Predigt über "Luther und die Musik", Steinkirchen, 2. April 2017

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Magdeburg im Jahr 1524, sieben Jahre nach dem Beginn von Luthers Reformation: Ein Bettler ist in die Stadt gekommen. Laut singt er auf den Straßen und Plätzen etliche von Luthers neuen Liedern. Er trägt sie aber nicht nur vor, sondern er bringt sie den zuhörenden Männern und Frauen bei, vor allem aber der Jugend. Das führt dazu, dass bald das ganze Volk sie singt – auch dort, wo dies besonders verboten ist, nämlich in den noch altgläubigen, katholischen Kirchen, vor der Predigt des Priesters. Dem aber will der Rat der Stadt nicht tatenlos zu sehen und zu hören. Er lässt den singenden Bettler verhaften und im neuen Keller des Rathauses gefangen setzen. Doch Ruhe tritt daraufhin gerade nicht ein, im Gegenteil: 600 bis 800 Menschen kommen vor dem Rathaus zusammen und holen den Gefangenen heraus. Und vermutlich haben sie auch dabei Luther-Lieder gesungen.

Die Reformation, liebe Gemeinde, ist eine Singe-Bewegung und eine Musik-Bewegung. Und deshalb freue ich mich besonders, dass wir heute diesen Gottesdienst feiern zu Luther und die Musik. Das ist nicht ein Randthema, sondern ein Zentralthema der  Reformation. Ich freue mich über diesen Gottesdienst gerade in dieser Kirche mit ihrer bedeutenden Schnitger-Orgel und über den festlichen musikalischen Gottesdienst mit der wunderbaren Renaissance-Musik.

Die neuen Lieder haben entscheidend beigetragen zur Verbreitung der Reformation. Solche Geschichten wie in Magdeburg gibt es an vielen Orten. „Man muss sich die Reformation als musikalische Guerillabewegung vorstellen“ (J. H. Claussen). In Göttingen haben Handwerker eine katholische Fronleichnamsprozession aufgemischt und „Nun freut euch, lieben Christengemein" gesungen, bis man die lateinische Liturgie nicht mehr hören konnte.
Oder in Lemgo: Auch da sang das Volk evangelische Lieder. Da schickte der Lemgoer Bürgermeister im Jahre 1533 Ratsdiener in die Kirchen, um die Abtrünnigen, also die, die evangelische Lieder sangen, festzustellen und zur Ordnung zu rufen. Doch die Diener kamen zurück und meldeten: »Herr Bürgermeister, sie singen alle.« Darauf rief der: »Ei, es ist alles verloren!«

Ja, wo sie alle singen, da ist für die Gegner des Evangeliums „alles verloren“. Wenn ich diese Geschichten von den Kontroversen zu Beginn der Reformationszeit erzähle, will ich eins zugleich betonen: Heute haben wir ein gutes ökumenisches Miteinander – und auch an den Schätzen unserer Musik freuen wir uns zu großen Teilen gemeinsam. Wir feiern gemeinsam ein Christusfest in Erinnerung an die Reformation und singen gemeinsam unsere Lieder von der Freude des Glaubens.

Luther und die Musik. Damit Sie wissen, wo ich gerade bin, habe ich meine Gedanken sortiert in vier Teilen:

1. Die Musik als gute Gabe Gottes
Martin Luther hat zeit seines Lebens selbst Musik gemacht. Als Jugendlicher hat er in der Kurrende gesungen, in einem Schülerchor also. Auf der Schule in Eisenach und ab 1501 beim Studium in Erfurt hat er auch eine exzellente musikalische Ausbildung erhalten. Luther spielte Querflöte und insbesondere die Laute, mit der er den Gesang begleitete. In den vielen Jahren als Mönch nach 1505 hat er mit den Mönchen regelmäßig die Psalmen gesungen, den gregorianischen Choral, und er hatte offenbar eine helle und sichere Stimme.
Noch später dann, als Familienvater, nach 1525, gehörten Musizieren und Singen zum Alltag. Luther sang mit seinen Kindern und den Studenten mehrstimmig. Dabei wurde der Hausherr, so ein Gast im Haus, „lustig und fröhlich im Geist, dass er des Singens schier nicht konnte müde und satt werden und von der Musica so herrlich zu reden wusste“.

Ja, er wusste herrlich von der Musica zu reden, mit Worten sicher viel überzeugend als direkt als Musiker. Zitat: „Ich wollt von Herzen gern diese schöne und köstliche Gabe Gottes, die freie Kunst der Musica, hoch loben und preisen. Diese Kunst ist von Anfang der Welt allen und jeglichen Kreaturen von Gott gegeben, denn da ist nichts in der Welt, das nicht einen Schall und Laut von sich gebe.“ Alle Geschöpfe haben Klang, haben Musik. Jetzt im Frühling kann man das besonders erahnen. In der Musik erleben wir einen Spiegel des Wunders der Schöpfung. In ihr erklingt ein Rest des Paradieses.

Diese Hochschätzung der Musik kommt uns heute vielleicht selbstverständlich vor. Das ist sie aus dem Mund eines Theologen des 16. Jh. aber keineswegs. Viele in der Kirche haben die Musik kritisch betrachtet. Musik ist sinnlich, Musik ist lustvoll, sie geht in den Bauch, in die Seele. Sie kann die Menschen wegführen von der Konzentration auf das Wort Gottes. Das war nicht allen geheuer. Der Schweizer Reformator Ulrich Zwingli etwa hat die Musik deshalb komplett aus dem Gottesdienst und der Kirche verbannt, an Instrumentalmusik war schon gar nicht zu denken. Johannes Calvin in Genf war nicht ganz so streng, aber auch bei ihm war nur sehr konzentrierter Psalmengesang zulässig,

Das ist bei Luther anders. Er schätzt die Musik, auch in der Kirche. Er hat anders als viele Bedenkenträger keine Angst vor fröhlichem Gesang, nicht vor Instrumentalmusik, nicht vor Mehrstimmigkeit. Selbst dem Tanz steht er offen gegenüber. So sagt er über Musik als wichtiges Fach in der Schule: „Nun muss das junge Volk hüpfen und springen oder jedenfalls etwas zu tun haben, woran es Vergnügen hat. Wenn ich Kinder hätte und es könnte, müssten sie mir nicht nur die Sprachen und Geschichtserzählungen hören, sondern auch Singen und die Musik samt der ganzen Mathematik lernen.“ Wichtig und wegweisend bis heute ist das.

2. Die heilsame Kraft der Musik
Luther schätzt die Musik, denn sie spricht nicht nur den Kopf an, sondern den ganzen Menschen. Musik berührt uns in der Tiefe, noch einmal anders, als Worte das können. Sie ist „Herrin und Regiererin des menschlichen Herzens.“ Es geht also für Christen nicht darum, die Gefühle und Affekte des Menschen zu ignorieren oder wegzudrängen, sondern sie zu bejahen, gut mit ihnen umzugehen und sie in die richtige Richtung zu lenken. Dazu hilft die Musik: „Nichts auf Erden ist tatkräftiger, die Traurigen fröhlich, die Fröhlichen traurig, die Verzagten herzenhaftig zu machen, den Neid und Hass zu mindern. Wer kann aller Bewegungen des menschlichen Herzens, welche die Leute regieren, und entweder zu Tugend oder zu Laster reizen und treiben, erzählen? Diese Bewegung des Gemüts in Zaum zu halten und regieren, sage ich, ist nichts kräftiger denn die Musik.“

Ganz besonders geht es hier darum, dass Musik uns guttut, dass sie unsere Seele tröstet. Musik hat therapeutische Kraft. Wenn es einem schlecht geht, kann einen Musik wieder aufbauen. Ich selbst höre dann Mozart oder Bach. Andere hören Popmusik oder Rap oder Heavy Metal.

So kennen wir es schon aus der Bibel. Die Bibel erzählt, dass der König Saul unter Depressionen litt, dass ihn schlimme Geschichten aus der Vergangenheit wie ein Schatten heimsuchten. Sein Gemüt, so heißt es, war dann düster und umnachtet. Deshalb holte man David zu ihm und David machte Musik für Saul. „David nahm die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter, und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm.“ (1. Sam 16,23) Musik kann es uns besser gehen lassen, böse Geister vertreiben. Durch diese Fähigkeit ist die Musik eine besondere Gottesgabe. 

Wolf Biermann, der DDR-Sänger, bestimmt kein kirchlich frommer Mensch, wie er selbst sagt, erzählt, wie er sich mit Musik tröstet. Besonders mit der Kantate von Johann Sebastian Bach: ‚Ich hatte viel Bekümmernis‘. Diese Musik würde Wunder beim ihm wirken: „Erst ging’s mit sauschlecht, nun geht’s mir wieder gut. Oder so: Ich erstickte in Gewissensnöten, nun bin ich wieder im reinen mit mir. Oder so: Ich glaubte weder an Gott, noch an mich selber. Nun glaube ich wieder. Oder so: Ich wusste nicht mehr weiter, jetzt kann ich wieder.“ So Wolf Biermann.

Martin Luther schätzt die therapeutische Kraft der Musik ebenso. An einen befreundeten Musiker, der an Schwermut litt, schreibt er. „Darum, wenn Ihr traurig seid und [die Traurigkeit] will überhandnehmen, so sprecht: Auf, ich muss meinem Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal [der Orgel]: Denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Und greift frisch in die Tasten und singet frei, bis die Gedanken vergehen. Kommt der Teufel wieder, so wehret Euch frisch und sprecht: Aus, Teufel! Ich muss jetzt meinem Herrn Christo singen und spielen!“

Um den Teufel der Lebensangst und Gottesverzweiflung in die Flucht zu schlagen, bedarf es keiner magischen Maßnahmen, sondern nur der Musik: „Wir wissen ja, dass der Teufel die Musik hasst und sie nicht hören kann“, so Luther. Die Musik allein kann das, was „sonst nur die Theologie vermag, nämlich das Gemüt ruhig und fröhlich zu machen, Musik findet den Weg zu den geheimsten Plätzen der Seele.“ Durch diese Fähigkeit ist die Musik eine besondere Gottesgabe, ein Geschenk unseres Schöpfers, das in besonderer Weise unsere Gefühle und Herzen bewegt. „Musica ist das beste Labsal einem betrübten Menschen“, sagt Martin Luther, „dadurch das Herze wieder zufrieden, erquickt und erfrischt wird.“ Das gilt für alle Musik. Aber es gilt natürlich besonders für die Musik des Glaubens. Damit bin ich beim Dritten.

3. Die Predigt der Musik
In der Musik lebt der Glaube und drückt sich der Glaube aus. Durch die Musik kommt das Evangelium zur Sprache. „Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst gläubet, der kanns nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen... Solches Singen vertreibt den Teufel und macht die Leute fröhlich.“

Daum geht es, dass die Leute fröhlich werden. Dazu hilft uns die Musik. Das Zentralmotiv bei Luther ist dabei die Freude am Glauben: Bemerkenswert ist dabei Luthers berühmte Formel: mit Lust davon singen und sagen. Das ist ein berühmtes Paar, und ein unverzichtbares Paar, wenn es darum geht, wie die Botschaft von der Liebe Gottes weitergeben wird: Singen und Sagen. Und Luther nennt das Singen zuerst.
Musik ist ein wichtiger Teil der Verkündigung. Diejenigen, die in der Kirche Musik machen, die Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, diejenigen, die im Chor mitsingen oder im Posaunenchor spielen und auf anderen Instrumenten, haben Anteil an der Verkündigung.

"Gott predigt  das Evangelium auch durch die Musik", schreibt Luther. Durch die Musik wirkt Gott, durch sie spricht er uns an, durch sie tröstet er uns. Hinter der Macht der Musik steht also die Macht Gottes selbst. „Das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist“, so dichtet der große Schüler Luthers, Paul Gerhardt: „Das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist.“ Im Singen erreicht uns der Himmel aber auch wie sonst selten, das Singen versetzt uns auch ein wenig in den Himmel.

Gott spricht zu uns in der Musik. Und wir antworten ihm, indem in der Musik Gott selbst verherrlicht und gelobt wird. Der Schöpfer, Gott selbst. So wie es oben an der Orgel dieser Kirche in Steinkirchen geschrieben steht: Redet unter einander in Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern. Singet und spielet dem Herrn in eurem Herzen. (Eph 5,9).

Damit bin ich beim Letzten:

4. Singen als Musik der Gemeinde
Ich hatte begonnen damit, dass Luthers Lieder die Reformation entscheidend nach vorn gebracht haben. Die Reformation war eine musikalische, eine singende Guerillabewegung.

Gleich nach der Übersetzung des Neuen Testaments im Jahr 1522 hat Luther begonnen, selbst Lieder zu dichten. Eine Reihe bedeutender Lieder hat Luther gedichtet, 38 von wohl 45 Liedern sind erhalten. Einige haben eine große Rolle gespielt. „Ein feste Burg ist unser Gott“ ist das Kampflied der Lutheraner geworden. „Nun freut euch, lieben Christengmein“ erzählt großartig den Kern der evangelischen Lehre. „Vom Himmel hoch“ fasst die Weihnachtsbotschaft in wunderbare, theologisch tiefgründige Worte. Und ist zugleich auf eine ganz populäre Melodie gedichtet, auf einen Gassenhauer. Luther wollte das Evangelium durch Lieder populär machen und hat entsprechende Lieder gemacht.

Ich glaube, Luther hätte heute auch gerappt. Ich bin mir sicher, dass er sich in den gegenwärtigen Musikkulturen gut ausgekannt hätte. Er hat Gassenhauer, Wirtshauslieder, Wanderlieder und Straßenmusik genommen, um sie mit neuen Texten zu unterlegen. Luther hat auch in musikalischen Angelegenheiten dem Volk aufs Maul geschaut. 1523 hat er seine Mitreformatoren in einem Brief angeschrieben und um Lieder gebeten: „Ich habe im Sinn, volkssprachliche Psalmen für die Gemeinde zu machen, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe. Wir suchen daher überall Dichter. (Luther behauptet, er selbst könne nicht so gut dichten) Ich möchte aber, dass die höfischen Modewörter vermieden und stattdessen, entsprechend dem Fassungsvermögen des Volkes, ganz einfache und volkstümliche, aber dennoch treffende und geeignete Worte gewählt werden.“

Wer dieses Programm kapiert, der kann niemals  im Namen Luthers konservativ sein, also ausschließlich fest halten an der alten Musik, an den alten Liedern von Luther oder Paul Gerhard. Natürlich, die stellen einen unglaublichen Schatz da, den wir bewahren und pflegen müssen. Aber gerade in Luthers Namen brauchen wir immer wieder neue Musik, neue Lieder, neue Texte, die auch heute die jungen Leute ansprechen.

Schon 1524 gab Luther zusammen mit dem Musiker Johann Walter (von dem wir heutige einige Stücke hören) das erste Gesangbuch heraus. Über lange Zeit gehörten Gesangbücher zu den meistverkauften Büchern, sie waren absolute Bestseller. Im 16. und 17. Jh. sind ca. 10.000 neue evangelische Kirchenlieder erschienen. Der Gesang wurde zur Sache der Gemeinde. Und er hat unerhörte Bedeutung für die Schulen und die Bildung gehabt. Nicht mehr nur ein Chor sang, sondern die Gemeinde. Der Gemeindegesang ist durch Martin Luther eingeführt worden.
Durch den gemeinsamen Gesang eröffnet sich ein gemeinsamer Raum des Glaubens und des Lobes Gottes. Ein Raum, in dem ich mitwirke, in dem ich aber auch geborgen sein kann. Ein Raum, in dem ich mich auch fallen lassen kann, wenn es um meinen Glauben einmal nicht so gut steht. Durch den gemeinsamen Gesang entsteht Gemeinschaft. Es entsteht Gemeinde.

Ich komme zum Schluss. 1530 fasst Luther in einer kurzen Schrift „Über die Musik“ viele der Gesichtspunkte zusammen: „Ich liebe die Musik, auch gefallen mir nicht, die sie verdammen, die Schwärmer. 1. Weil die Musik Gabe Gottes und nicht der Menschen ist; 2. weil sie die Seelen fröhlich macht; 3. weil sie den Teufel vertreibt; 4. weil sie unschuldige Freude macht. Dabei vergehen Zorn, Begierden, Hochmut. Den ersten Platz gebe ich der Musik nach der Theologie. Das ergibt sich aus dem Beispiel Davids … 5. weil sie in der Friedenszeit herrscht … Ich lobe die Fürsten Bayerns deshalb, weil sie die Musik pflegen. Bei uns Sachsen werden Waffen und Bombarden gepredigt.“

Wie schön, dass wir heute auch in Niedersachsen die Musik schätzen und pflegen; dazu hat Luther viel beigetragen, denn in den protestantischen Ländern blühte die Musik durch die  Reformation auf.

Wie schön, dass wir in Frieden und Freiheit miteinander musizieren und singen können. Möge unsere Musik alle Teufel vertreiben, uns im Glauben stärken, unsere Seelen fröhlich machen und Gott die Ehre geben. 

Amen.