Regionalbischöfin Bahr: Corona ist Stresstest für die Seele

Nachricht 23. März 2020
Regionalbischöfin Dr. Petra Bahr (Foto: Patrice Kunte / Sprengel Hannover).

Die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr sieht in der Corona-Pandemie auch einen Stresstest für die Seele. "Wir sind in einer Situation, die es vorher nicht gab, in einer offenen Gesellschaft, in der die radikale Beschränkung der eigenen Freiheit Menschenleben retten soll, während wir über die Medien in Echtzeit überall dabei sind, in der Lombardei und in Heinsberg", sagte sie im Interview mit der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" (Sonnabend). "Klar ist auch: Nur wenn wir jetzt schnell lernen, solidarisch zu sein, wird es in diesem Land auch nach diesem Ausnahmezustand frei, offen und menschlich bleiben."

Der Run aufs Klopapier zum Beispiel sei ein Symbol dafür, dass Menschen auf sehr archaische Weise handelten, sagte die frühere Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). "Man hortet etwas, das leicht zu haben ist, wenig kostet und viel Platz einnimmt - eine Form der Selbstberuhigung."  Sie würde deshalb mit denen, die so handelten, milde umgehen. "Die Emotionen dahinter beunruhigen mich, die Sorge, zu kurz zu kommen oder schneller als andere sein zu müssen."

Die aktuellen Reaktionen seien vielfältig, sagte Bahr. "Ich sehe, wie junge Leute binnen kurzer Zeit vom Schulstress oder Feiern auf Nachbarschaftshilfe umschalten und daraus große Befriedigung ziehen." Digitale Lern- und Hilfsplattformen wüchsen stündlich. Es gebe aber auch zynische Haltungen. "Da sind die nur vermeintlich Unverwundbaren, die sagen, die Alten hätten es verdient - übrigens mit einer ähnlichen Überheblichkeit, wie sich manche gegenüber der Sorge vieler junger Menschen um das Klima verhalten haben." Wieder andere berauschten sich an apokalyptischen Szenen. "Ein neuer emotionaler und praktischer Gesellschaftsvertrag muss her."

Nach ihrem Gottesbild vertrage die Zuversicht des christlichen Glaubens auch Sorgen, Klagen, Wut und Ratlosigkeit, sagte Bahr weiter. Auch für die Kirchen und ihre Seelsorger sei es ein herber Einschnitt, "wenn keine Umarmung möglich ist und kein Taschentuch gereicht werden kann". Auch in der Kirche ließen sich jetzt viele Menschen etwas einfallen und böten Unterstützung und Zuspruch im Internet an, am Telefonhörer oder indem sie einfach "den guten alten Füller" auspackten. "Doch die Sehnsucht nach körperlicher Nähe ist groß. Wir werden mit viel Kreativität und Disziplin versuchen müssen, anders füreinander da zu sein, bis wieder bessere Zeiten kommen."

epd Landesdienst Niedersachsen-Bremen

Evangelischer Pressedienst

HAZ-Interview zum Nachlesen

Das nachfolgende Interview ist am 21.03.2020 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erschienen. Die Fragen stellte HAZ-Chefredakteur Hendrik Brandt.

Frau Bahr, der Frühling beginnt mit Macht – und die Menschen im Land müssen sich unter dem Schock der Corona-Pandemie verkriechen. Was passiert da gerade mit uns?

Wir wissen noch nicht, was mit uns passiert. Die meisten ahnen aber, dass wir es mit einer heftigen Zäsur zu tun haben, nach der das Leben anders sein wird. Klar ist auch: Nur wenn wir jetzt schnell lernen, solidarisch zu sein, wird es in diesem Land auch nach diesem Ausnahmezustand frei, offen und menschlich bleiben. Wir sind dem allen einerseits ausgeliefert, können aber doch alle sehr viel beitragen.

Die Bundeskanzlerin hat in dieser Woche mindestens indirekt auf 1945 verwiesen, um den anstehenden Einschnitt in unser Leben einzuordnen. Wir waren damals beide nicht dabei. Dennoch: Kann man jene Zeit, in der das Land buchstäblich wie moralisch in Trümmern lag, mit der heutigen Situation gleichsetzen?

Ihr ging es, glaube ich, nicht darum, die Pandemie mit dem Krieg zu vergleichen. Sie wollte den Ernst der Lage verdeutlichen, vielleicht auch den Zustand existenziellen Verunsicherung. Die Infrastruktur, die Verfassung, das Gesundheitssystem sind ja nicht außer Kraft, sondern nur bis zum Anschlag beansprucht. Viele ältere Menschen, die es jetzt ja besonders trifft, haben aber noch Erinnerungen an diese Zeit. Von manchen kann man deshalb viel lernen. „Worauf kommt es im Leben wirklich an?“, hat mich etwa ein über 90-jähriger Pastor heute mit beeindruckender Zuversicht am Telefon gefragt.

Bei vielen Menschen richten sich die Gedanken dennoch weniger auf historische Zäsuren wie 1945 – das Land streitet um Toilettenpapier. Was ist da mit den Maßstäben passiert, anhand derer so etwas wie Unglück bemessen wird?

Unglück, zumal kollektives Unglück, ist nicht messbar. Historische Analogien greifen immer zu kurz. Wir sind in einer Situation, die es vorher nicht gab, in einer offenen Gesellschaft, in der die radikale Beschränkung der eigenen Freiheit Menschenleben retten soll, während wir über die Medien in Echtzeit überall dabei sind, in der Lombardei und in Heinsberg. Ein Stresstest, auch für die Seele. Die Vernunft kommt dabei bei überraschend vielen schnell an Grenzen.

Beispiel Toilettenpapier?

Der Run aufs Klopapier ist eher ein Symbol dafür, dass Menschen auf sehr archaische Weise handeln. Man hortet etwas, das leicht zu haben ist, wenig kostet und viel Platz einnimmt – eine Form der Selbstberuhigung. „Ich kann was tun.“ Ich würde deshalb mit denen, die jetzt Klopapier horten, milde umgehen. Die Emotionen dahinter beunruhigen mich, die Sorge, zu kurz zu kommen oder schneller als Andere sein zu müssen.

Wir kämpfen ja im Moment mit einem unsichtbaren Feind. Schon Terroranschläge, die ja kurzzeitig oft eine ähnliche Grundstimmung auslösen, sind für die allermeisten Menschen abstrakt – aber immerhin gibt es Bilder. Ist diese Unsichtbarkeit der aktuellen Bedrohung jetzt ein zusätzliches Problem?

Ja, vor allem, weil dadurch der Nächste und seine Atemluft zur potenziellen Bedrohung wird. Die Menschen taxieren einander: „Hat er das Virus?“ Das ist unheimlich. Gleichzeitig erfreuen sich viele bester Gesundheit und glauben, diese Bedrohung habe mit ihnen nichts zu tun, weil sie sie noch nicht sehen.

Gelernt haben wir jetzt, dass es darum geht, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Das heißt aber auch: Früher oder später wird es viele von uns erwischen.

Ja. Neben den ökonomischen Existenzängsten ist diese Aussicht beunruhigend. Andererseits erkrankt eben immer nur ein kleiner Prozentsatz schwer. Um diesen Prozentsatz in Zahlen nicht zu groß werden zu lassen, nehmen wir diesen Ausnahmezustand in Kauf. Die einen arbeiten bis zur Erschöpfung an der medizinischen und anderen Versorgung, andere starren Zimmerwände an und halten es zu Hause kaum aus. Manche leiden unter der Einsamkeit, andere darunter, dass die Kinder rund um die Uhr zuhause sind. Im Ungewissen nicht zu kapitulieren, mit kleinen Freuden und großen Gesten, das ist die Herausforderung.

Dabei geht es ja immer auch um noch mehr Rücksicht auf Schwächere. Mit mächtigem Druck scheint sich die auch mehr oder minder einzustellen. Der Soziologe Harald Welzer sieht darin einen historischen Fortschritt – sind Sie da auch so optimistisch?

Ich sehe, wie junge Leute binnen kurzer Zeit vom Schulstress oder Feiern auf Nachbarschaftshilfe umschalten und daraus große Befriedigung ziehen. Das ist auch im digitalen Raum so. Lern- und Hilfsplattformen wachsen stündlich. Ich sehe aber auch, dass anderen dieser Perspektivenwechsel nicht gelingt. Es gibt auch zynische Haltungen: Da sind die nur vermeintlich Unverwundbaren, die sagen, die Alten hätten es verdient – übrigens mit einer ähnlichen Überheblichkeit, wie sich manche gegenüber der Sorge vieler junger Menschen um das Klima verhalten haben. Dann gibt es die, die sich an apokalyptischen Szenen berauschen. Ein neuer emotionaler und praktischer Gesellschaftsvertrag muss her.

Meine Urgroßmutter hätte angesichts der Lage mit einiger Sicherheit von einer Strafe Gottes gesprochen. Kennen moderne Theologen diese Denkfigur noch?

Natürlich höre ich so etwas. Ich bekomme Post mit Reproduktionen schauerlicher Höllenbilder von Pieter Bruegel zugeschickt, mit Hinweisen darauf, das Virus sei eben die Strafe für zu viel Freiheit, angereichert mit frauenfeindlichen, antisemitischen und rassistischen Kommentaren. Es gibt auch den Zynismus der Religiösen.

Was antworten Sie da?

Auch Christinnen und Christen leben in dieser Welt, in der großartige und fürchterliche Dinge geschehen. Der biblische Gott, der im christlichen Glauben verkündet wird, ist der Gott der Passion, der sich in und bei den Leidenden zeigt. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ruft Jesus am Kreuz. Sogar dieser Satz ist ein Gebet. Die Zuversicht, die aus dem Glauben kommt, verträgt auch Sorgen, Klagen, Wut und Ratlosigkeit. Das ist mein Gottesbild.

Die selbstgestellte Aufgabe Ihrer Pastorinnen und Pastoren ist die Seelsorge. Sie scheint angesichts der Lage, über die wir gesprochen haben, so nötig wie selten, andererseits ist die Kirche für immer weniger Menschen eine Heimat. Nun fällt auch noch jede Form von physischer Nähe weg – etwa im Gottesdienst. Wie kommen Sie in diesen Tagen an die Seelen der Menschen heran?

Ja, es ist ein herber Einschnitt, wenn keine Umarmung möglich ist und kein Taschentuch gereicht werden kann, auch für Seelsorger. Wenngleich sich viele Menschen in unserer Kirche da was einfallen lassen, im Internet, am Telefonhörer oder indem sie einfach den guten alten Füller auspacken. In allen Kirchen sind die Telefonseelsorge-Hotlines bis zum Anschlag hochgefahren. Chats und Onlinegruppen helfen. Doch die Sehnsucht nach körperlicher Nähe ist groß. Wir werden mit viel Kreativität und Disziplin versuchen müssen, anders füreinander da zu sein, bis wieder bessere Zeiten kommen.