Von der Ärztin zur Äbtissin

Tagesthema 28. September 2021

Eine Auszeit im Kloster weckte bei Henrike Wahl den Wunsch, stärker ins klösterliche Leben einzutauchen. Die 48-Jährige stand mitten im Berufsleben, war zufrieden mit ihrer Arbeit als Ärztin. Doch der Wunsch, dem Glauben zu dienen, war stärker.

Henrike Wahl leitet künftig das evangelische Kloster Barsinghausen.

Henrike Wahl im Interview im Konventsaal des Klosters Bild: Themenraum

Als das Gespräch während des Haareschneidens darauf kam, dass Henrike Wahl die neue Äbtissin sei, ließ die Friseurin das erstmal eine Weile sacken. Dann fragte sie: „Ist das … mit Glauben?“ Ja, ist es. Und Henrike Wahl liebt solche Gespräche. Sie fühlt sich verbunden mit allen Fragenden und Suchenden. Ihre Suche führte sie ins Kloster Barsinghausen bei Hannover, das sie seit Anfang März leitet. Am Samstag wurde sie von Regionalbischöfin Petra Bahr in einem Gottesdienst in der Klosterkirche offiziell in ihr neues Amt eingeführt.

Der Konventsaal in dem evangelischen Kloster am Deister ist mit Sicherheitstechnik geschützt, weil sich darin wertvolle Gemälde und in einem Nebenzimmer ein massiver Holzschrank mit dem Klosterarchiv befinden. „Manchmal greife ich mir einen Karton heraus und stöbere in den alten Handschriften“, sagt Henrike Wahl. „Wenn ich die Zeit hätte, würde ich das jeden Tag machen.“ Der Gedanke, dass sie in dem 1193 von Augustinerinnen gegründeten Kloster in einer jahrhundertealten Tradition steht, fasziniert die 48-Jährige. „Aber natürlich habe ich auch immer wieder Zweifel, ob ich das stemmen kann und der Bestimmung des Klosters gerecht werde.“

 

Das Ziel, Äbtissin zu werden, hatte Henrike Wahl anfangs nicht. Als ein Pastor sie auf die frei werdende Stelle hinwies, entgegnete sie: „Du spinnst!“ Zu der Zeit arbeitete sie in Nürnberg als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie vor allem mit krebskranken Kindern. Der übliche Weg wäre gewesen: Irgendwann Oberärztin werden oder eine eigene Praxis eröffnen. Doch sie bewarb sich im Kloster. „Ich bin durchaus auf Unverständnis und Fassungslosigkeit gestoßen“, sagt Wahl. Das habe sich aber bald gewandelt. Ein Mädchen, das bei ihr in Therapie war, formulierte es so: „Für mich war das erst ganz schrecklich. Jetzt merke ich, Sie müssen das machen.“

Aufgewachsen in der Diaspora im katholischen Rheinland kam die Protestantin schon früh mit dem Glauben in Berührung. „Ich bin kirchlich verwurzelt und war auch zuletzt in meiner Nürnberger Gemeinde sehr aktiv.“ Ein Adventswochenende im Kloster Wülfinghausen bei Hannover sollte für sie dann zu einer wichtigen Wegkreuzung werden. „Ich hatte an diesem wundervollen Ort ein so einschneidendes Empfinden, dass ich unbedingt wiederkommen musste.“ Erst eine Woche, dann im Rahmen des Angebotes „Kloster auf Zeit“ sogar neun Monate. Ihr Arbeitgeber gewährte ihr unbezahlten Sonderurlaub.

 

Zuvor hatte die Ärztin bereits eine Seelsorge-Ausbildung abgeschlossen und berufsbegleitend in Marburg/Lahn den Master-Studiengang Evangelische Theologie begonnen. Die Wahl zur Äbtissin kam nun dazwischen. „Ich dachte eigentlich, das wird man nicht aus dem Stand, aber hier gab es ein ganz normales Bewerbungsverfahren.“ Einzige Voraussetzung: Bewerberinnen müssen evangelisch und alleinstehend sein. Und sich vorstellen können, auf Lebenszeit ins Kloster zu ziehen - auch wenn der Vertrag „schon“ mit 70 endet.

Der Konvent des Klosters besteht zurzeit nur aus zwei Personen: Henrike Wahl und ihre Vorgängerin Barbara Silbe, die nun im Ruhestand ist. Die neue Äbtissin würde deshalb gern neue Konventualinnen auch jüngeren Alters gewinnen. Diese könnten mietfrei im Kloster wohnen, müssten ansonsten aber selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. „Wenn sich zum Beispiel eine Gärtnerin, Landwirtin oder Musikerin für ein Leben im Kloster entscheiden würde, wäre das wunderbar.“

Morgengebet
Henrike Wahl und zwei Mitbetende beim Morgengebet in der Klosterkapelle. Bild: Themenraum

Bis dahin ist die Äbtissin für vieles fast allein verantwortlich: für die Tagzeitengebete, die Begleitung von Einkehrgästen, die Verwaltung, die Betreuung der Handwerker, die Mitarbeit im Kirchenvorstand und vieles mehr. Wichtig ist ihr auch die Fortführung der guten Zusammenarbeit mit dem Haus „inspiratio“ im Kloster Barsinghausen, in dem erschöpfte Hauptamtliche der evangelischen Kirchen eine sechswöchige begleitete Auszeit nehmen können. Um ihr theologisches Handwerkszeug zu erweitern und auch das Abendmahl einsetzen zu dürfen, plant Henrike Wahl noch eine Ausbildung zur Prädikantin - wiederum berufsbegleitend.

EPD/ Lothar Veit

Kloster Barsinghausen

Das am Deister gelegene Kloster Barsinghausen gehört zu den fünf Calenberger Klöstern rund um Hannover. Es wurde 1193 als Augustiner-Doppelkloster gegründet: Hier lebten zunächst sowohl Mönche als auch Nonnen, bis es um 1229 in ein reines Frauenkloster umgewandelt wurde. 1543 wurde das Kloster im Zuge der Reformation evangelisch. In der Folge entwickelte es sich allmählich zu einem Damenstift für alleinstehende adelige Frauen.

Im Dreißigjährigen Krieg erlitt das Kloster schwere Schäden. Die heutigen Gebäude entstanden von 1700 bis 1704. Träger des Klosters ist heute die Klosterkammer Hannover, eine Sonderbehörde unter Rechtsaufsicht des Landes Niedersachsen, die unabhängig vom Staatsvermögen vier Stiftungen aus ehemals kirchlichem Besitz verwaltet.

Seit 1996 beherbergt das Kloster eine kleine Schwesterngemeinschaft, die regelmäßige Stundengebete hält. Momentan besteht sie aber nur aus zwei Konventualinnen. Ende 2014 wurde in den Räumen des Klosters zudem das «Haus inspiratio» für Pastoren und Kirchenmitarbeiter mit Erschöpfungszuständen eingerichtet.

 

EPD