Christvesper St. Wilhadi Stade 2013

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott eurem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Nun senkt sich wieder auf die heim'schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.

So dichtet etwas spöttisch Kurt Tucholsky zum Weihnachtsfest 1913, vor exakt 100 Jahren, in seinem Gedicht Großstadtweihnachten. Weihnachten in Berlin 1913. Nicht ohne ironischen Ton beschreibt Tucholsky die Bescherung des bürgerlichen Weihnachtsfestes, Schmuck und Emaille-Aschenbecher, Schlips und Puppe. Soviel hat sich nicht geändert, wie wir merken, nur der damals neueste Schrei, das Grammophon, ist 100 Jahre später durch modernere Unterhaltungselektronik ausgetauscht, damals reimte sich „Grammophon“ auf „Lexikohn“, beides ist heute durchs Internet überholt.

Vielleicht hat sich auch nicht geändert, dass mancher mit Weihnachten fremdelt, allemal hier in der Kirche. Jeder kommt, wie er eben kommt. Mit innerer Vorfreude oder ziemlich abgehetzt. Für die einen sind es vertraute Lieder und Texte, unverzichtbar, für die anderen seit längerem einmal wieder ein Besuch in einer nicht sehr vertrauten Welt. Und alles darf sein. Allen gilt die Weihnachtsgeschichte. Allen möge sich etwas von der gewaltigen Freude erschließen, die die alte Geschichte stiften möchte.

Kurt Tucholsky beschreibt seine augenzwinkernde Sicht auf das bürgerliche Fest weiter:

Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
"Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!"


So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden ...
"Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug."1


„Sie mimen Weihnachtsfrieden“. Ist es so? Ist alles nur ein Spiel, ein schöner, aber täuschender Schein? Oder leuchtet zu Weihnachten etwas hinein in unsere Welt, das sie in ein neues Licht rückt?

Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug. Ja, schon, vielleicht. Was aber, wenn in diesem Spiel die eigentliche Wahrheit aufleuchtet? Am früheren Nachmittag ist in dieser Kirche und in ungezählten Kirchen die Weihnachtsgeschichte eben gespielt worden. Zwei Kinder als Maria und Joseph, eine Puppe in einer Krippe, ein paar lustige Tiere. Und natürlich Engel, mit schönen Flügeln. Was, wenn in diesem Spiel eine viel größere Wahrheit liegt, als in Bilanzen und Aktienkursen, als in Alltagshektik und Alltagskonflikten? Eine Wahrheit, die ein neues Licht auf unser Leben wirft.

Seit 2000 Jahren feiern wir die Wahrheit von dem, was die Engel über dem Stall von Bethlehem singen:

Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. … Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Fürchtet euch nicht. Da sprechen uns die Engel Mut zu, Lebensmut, Glaubensmut: Zuversicht für alle und gerade für die, für die dieser Tag mit Traurigkeit verbunden ist, weil sie allein feiern müssen zum Beispiel, vielleicht zum ersten Mal, oder weil Brüche in der Familie an einem solchen Tag besonders spürbar werden.

Da singen uns die Engel einen Frieden zu, der durch das göttliche Kind in unsere Welt gekommen ist. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Gott stiftet einen Frieden, der sehr anders ist als der Friede, den Waffen sichern oder wirtschaftliche Interessen. Gott stiftet Frieden in einem Kind. Unscheinbar, verletzlich. Der erwachsene Jesus wird bei Johannes sagen: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Joh 14,27).

Da ist sie wieder, die Botschaft der Engel: Fürchtet euch nicht. Weihnachten ist ein Fest gegen die Angst. Ein Friede ist euch gegeben, der höher ist als alle Vernunft. (Phil 4,7) Denn Gott selbst ist an eurer Seite. Die Geburt des Kindes Gottes steht für eine Zeitenwende, nach der Menschen keine Angst mehr haben müssen. Seit 2000 Jahren feiern wir das. Gegen allen Augenschein. Gegen alle bleibende Friedlosigkeit.

Eine Illustration dazu: „Es war am 24. Dezember, am Heiligen Abend. Am Weihnachtsabend hatte an der Front Stille geherrscht. Auf beiden Seiten ruhten die Waffen. Es hatte geschneit, alles war weiß, und die Soldaten in den Schützengräben hatten große Not, bei reglosen Sitzen nicht zu erfrieren.“

Es war der Heiligabend des Jahres 1914. Avi Primor beschreibt ihn in seinem neuen Buch „Süß und ehrenvoll“, in dem er zwei Juden durch den Krieg begleitet, einen auf deutscher, einen auf französischer Seite.

Mit großer Begeisterung waren sie in den Krieg aufgebrochen – im kommenden Jahr, 2014, werden wir dessen nach 100 Jahren intensiv gedenken. Aber schnell waren die Vorstöße zum Erliegen gekommen, beide Seiten lagen sich bis auf wenige Meter gegenüber. Dieser Stellungskrieg sollte noch Jahre gehen und Million Menschen das Leben kosten.

Nun also lagen sie in ihren Schützengräben. Viele ihre Kameraden hatten sie schon sterben sehen im gegnerischen Geschützfeuer bei dem Versuch, ein paar Meter einzunehmen. Es war der Heilige Abend, es hatte geschneit. Feuerpause. Vor ihnen im Graben einige Geschenke, die aus der Heimat gekommen waren.

Und dann wird erzählt: Einer der Soldaten summte „Stille Nacht“. Nach und nach stimmten andere ein, erst summend, als passe das Lied nicht an diesen Ort, dann etwas lauter. Und dann, dann hörten sie, dass auch in dem französischen Schützengraben, nur dreißig Meter entfernt, ein Lied angestimmt wurde. Die Melodie klang gleich. Auch die Feinde feierten Weihnachten? Mit denselben Liedern? Einige Mutige hoben den Kopf über den Grabenrand, um hinüberzuschauen. In normalen Zeiten war das lebensgefährlich. Aber kein Schuss fiel. Der Gesang wurde etwas kräftiger und aus allen Gräben klangen schließlich laut Weihnachtslieder. Auf der Gegenseite schauten ebenfalls Köpfe empor. Und dann geschah das Unglaubliche. Erste Soldaten kletterten aus dem Schützengraben, auf beiden Seiten. Sie gingen aufeinander zu, singend und mit Kerzen in den Händen. Hier da und da stellten sie Tische im Niemandsland auf, die Kerzen darauf, auch einige Geschenkpakete. Die Soldaten sahen sich ungläubig an. Was da geschah, war ein Wunder. Niemand hatte Angst. Einige sprachen im Flüsterton mit dem vermeintlichen Erzfeind. Sie wollten nicht gehen. Aber irgendwann gingen sie dann doch wortlos zurück in ihre Stellungen.2

Eine wunderbare Geschichte, eine ergreifende Geschichte. Natürlich soll man die Sache nicht idealisieren. Hinterher ging das Schießen und Töten fürchterlich weiter – noch jahrelang.

Ist eine solche Geschichte also nur ein schöner, romantischer Schein, der gegen die Härte der Realität nicht ankommt? Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug?

Oder ist sie doch mehr? Zeigt sie auf, dass Weihnachten etwas aufscheint vom Licht Gottes mitten in unserer Dunkelheit? Dass etwas aufscheint vom Frieden Gottes mitten in unserer Unruhe und Friedlosigkeit?

Ich möchte das so hören. Weihnachten steht für eine ungeahnte Möglichkeit unseres Lebens und unserer Welt. Mitten in unser Leben hinein kommt Gott selbst. Das ist der Grund für einen ungeahnten Frieden, der tiefer reicht als unsere Unruhe, als der alltägliche Streit und die üblichen Beschwichtigungen. Wo Du Dich verschanzt hast in inneren Gräben und nicht mehr herankommst an andere oder an dich selbst oder an Gott – diese Gräben sind nicht unüberwindlich. Gott selbst überwindet die Grenze zu uns – und wird ein Kind in einer Krippe. So kommen richtiger Friede und richtiges Menschsein zusammen.

So kann das Weihnachtsfest in uns etwas von diesem göttlichen Frieden stiften – und das wäre sehr viel mehr als ein Spiel. In all deinen Sehnsüchten kannst Du bei Gott geborgen sein. In all deiner Unruhe und Zerrissenheit bist du bei Gott bejaht – dafür steht das Kind in der Krippe. Ein wirklicher Mensch, der wirklichen Frieden bringt, göttlichen Frieden.

So kann das Weihnachtsfest uns anstiften, Wege des Friedens zu gehen. Vielleicht gibt es auch in den Familien manche Gräben, in denen wir uns verschanzt haben. Vielleicht kann zu Weihnachten der eine oder andere einen Weg aus dem Graben herausfinden, einen Weg zueinander gehen. Probieren wir es aus. In der Zuversicht, dass wir nichts zu befürchten haben im Licht des Friedens Gottes. Und wenn wir anfangen, unsere Gräben zu überbrücken, das wäre weit mehr, als Weihnachtsfrieden nur zu mimen.

So friedlos unsere Welt nach wie vor ist: Wir können Menschen des Friedens sein. Auch politisch werden Christen da fragen, was dem Frieden am ehesten dient. Im Umgang mit Flüchtlingen etwa. Oder in der Frage von Waffenexporten, gegen die zuletzt Helmut Schmidt zu Recht gewettert hat.

Das angefochtene und friedlose Leben – es hat Würde. Weil Gott es so will. Weihnachten ist ein großer Tabubruch. Wir dürfen auch einmal genug haben von den Geschichten, die ein böses Ende nehmen. Von all den Krisen und Kriegen, von den Unglücken und Massakern. Denn das Leben besteht doch nicht nur aus seiner Kehrseite.

Wir sehnen uns nach Harmonie und Frieden. Weihnachten sagt Gott: Das darfst du. Das solltest du sogar tun. Denn Gott selbst will Frieden stiften.

Da draußen bei den Hirten in dem Stall ist viel mehr geboren worden als ein kleines Kind. Da ist die Heimat unseres Lebens, der Grund unseres Friedens. In einem zugigen Stall. Aber der hat Engel als Hausmeister. Fürchtet euch nicht! … Ehre sei Gott – und Friede auf Erden!
Amen.

1. Kurt Tucholsky, Groß-Stadt-Weihnachten; Theobald Tiger, Die Schaubühne 52, 25.12.1913.

2. Avi Primor, Süß und ehrenvoll. Roman, Köln 2013, S. 140-143.