwindende Toleranz durch ein auffälliges Kleidungsstück zu kompeniseren. So ein Urteil wäre ein Ressentiment, eine Unterstellung. Denn das kann ich gar nicht wissen. Ich muss ihn schon einen Grund vorlegen, mit dem wir uns auseinander setzen können: Mein Grund wäre in dem Fall des Kolarhemdes folgender: Das ist ein Kleidungsstück, für katholische Priester gemacht. Wir sind aber als Geistliche kein Gegenüber den anderen in unserer Kirche.
Gefährlich wird es überall da, wo das Ablehnungsmoment stereotyp wird und zum Klischee verkommt. Ich muss nicht erst auf Syrien zu sprechen kommen, wo im Namen furchtbarer Vereinfachungen ein Stellvertreterkrieg geführt wird. Religiöse Diskriminierung gibt es auch inmitten von volkskirchlichen Gemeinden. Wie willkommen fühlen sich Zaungäste bei uns, wenn sie durch die Liturgie schlittern und von Kerngemeindemitgliedern finster angeschaut werden, weil sie die Stammplätze mit dem besten Blick auf die Kanzeln besetzt haben?
Wir sollten in unseren Gemeinden das Reformationsjubläum übrigens auch nicht dazu gebrauchen, um Kulturkonfliktthesen nach Art scharfgemachter Hofhunde in das Verhältnis von christlichen Denominationen einzubauen. Ebensowenig hilfreich ist es, nun die gelebte Ökumene als besondere Chance kirchengemeindlichen Lebens gerade auch im Blick auf das Reformationsjubiläum auszuloben. Ich frage Sie: Sind Hunde schön, bei denen man das protestantische Vorderteil nicht von einem katholischen Hinterteil unterscheiden kann?
Und noch eines: Wird das Ablehnungsmoment überzogen, verkommt die Toleranz zu einer bloßen Duldungs- oder Erlaubnistoleranz. Dann würde ich den Kolarhemdträger innerlich nur dulden in der hohen Meinung, darin ausgesprochen großzügig zu sein, so als hätte ich ein Kleidungsbeurteilungspatent Gott abonniert.
Um solche Klischees zu verhindern, verknüpft sich mit dem Ablehnungsmoment fünftens ein Akzeptanzmoment. Es funktioniert wie eine Art vorzügliches Leckerli oder Hundekuchen, der zwischen den zu den Hundeführern mit ihren Toleranzhunden gute Stimmung erzeugt. Das Akzeptanzmoment benennt gewichtige Motive, weshalb ich trotz der prinzipiellen oder persönlichen Ablehnung von Überzeugungen die damit verknüpften Personen oder Gruppierungen akzeptiere. – Machen Sie in Gedanken ruhig einmal Leckerliforschung. Wo halten sie die einem Konflikt oder einer Kontroverse vor die Nase? Welcher Art sind diese Leckerli namens Akzeptanzmoment?

Auch dafür ist es wichtig, die Gründe heraus zu arbeiten und über die Folgen einer Ablehnung nachzudenken. Es könnte noch sehr weniger tolerierbar sein, diese Haltung nicht zu tolerieren. Es könnte alberne Konflikte generieren, wenn ich das Kolarhemnd zum Gegenstand einer Loccumer Tagung machen würde mit dem Titel: „Weg mit dem religiösen Plunder. Von Vortragekreuz über Stola bis zum Kolarhemd“
In elementareren Fällen kann es die Identität einer Person zerbrechen, wenn ich diese Haltung oder Lebenspraktik nicht akzeptiere.
Nun gibt es Toleranzhaltungen, die das Akzeptanzmoment überziehen. Den sicher ernst gemeinten Satz: „Ich bin für alles offen!“ stelle ich unter Verdacht, genau das zu tun. Ich kann vielleicht für alle offen sein, aber sicher nicht für alles, was sie denken tun und lassen.
Sechstens gibt es aber natürlicherweise eine Toleranzgrenze. Eine uneingeschränkte Toleranz von Haltungen ist nicht möglich. Sie würde die Toleranz und den Tolerierenden selbst aufheben. Sie würden zum Opfer natürlich auch jener Intoleranten, die in der Hundeschule mit einer Horde Kampfhunden Angst und Schrecken einjagen würden. Ich wage das religionspolitisch zu wenden: Eine Kirche, die grenzenlose Toleranz gegenüber allen Ausprägungen anderer Religionen üben würde, würde sich wundern, wie rasch sie auf ihre Selbstauflösung zuginge, weil sie in bester Absicht die natürlichen Grenzen auch ihrer Toleranz nicht lebt oder nicht praktiziert.
Dass schließlich Toleranz siebtens elementar mit Freiwilligkeit zu tun hat und nur da glaubwürdig ist, wo eine Person und Institution aus freien Stücken tolerant ist, versteht sich vor allem in evangelischen Reihen fast wie von selbst. Aber auch da wäre noch einmal genau hinzuschauen: Wie freiwillig sind die Atmosphären der Toleranz in unseren Gemeindekontexten.

Soviel zur Struktur der Toleranz. Es wäre gut, wenn wir da nachher noch mal drangehen. Das sind ja keine sterilen Systematiken. Damit verbinden sich wichtige Prüffragen:
Wer muss hier überhaupt tolerant sein? Ich selbst, die Kirche, ich im Namen der Kirche usw.? Manchmal wird einem die Toleranzrolle ja auch zugeschustert: Taufe am Samstagabend, weil das für die Verwandten so schön ist; Burnoutkollegenvertretung für 6 Monate, ist doch klar? Wer ist hier der Adressat meiner Toleranz? Wurde er mir vor die Nase gesetzt, ein Ehrenamtlicher etwa, der ein wandgroßes Gemälde selbst als Teppich geknüpft hat und nun damit in das Gemeindehaus drängt? Verständige ich mich mit Instanzen oder Personen, die sich wirklich angesprochen fühlen(müssen)? Was akzeptiere ich, indem ich tolerant bin? Womit habe ich Schwierigkeiten und grenze mich ab und sollte das auch klar sagen; das ist die ganz zentrale Maulkorbfrage? Und wo liegen klar meine Grenzen der Toleranz, die rote Linie dessen, was ich noch verkrafte?

Zweiter Punkt: Was trägt der Protestantismus zur Toleranz bei?

Um es klar zu sagen: Gar nichts! Das ist erst einmal eine beherzte reformationshistorisch gesättigte Antwort. Im Zentrum der reformatorischen Leidenschaften, die sich in diesem mitteldeutschen Kaff Wittenberg, globalen Lärm erzeugten, stand nicht Toleranz, sondern Ignoranz. Gegen eine himmelschreiende religiöse und theologische Ignoranz trat sie an. Dass die Kirche im Tolerieren der Ignoranz so erstklassig war, machte Martin Luther wahnsinnig. Unerträglich fand Luther, die päpstliche Ablasspolitik, die Lebensführungspraxis, die Priestern aufgenötigt wurde, die Drohung der Kirche mit dem jüngsten Gericht. Hier fällt bei ihm das Adjektiv „intolerabilis: nicht tolerierbar“.

Dieser Nerv der evangelischen Theologie und des evangelischen Bekenntnisses zieht sich durch die Kirchengeschichte hindurch. Ich springe gleich ins 20 Jahrhundert.

Karl Barth, ich nehme ihn einmal als Exponenten eines reformierten Theologiestils, kann mit Toleranz rein gar nichts anfangen: „das etwas öde Gebot der Toleranz, d.h. der Unterlassung aller“ religiösen und theologischen „‚Verabsolutierungen’“ sei Ausdruck einer fahlen Vermeidungsstrategie. Es vermeide alle positiven Aussagen über den Gehalt der Religion. Statt von Gott werde von Transzendenz gesprochen. Diese Transzendenz stehe, weil sie völlig unbestimmt sei, im krassen Widerspruch zu Gott, der sehr bestimmt gedacht werden müsse. Der Toleranzhund ist für ihn ein verfetteter Mops, der breit und bräsig auf dem Sofa einer Wohlstandsgesellschaft herumlungert und seine Umgebung mit nicht gerade inspirierenden religiösen Blähungen quält
Dietrich Bonhoeffer, um einen Lutheraner vor Augen zu führen, bestätigt das: Der veröffentlich 1943 einen Aufsatz zum Toleranzthema und überschreibt ihn mit dem Titel: „Protestantismus ohne Reformation“. Bonhoeffers These ist die folgende: Da wo der Protestantismus ohne Reformation antritt, also in Amerika etwa, werde „Toleranz zum Grundbegriff alles Christlichen.“ Diese Toleranz gehe aber auf Kosten des Wahrheitsanspruches einer Religion. Opfer religiöser Auseinandersetzungen genössen in Amerika zwar uneingeschränktes Religionsasyl, würden dort aber unglücklich, weil sie ja eben aus Leidenschaft für die Wahrheit ihrer Religion emigriert seien. Ihr „Verlangen nach Entscheidung und Wahrheit gegen ihre Verfälschung bleibt unerfüllt und müsse es bleiben“. Bonhoeffer spricht hier von der „amerikanischen Toleranz“ oder richtiger „Gleichgültigkeit in dogmatischen Fragen“ . Deshalb Bonhoeffer es abgelehnt in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Er sieht die Sache also so: Entweder lebt ein Mensch im gesellschaftlichen Klima von Toleranz und Überzeugungsindifferenz oder er lebt in einem Klima von pointierten religiösen Wahrheitsansprüchen aber mit starken Toleranzdefiziten. Stimmt das? Die Koranverbrennungen von evangelikalen Freikirchen in den Vereinigten Staaten scheinen eine andere Sprache zu sprechen. Nun hat sich Bonhoeffer im selben Jahr 1943 ins Angesicht widersprochen und in seiner Ethik notiert: Das NS-Regime sei eine unerträgliche jegliche religiöse Toleranz mit Füßen tretende Diktatur. Er, Bonhoeffer, sei bewegt, wie die in Deutschland heimatlos gewordene Toleranz Zuflucht im Schatten der bekennenden Kirche gefunden habe. Sie sei dadurch zu ihrem „Ursprung“ zurückgekehrt. In der Stunde der Gefahr des Hitlerregimes finde sie in diesem „Ursprung neuen Sinn und Kraft. Dieser Ursprung ist Jesus Christus“.

Das trifft den Nerv. Darum der dritten Punkt einer reformatorisch pointierten Fassung der Toleranz.

Dritter Punkt: Toleranz allein aus Glauben, allein mit dem Wort, allein aus Gnade, ... Christus allein

Allein aus Glauben ... Glauben ist im Kontext des Protestantismus wesentlich Vertrauen. Vertrauen verlangt Nachdenken ebenso wie emotionales Mitgefühl. Vertrauen braucht Verlässlichkeit. Da wird’s empfindlich. Sie können einem Menschen, einer Institution oder einem Kollegen nur dann vertrauen, wenn sie sich auf ihn einlassen, ihn als Verlässliches Gegenüber kennenlernen und ihnen deutlich wird, dass der oder die kein falscher Hund ist. Dieses Gefühl stellt sich aber nur dann ein, wenn Sie viel voneinander wissen. Ein Klima des Desinteresses und wechselseitiger Uninformiertheit ist kein vertrauensvolles Klima, so wie Gott nicht vertraut werden kann, wenn wir nichts von ihm wissen oder anderen nichts von ihn wissen lassen.
Und hier liegt der erste Gewinn des Protestantismus für die Toleranzthematik: Toleranz ist nicht obenhin möglich. Auf dem Feld der Toleranz gilt. Du musst Dich gut auskennen. Indifferenz ist keine Toleranz. Vertrauen entsteht durch lebendigen Austausch. Vertrauen lässt sich prinzipiell nicht erzwingen. Toleranz mit Andersdenkenden verlangt Zähigkeit und Auseinandersetzungskraft. Wir wissen immer noch viel zu wenig von den anderen, den Angehörigen anderer Religion, von den Kollegen in anderen Kirchengemeinden und Institutionen. Wer von Ihnen, der nicht Jude oder Muslim ist kennt die Mischna, kennt die Haggada, und hat schon im Koran gelesen? Aber auch innerhalb unserer Religionsgemeinschaft: Wie gut haben wir jene verstanden, die anders über Gott und Jesus Christus denken als wir selbst? Und: Wer von meinen Kollegen weiß, wie viel weiß ich eigentlich darüber, was das Kollegium im RPI bewegt und interessiert?
Das Halsband des Ablehnungsmomentes legen Sie nur dann sachgerecht um, wenn sie mit guten Gründen, aber in vollem Respekt gegenüber der abzulehnenden Person, informieren. Irrtum aber aus Gründen der Toleranz nicht beim Namen zu nennen, das ist Sache der Reformatoren nicht. „Die do gleuben, dulden keinen Irthumb“, schreibt Luther. Und zwar ist es eine Sache der Achtung und Nächstenliebe, dass ich einen Mitmenschen versuche auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen. Sei frech, aber sei niemals ein Besserwisser!
Eine der abgründigsten Formen gelebter Intoleranz ist die Verlagerung der Ablehnung von Personen nicht mit ihnen selbst zu klären, sondern in Gespräche mit Dritten hinein zu verlagern.

Allein durch das Wort. Die Reformatoren beschränkten sich ausschließlich auf intelligenten und klugen Einsatz des Wortes, auf die Kraft überzeugender Rede. Und sie waren skeptisch gegenüber jeglichen auch nur sanften Zwang, der an die Stelle des guten Argumentes oder der persönlichen Einsicht treten sollte. Deshalb ist in der Tat Luthers Berufung auf sein Gewissen vor dem Wormser Reichstag ein Schlüsselereignis auch für die Toleranzfrage.
Gewissensfreiheit, darunter verstand Luther, dass das Gewissen eines jeden Menschen nicht einfach frei herumflottiert und sich irgendeine Lebenshaltung und Überzeugung aussucht, so je nach gusto. Gewissensfreiheit, das bedeutet für Luther, dass ein Mensch in Freiheit von anderen Dreinrednern der Stimme folgt, die ihn als Person bindet, ihn bestimmt und prägt. Diese Gewissensfreiheit fällt nicht vom Himmel. Sie ist für jeden Menschen Arbeit an der eigenen Überzeugung, Arbeit am Wort. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit ist deshalb auch nicht das Ende, vielmehr der Beginn einer Argumentation und Diskussion.
Das führt zum dritten Gewinn einer von der Reformation inspirierten Toleranzdeutung: Sie hat Lust am genauen Zuhören. Passionierte Seelsorge weiß das. Luther hat deshalb geurteilt: Toleranz gebiete, niemals ohne Not und unaufgefordert das Leben anderer zu beurteilen: „Aber das ist verboten, das ein jglicher aus seinem eignen Kopf herferet und machte ein eigene lere und geist und lesst sich meister klügel düncken und jederman willmeistern und tadeln“. Sei frech, aber mit der nötigen Selbstdistanz!

Eben deshalb war es eine der fatalsten Inkonsequenzen, dass protestantische Obrigkeiten im Namen des christlichen Glaubens Gewalt anwendeten. Allein durch das Wort – diese Formel hätte Gewaltanwendung in Religionsangelegenheiten strikt untersagt.
Eine am überzeugenden Wort orientierte Toleranz wird sich auch nie mit einer Art Duldungs- und Erlaubnistoleranz zufrieden geben, die andere religiöse Auffassungen nur erlaubt und duldet, um Schlimmeres zu verhindern. So die eigene Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu fassen ist immer noch von der Hybris bestimmt, nobel andere im eigenen Lebensumfeld, sei es der Kirche, sei es der Person eben nur gnädig zuzulassen. – Die auch dieser Tage nicht auszurottende Rede von der „Willkommenskultur“ ist von einer solchen Erlaubnistoleranz bestimmt, weil sie suggeriert: Wir hier heißen Euch andere willkommen und setzen die Maßstäbe dessen, was wir zulassen und erlauben. Dabei ist doch der Raum unserer Toleranzkultur nicht von uns selbst errichtet worden. Nicht wir hier, sondern eine rechtsstaatliche Grundordnung, die wir dem vehementen Engagement auch ganz landesfremder Kräfte und Leidenschaften verdanken und die zur Zeit ihrer Etablierung sicher nicht aus den Einsichten der Mehrheit der deutschen Bevölkerung erwuchs, setzt Maßstab und Grenze für unsere staatliche Toleranzkultur. Das sollte für eine zurückhaltende und insofern kluge Toleranz- und Partizipationssprache sorgen. Diese Einsicht ist für alle religionsverfassungsrechtlichen Fragen, die noch auf uns als Kirche zukommen, sensibilisieren. Dabei kann zugleich durchaus selbstbewusst gezeigt werden, wie entscheidende Züge der Religionsfreiheit, wie sie in unserem Land inzwischen verstanden wird, von reformatorischen Einsichten zehren.

Allein aus Gnade, nicht durch Verdienst werde ein Mensch seinem Leben und dem Leben anderer gerecht. Gnade ist eine Kraft, die Gott allein verleiht. Mit Gnade werden Menschen begabt. Gnade setzt keinerlei vorzügliche Eigenschaften dieser Menschen voraus. Gnade weitet den Lebenshorizont von Menschen, durchlüftet sie, sorgt für Weltläufigkeit. Gnade ist die erklärte Gegnerin von narzisstischer Selbstverliebtheit in eigenes Können und Privilegien. Sie engagiert sich für andere. Martin Luther hat deshalb geurteilt, die „große Gefahr“ im Kontext der Artikulation eigener Überzeugungen sei, „das jm jglicher selbst gefelt“, also die Selbstgefälligkeit.
Der dritte Gewinn reformatorisch inspirierten Toleranzdenkens liegt also darin: Toleranzgespräche im Zeichen des Protestantismus haben eine kritische Nase für falsche Privilegien und Konstellationen, in denen neue Lebensfreiräume ohne eigenes Zutun Menschen eröffnet werden, die sich tolerieren wollen oder müssen. Sei frech, aber immer auf Augenhöhe mit den anderen und gespannt, wohin das Leben mit Euch auf und davonläuft!

Christus allein ...

Hier liegt der vierte Gewinn der reformatorischen Bewegung. Eigene Überzeugungen können niemals auf einen Kern im Gespräch mit anderen so reduziert werden, dass alle diese Überzeugungen einmütig teilen werden.Die Gefahr ist hoch, die Toleranz zum eigentlichen Gott erklärt, der sich die leidenschaftliche Frage und Suche nach Gott unterzuordnen hat. Die Toleranz ist der Gott, Gott aber, wie ihn etwa das Christentum anbetet, nur ein Halbgott im Dienste der Toleranz.
Hier muss ich persönlich werden: Es ist mir, offen gestanden, nicht möglich, zu glauben, dass Jesus Christus ausnahmslos für alle Menschen gestorben ist, und zugleich zu sagen, dass andere Religionen ja genauso und ebenso gut zu Gott führen. Genau das weiß ich nicht. Ich kann es auch gar nicht wissen. Damit verknüpft sich keine religiöse Überheblichkeit. Ich vertraue darauf, dass das in Jesus Christus von Gott besiegelte Heilsversprechen allen Menschen zugute kommt. Ich weiß aber auch, dass Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus gutem Grund erzählt hat. Es war ein Religionsfremder, der verstanden hatte, worauf es bei Gott und im Leben ankam. Damit ist deutlich: Ein überzeugter Menschenfreund und Religionsfremder überzeugt den Gott Jesu Christi viel eher als ein blinder blasierter Nachfolger, der in seinem Namen versäumt sein Leben und das Leben der anderen zu achten. Das mit Worte oder in Darstellungen wuchtig demonstrierte Kreuz ist für Luther ein Elend. Es gehört für ihn genau dahin, wo es auch Christus getragen hat, auf seinem Rücken, als Lastenkreuz, das Unrecht identifiziert und aufhebt.
Das ist das eine. Das andere ist.
Jesus Christus wird von der Reformation als Inbegriff gelebter Toleranz und als Ausdruck der Toleranz Gottes verstanden. Im Leiden und im Kreuzestod Christi zeige sich, dass die Liebe Gottes imstande sei alles zu ertragen und zu tolerieren. Gott toleriere die zusammengelebte Mittelmäßigkeit der Menschen, habe sie so, wie sein Sohn Jesus von Nazareth behandelt wurde, erlitten und erduldet. Jesus Christus, nicht die noch so klugen Pläne der Menschen, toleranter und lebenskluger zu werden, eröffneten ihnen eine andere Toleranz mit ihnen selbst und anderen. Toleranz, das ist eine zentrale Gotteseigenschaft. Luther nennt sie in einem Atemzug mit der Barmherzigkeit und der Gabe Gottes, Menschen ihre Schuld zu vergeben. Jesus Christus sei der eigentliche Grund der Toleranz Gottes gegenüber jedweder Form von Gottvergessenheit.

Das ist der fünfte Gewinn einer von der Reformatoren inspirierten Toleranzvorstellung: Jesus Christus lässt Bitten. Er wollte und will nur Anhänger und Nachfolger, die aus innerer Überzeugung auf ihn setzen. Die einzige Form, in der für die christliche Religion geworben kann, ist die Bitte. Das gilt in aller Regel für alle Auseinandersetzungen überhaupt, die wir als christliche Kirche im Namen Jesu Christi in strittigen nach Toleranz rufenden Fragen führen müssen.

Und die Kirche? Sie ist für Luther ein Ort gelebter Vielstimmigkeit, ethisch wie in der Frage von Lebensauffassungen. Hier wird für ihn die Aufforderung des Paulus, die Last des anderen zu tragen, zur Kernaufgabe innerkirchlicher Toleranz. Lastenteilung in der Kirche, das heißt auch die Gebrechlichkeit der Überzeugungen anderer, die eigenen und fremden Zweifel zu tolerieren und gemeinsam zu tragen.

IV. Von verpassten Maulkörben und Maulkorbbefreiungen

Schließlich verpasste Maulkörbe! Bzw. Maulkorbbefreiungen! Als Spiegel der Toleranz in den Gemeinden:

1. Maulkorb: Gespräch mit Deinen Gegnern! Gesprächsverbote!

Erlauben Sie mir sehr persönlich zu werden. Es gibt sehr sensible Gesprächsverbote, Gesprächstabus. Die härteste Zeit in diesem Jahr für mich war die, als wir in Loccum gewagt haben, den Iranischen Botschafter einzuladen. Die Absicht war, ihn zur Rede zu stellen. Dieser Mann ist abgündig. Er ist ein Holocaustgegner. Und ihm werden mit Recht Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Wir hatten ihn zusammen mit einem amerikanischen und deutschen Diplomaten eingeladen, um ihn in Sachen Sicherheitspolitik im mittleren Osten zur Rede zu stellen. Was kann geschehen, damit die Kriegstreiberei in dieser Region ein Ende hat – auch angesichts der Versuche Iran anzureichern? Ausgelegt wurde unser Anssinnen so, dass wir diesem Menschen eine Plattform bieten. Ich habe noch nie derart viele Emails innerhalb von vier Wochen beantworten müssen ... von empörten Christenmenschen, Emails von oben herab, nachdenkliche Emails, besorgte Emails, Emails von Rechthabern aber auch. Was mich sehr schmerzte, Emails von Jüdinnen und Juden. Und dann waren da Telefonate mit Exiliranern, die von einem Journalisten auf uns angesetzt worden waren. Deren Leid wurde auf fatale Weise von Journalisten instrumentalisiert, die verhindern wollten, dass wir diese Kontroverse mit jenem Botschafter führen und uns zur Ausladung zwingen wollten. Dann schalteten sich Bundestagsabgeordnete ein, die fragten, weshalb wir mit einem solchen Menschen überhaupt reden. – Ich habe nur die Gegenfrage gestellt, weshalb sie nicht dagegen vorgegangen seien, dass dieser Mann bei der Bundesrepublik öffentlich akreditiert sei. Darauf gab es keine Antwort. – Ohne die hohe Solidarität der Landeskirche, des Vizepräsidenten, des Landesbischofs und die Solidarität des Akademiekonventes sowie der Studienleitung hätten mein Kollege Marcus Schaper, der für diese Tagung verantwortlich zeichnete, und ich das nicht durchgestanden.
– Micha Brumlik kündigte uns die Freundschaft. Seine Devise war: Liberale Gesprächskultur ist, mit solchen Leuten gar nicht erst zu sprechen.
Damit ist ein wichtiger prinzipieller Punkt benannt: Worin besteht das Toleranzmoment in einem protestantischen Gesprächsethos? Kennen Sie das aus Ihren Kontexten? Geht unsere Liberalität und Weitherzigkeit so weit, dass wir nur denen sprechen wollen, die so liberal und weltoffen sind, wie wir uns wähnen? Besteht nicht ein Gesprächsethos, der christlich tolerant genannt zu werden verdient, einer, der auch mit seinen Gegnern und Feinden spricht, ihnen ins Angesicht widersteht? Das wäre doch erst der entscheidende Maulkorb, von dem uns Christus befreit hat!

2. Maulkorb: Widerspruch gegen den Zeitgeist!

Der Protestantismus ist nicht eben stark im Widerspruch gegen den Zeitgeist. Wo er ihm widerpricht, ist das nicht so furchtbar überraschend und fordert auch nicht viel Mut. Natürlich sind wir gegen Armut, gegen Dumpinglöhne und Umweltverschmutzung. Das wird von uns mit Recht erwartet. Mutig ist es nicht, solche Proteste zu äußern. Denn sie können mit Wohlwollen in der Öffentlichkeit zu ernten. - Die Testfrage ist hier: Wie beherzt orientieren wir uns nicht an dem, was sich mit der Zeit als gängig und zeitgemäß durchgesetzt hat – aus guten inneren Überzeugungsgründen?
Wir sollten vermeiden zum Mitläufer des Mainstreames zu werden. Denn das kann gefährlich werden, Die Evangelische Kirche hat in das Horn der Rassenideologie mit einer Rassetheologie getutet. Das begann im 19. Jahrhundert, die Frau als Saatbeet Gottes im frühen 20. Jahrhundert, striktes Abtreibungsverbot nach dem 2. Weltkrieg auch im Fall von Vergewaltigung, das plötzlich just für den Fall aufgehoben wurde, dass Frauen von amerikanischen GIS’s gezeugte farbige Kinder gebären. Das waren rein reaktive ethische Mitteilungen von seiten der EKD, die hochnotpeinlich sind. – Es geht nicht in Ordnung, wenn wir als evangelische Kirche gesamtgesellschaftlichen Strömungen nur hinterherhinken. Es müssen schon innere Überzeugungen sein, die zu ethischen Urteilen führen. Wenn wir in unseren ethischen Urteilen nur gerade eben religiös angehübscht widerspiegeln, was die Mehrheit so denkt, haben wir unsere Arbeit nicht gut gemacht.


3. Maulkorb: Stellung unserer Kirche in der Gesellschaft am Beispiel: Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach!

Wie gut, darf ich an dieser Stelle fragen, sind wir selbst eigentlich für die Debatte über den Sinn des konfessionsgebundenen Religionsunterrichtes an öffentlichen Schulen vorbereitet? Haben wir den Maulkorb schon selbst angelegt, der da lautet: Eigentlich ist ein Laizismus in Deutschland das Gebotene. Dabei übersehen wir aber, dass der Laizismus jedenfalls französischer Prägung das Religiöse ins Private verbannt. Die ideelle und organisatorische Trennung von Kirche und Staat haben wir hierzulande auch. Kein Parlamentarier, kein Minister kann Ihnen in ihrer Arbeit auch nur ein deut hineinreden. Umgekehrt haben wir weder Wort noch Stimme im Parlament als Pfarrerinnen und Pfarrer. Aber die Auseinandersetzung darum, wie wir unser Land gestalten, die dürfen, ja müssen wir in aller Öffentlichkeit führen. Deshalb sage ich: Weg mit den potentiellen Maulkörben in unseren Köpfen, die sich schon auf den Laizismus eingerichtet haben. Rein private Religionsausübung braucht keine Toleranzversprechen mehr. Denn sie hat ja gar keinen Anspruch mehr darauf, in irgendeinem Zusammenhang anzuecken, anzustoßen aufzurütteln.


4. Maulkorb der Feigheit; Am Beispiel des Umgangs mit Migranten in unserem Land!

In Berlin gab es dieser Tage starke Friktionen wegen eines Asylantenwohnheims, das in einem sozialen Konfliktviertel eingerichtet wurde. Durch die Nachrichten gingen Bilder von Migranten, die von einem Elend der Flucht sich unversehens mit einem neuen Elend konfrontiert sahen, dem der Anfeindung durch eingeborne Deutsche, die vor ihrem Gebäude standen, und verlangten, dass diese Leute sofort verschwinden sollten.
Ich habe da keine evangelischen Geistlichen gesehen. Wo sind wir bei solchen Konflikten? Da zu sein, das fordert ein gerütteltes Maß an Mut, an Zivilcourage.
Ist uns der Mut abhanden gekommen, dorthin zu gehen, um die Auseinandersetzung mit unseren Mitbürgern zu suchen – im Namen einer die Menschenrechte beherzigenden Toleranz? Wie gemütlich ist das Milieu geworden, in dem wir uns an unserer wechselseitigen Toleranz erwärmen?
Zugleich müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Asylantenheime lieber nicht in Regionen gesetzt werden, wo teure Häuser und Villen in der Nähe sind – wegen des drohenden Wertverlust? Wer klagt das an – wer sagt, dass das vollkommen inakzeptabel und intolerant ist, so zu denken. Haben wir die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus endgültig aus unseren Hirnen gestrichen. Erzählen wir sie nur noch den Kindergottesdienstkindern, jedoch nicht uns? Warum tolerieren wir diese brutale Form der Immobilienintoleranz? Ich muss ihnen hier von einer Weihnachtsgeschichte in Loccum mitten im Sommer erzählen. Obdachlose im eigenen Gemeindehaus oder gar im Erdgeschoss des Pfarrhauses unterzubringen ... nein das doch lieber nicht. Erst in Westfalen Quartier gefunden ...


6. Maulkorb: Friktionen zwischen Ehren- und Hauptamtlichen!

Das Verhältnis zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen. Tabus sind hier stark. Wir haben uns natürlich wechselseitig lieb. Wir überschütten uns mit Wertschätzung. Aber was tun wir dafür, um die wechselseitigen enttäuschten Erwartungen aufzuarbeiten? Ich fand es schon bezeichnend, dass eine entsprechende Tagung in Loccum auf miserable Resonanz stieß. Darüber wollte niemand gerne reden. Ein echtes Tabu ist das!

7. Maulkorb innerhalb der Hauptamtlichen Mitarbeitenden: Leistungs- und Engagementdifferenzen!

Ich stelle nur eine Frage: Wie offen reden wir eigentlich direkt über Leistungs- und Engagementdifferenzen, über Relevanzverlustängste? Wie offen sprechen wir darüber? Da baut ein Kollege innerhalb eines Jahres eine Eisenbahnanlage in seinem Keller auf, die mit 45 Lokomotiven gut koordiniert läuft, ein Kollege, für den 6 Wochen Krankheitsvertretung zusätzlich anfielen. Zugleich wird in der Visitation bewundert, dass er ganz viel Seelsorge macht, nicht so viel öffentliche Veranstaltungen. - So war das nicht gemeint, als Jesus Christus meinte: Einer trage des anderen Lust, Verzeihung, Last!
Nun ist Neid einer härtesten Proteges der Intoleranz. Es gibt eine nicht zu übersehene gesamtgesellschaftliche Neigung bei besonders herausragenden Persönlichkeiten, die brillant sind, nur darauf zu warten, dass sie endlich einen Fehler machen, um dann in einer Art jüngsten Gericht über sie herzufallen. Das sollte die Sache der evangelischen Kirche nicht sein. Es geschieht selten, dass das dann in öffentlichem Zusammenhang deutlich gesagt wird.
Und wie steht es denn wirklich um die Toleranz in Sachen einer doch sehr bunten Predigtkultur. Wie weitherzig sind wir denn wirklich? Und wie klar reden wir kollegial darüber? Geht es über zarte Andeutungen im Zuge der Visitation hinaus? Ist da mehr im Spiel als ein sanftes Lecken mit der rauen Visitatorzunge über die Schnauze des rührend verstrubelten Amtskollegen?


9. Maulkorb: Ökumenische Eintracht

Wir wissen, dass Christenmenschen in unserem Lande nicht mehr werden. Das verleiht uns bisweilen eine merkwürdige Konzilianz in Fragen der Ökumene. Ich halte das für keine gute Entwicklung. Festmachen konnte ich das zuletzt an den Reaktionen auf das vielleicht zu Recht umstrittene Familienpapier der EKD. Da wurde mir viel zu oft mit der Empörung der katholischen Kirche argumentiert. Eine Differenz könnten wir uns da nicht leisten. Gleiches gilt für bioethische Fragen, die den Umgang mit vorgeburtlichen Leben betrifft. Oder die Auseinandersetzung um den Umgang mit Sterbebegleitung. Toleranz ist jedoch – protestantisch verstanden – eine erklärte Gegnerin von Geheimdiplomatie! Wir sollten den Mut haben, hier aus eigenen Überzeugungen heraus zu argumentieren und nicht nach einem einheitlichen Bild aller christlichen Kirchen zu schielen.


10. Maulkorbbefreiung: Die pastorale Urteilsfreiheit!

Es zählt zu den Stärken des Protestantismus, dass er zu starken Stellvertretungs- und Repräsentationsfiguren innerhalb der Kirche ein distanziertes Verhältnis pflegt. Natürlich hat und nimmt sich die Kirchenleitung das Recht, Äußerungen und Einsichten ihrer Amtsträger auch schon einmal kritisch zu kommentieren. Aber es wird in der evangelischen Kirche nicht so schnell passieren, dass begründete Interventionen und Provokationen von Gemeindepfarrerinnen und –pfarrern durch die Kirchenleitung kassiert werden. Diese Toleranz pflegende Freiheit adelt die evangelische Kirche. Damit verbinden sich erhebliche Chancen überall da, wo Sie arbeiten!


11. Fehlerfreundlichkeit in der Lebensführung bis in Pfarramt hinein

Wie gehen wir mit einer Intoleranz gegenüber Ungleichmäßigkeiten im häuslichen Haushaltes einer Pfarramtsfamilie um? Eine gewisse Geradlinigkeit und Vorbildlichkeit ist ja etwas abzugewinnen. Ich meine aber, dass hier immer noch um zum Teil hohe Preise dargestellt werden soll, was nicht der Fall ist. Eine neue Beschreibung der Lebensführungsfragen ist dringend geboten, nicht um einen ungebremsten Laxheit Tor und Tür zu öffnen, sondern eine adäquate Praxis der in der Rechtfertigungslehre gewonnen Einsichten die nötige Lebensgrundlage zu geben. Wir können nicht über die problematischen Nötigungen des Zölibates räsonieren und die Doppelstandards in Pfarrhäusern außer Acht lassen. Wir haben alle Chancen, die Einsichten der Reformation im Sinne einer reflektierten Toleranz auf unsere Lebensführungsfragen selbst anzuwenden.


12. Eine nötige Maulkorbbefreiung: Offenheit im Austausch von Überzeugungsgewissheiten- und Überzeugungsunsicherheiten

Wir decken unsere Kirchen und Konfirmanden mit Kreuzen ein. Wir tragen Sie am Revers. Wir färben sie violett als Marke. Wir schaffen neuerdings Vortragekreuze ein. Kreuze über Kreuze, wichtig und zentral. Aber gehen sie zu Herzen? Berührt das? Fährt das ein und entfacht Leidenschaften? Darf in unserer Kirche, ja darf ein Pfarrer darüber reden, dass ihn das kalt lässt, dass es ihn nicht berührt und in merkwürdige Ferne rückt? Wie weit geht hier unsere Toleranz mit uns selbst und unseren Zweifeln, mit unseren Mitbrüdern und –schwestern? Ich sage das als jemand, der mit aller Leidenschaft über den Tod Jesu Christi nachdenkt. Ja, ich glaube, das ist das Entscheidende, dieses Kreuz. Nur, die Versicherung, dass es das ist, erledigt doch nicht den Umstand, dass Fragen bleiben. Wir haben die Freiheit über diese Fragen offen miteinander und mit anderen zu sprechen, zu zweifeln, zu fragen und unterwegs zu sein zu einem tieferen Verstehen: Damit berühren wir ein Tabu. Ein Tabu, hinter dem sich verbirgt, wie anstrengend das ist, in evangelischer Freiheit tolerant zu sein. Aber das führt geradewegs hinein in recht verstandene protestantische Toleranz!